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2. Kapitel

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Christoph Senz


5:00 Uhr morgens war die von allen gefürchtetste Zeit des Tages, in der auf den Korridoren erst ein Pfeifen, dann laut der Ruf erschallte: »Auf-ste-hen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« Begleitet wurde das Schreien an diesem Tag durch ein lautes, blechernes Poltern und lautes Pfeifen, das sich noch einmal wiederholte.

Alternierend war jede der Stuben für eine Woche pünktlichen Weckens verantwortlich. An diesem Tag hatte der Spieß Adam Silarski aus Stube 113 dazu bestimmt, diesen Part zu übernehmen. Am kommenden Morgen würde das Christoph Senz sein, der bereits heute mit Silarski zusammen aufgestanden war und ihm beim Weckruf zugesehen hatte. Silarski hatte gebrüllt wie ein Stier, und als sich nur zaghaft in den angrenzenden Stuben etwas zu rühren begann, hatte er sich eine kleine Mülltonne geschnappt, und diese durch den Korridor geworfen, sodass sein Ruf »Aufstehen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« – durch das Scheppern des Bleches soweit verstärkt wurde, dass augenblicklich Bewegung in den Haufen kam.

»He, Jerôme … das gilt auch für dich. Heb endlich deinen Arsch aus der Kiste!« Adam Silarski stand vor dem Doppelstockbett des neuen Freundes und rüttelte am Gestell. »Der Spieß kommt gleich durch. Du willst doch nicht zum Strafexerzieren, oder?«

Jerôme Mohr schälte sich aus den Decken und gähnte. Ihm gegenüber stand Christoph Senz. Obwohl fast einen Meter neunzig groß und gut gebaut, gab er ein erbärmliches Bild ab. Wie geistesabwesend starrte er auf das Fenster und durch das hindurch auf einen imaginären Punkt.

»He Christoph, was machst du für ein Gesicht? Morgen bist du dran, den Unsympathen zu geben und die Brut aus den Betten zu treiben«, sagte Jerôme und bemühte sich, einigermaßen lustig zu klingen. »Warst du schon im Waschraum?«

Senz schüttelte den Kopf.

Silarski schaute Jerôme an und hob die Schultern.

»Komm schon, Christoph, schnapp dir dein Handtuch.«

Draußen auf dem Gang wieselte nun ein reges Treiben. Männer kamen, andere gingen zu den Waschräumen. Jerôme beeilte sich, denn die Zeit zwischen Wecken und Stubenappell war nur kurz bemessen. Sie verschwanden im Waschraum und machten einen Schnelldurchlauf wie alle Rekruten, die mit letztem Wind aus dem Bett fanden.

»Was ist eigentlich los mit dir, Christoph? Du scheinst dich hier nicht wohlzufühlen. Oder bist du etwa krank? Da musst du dich beim Sani melden«, sagte Jerôme, als sie fertig waren und zurück zu ihrer Stube gingen.

»Ich will nicht beim Bund bleiben«, sagte Senz leise. »Ich pack das psychisch nicht. Ich gehe hier ein! Bitte sag nichts den anderen Jungs. Die denken sonst, ich bin eine Pfeife.«

»Hatten wir nicht besprochen, wir gehen zusammen nach Afghanistan, reißen dort vier Monate runter, und dann sehen wir weiter. Adam will weitermachen und innerhalb der Bundeswehr aufsteigen. Ich wollte das ursprünglich auch, werde mich aber stattdessen für ein BWL-Studium anmelden und dann einen unserer Betriebe übernehmen. Mein Vater hat mir angeboten, die Manufaktur in Mainz zu leiten, in der wir nach dem Krieg wieder angefangen haben. Für meinen Vater war immer klar, dass er zum Gründungssitz der Mohr-Schokoladenmanufaktur nach Leipzig zurückgehen würde, sollte es zu einem einheitlichen Deutschland kommen. Und prompt haben wir den Hauptsitz der Manufaktur nach Leipzig verlegt, als das wieder möglich war.«

»Ich weiß nicht, was ich machen soll?«, sagte Senz.

»Was heißt das?«

»Das heißt, dass ich nicht glaube, irgendeine Zukunft zu haben, weder hier beim Bund, noch als Bäcker.«

Jerôme lachte. »Ein so junger und gesunder Mann wie du und keine Zukunft haben? Verwechselst du da nicht etwas? Könnte es nicht sein, dass du nur ein wenig die Orientierung verloren hast und nun gleich den Kopf in den Sand steckst?«

»Ich komme nicht mehr mit meiner Mutter zurecht.«

»Dann musst du ausziehen, musst dir eine eigene Wohnung nehmen! Es ist wichtig, sich rechtzeitig abzunabeln. Und abnabeln kann schmerzhaft sein, sowohl für die Eltern als auch für das Kind.«

»Und meine Großeltern werden mir immer fremder. Mein Großvater, zu dem ich immer ein überaus gutes Verhältnis hatte, fängt an, mich barbarisch zu nerven.«

»Das ist eine ganz normale Entwicklung. Denk daran, nur rechtzeitig Nestflüchter zu sein bringt Punkte.«

Wie auf Kommando war der Flur nahezu leergefegt. Nur vereinzelt rannte noch der eine oder andere, als gelte es, das eigene Leben in Sicherheit zu bringen. Die meisten Rekruten waren bereits auf ihren Stuben, warteten auf den Durchgang, den der Spieß allmorgendlich durchführte, und bereiteten sich zum Gangappell vor, wo Durchzählungen und Krankmeldungen erfolgten. Christoph Senz und Jerôme Mohr erreichten die Stube in dem Augenblick, in dem der Spieß mit seiner Begleitung am Anfang des Korridors seine Runde begann. Hastig zogen sie sich fertig an und richteten die Betten. Alle Decken mussten auf Kante liegen, und wehe dem, der das nicht ordentlich machte. Silarski half Christoph schnell noch die Überzüge geradezuziehen, als schon die Tür aufgerissen wurde.

Silarski machte zackig Meldung. »Stube 113, mit drei Mann belegt, zum Stubenappell angetreten!«

Hauptfeldwebel Stange blieb vor dem Bett von Christoph Senz stehen. »Nennen Sie das Bett gemacht, Rekrut? Wohl nicht rechtzeitig aus der Furzkapsel gekommen, was? Silarski, zeige ihm, wie das richtig auszusehen hat.«

»Jawohl, Herr Hauptfeldwebel!«

»Heute zum Küchendienst melden, verstanden? Und morgen das Wecken übernehmen, klar?«, wandte er sich an Senz.

»Verstanden, zum Küchendienst melden.«

»Morgen früh halten Sie sich bereit. Sie fahren zum psychologischen Dienst nach Leipzig. Dort werden Sie einem Psychiater vorgestellt.« Stange drehte sich um. Im Eingang stand Leutnant Max Franzke. Hinter dem Offizier wurden zwei junge Männer sichtbar.

»Ich habe hier noch zwei Mann, von denen einer hier mit reingelegt werden soll«, sagte Franzke und drückte dem Hauptfeldwebel die dazugehörige schriftliche Order in die Hand.

»Graber, Tom!«

»Hier!«

»Müller, Heiner!«

»Hier!«

Die jungen Männer hatten Haltung angenommen.

»Graber bleibt hier. Müller kommt auf die 114. Rühren! Silarski ist der Stubenälteste, der hier für alles verantwortlich ist«, verkündete Stange. »Mit Senz fährt morgen der Rekrut Graber nach Leipzig zum Psychologischen Dienst. Abfahrt 8:00 Uhr … Silarski!«

Adam Silarski nahm Haltung an.

»Sie sind mir verantwortlich, dass die Fahrbereitschaft nicht warten muss, bis die beiden Herren ausgeschlafen haben!«

»Jawohl, Herr Hauptfeldwebel.«

Leutnant Franzke hatte die Szene lächelnd beobachtet. So schnell, wie sie gekommen waren, hatten sie den Raum 113 wieder verlassen und Heiner Müller mitgenommen. Silarski wies Graber sein Bett zu.

»Wo kommst du her?«, fragte Silarski Graber.

»Aus Karlshagen.«

»Karlshagen?«

»Mecklenburg-Vorpommern.«

»Aha, oben von der Küste.«

»Usedom«, sagte Graber. »Insel Usedom.«

Wenig später gingen sie gemeinsam in die Kantine zum Frühstück fassen. Anschließend holte sie der Alltag in der Kaserne ein.

Silarski, der vom Instandsetzungsbataillon 466 aus Volkach in Bayern gekommen war, das dem Logistikbataillon 467 in der Mainfrankenkaserne angeschlossen ist, ging zu einem Lehrgang, der die Instandsetzung verschiedener neuralgischer Punkte des sehr wendigen Sechsrad-Transportpanzers Fuchs beinhaltete.

Die Rekruten Graber, Mohr und Müller aus der Stube 114 nahmen an einem Einführungskurs bezüglich der Verhaltensweisen zwischen Angehörigen der Bundeswehr und afghanischen Einheimischen teil.

»Das ist eine Taschenkarte, die jeder Rekrut vor Ort bekommen wird«, sagte der Instrukteur.

Obwohl jeder der Teilnehmer ein solch mehrseitiges Papier vor sich liegen hatte, wurde mit einem Projektor ein Bild einer solchen Taschenkarte an die Leinwand geworfen.

Taschenkarte

Zu den Regelungen für die Anwendung militärischer Gewalt

für die Soldaten und Soldatinnen des Anteils

International Security Assistance Force

(DtA ISAF)

in Afghanistan

Druckschrift Einsatz Nr. 23 DSKSF 009220133


»Was Sie dürfen und was nicht, ist in diesem Papier manifestiert«, sagte der Leutnant, der den Kurs leitete. »Lesen Sie also sorgfältig die jeweiligen Einsatzregeln der Taschenkarte durch. Im Punkt drei ist der genaue Ablauf geregelt, wenn Sie meinen, schießen zu müssen, weil Ihr Leben bedroht ist.« Mit einem Stock zeigte der Offizier auf die Leinwand. »Die Anwendung des Schusswaffengebrauchs erfolgt durch einen lauten Anruf, vorwiegend in englischer Sprache United Nations – stop, or I will fire! Da wir es in der Vielzahl mit Paschtunen zu tun haben, ist es schlau, die Leute in Paschto anzusprechen, da viele des Englischen nicht mächtig sind. Dann rufen Sie Melgãro Mellatuna – Dreesch, ka ne se dasee kawum! Also denken Sie daran: Niemals wird geschossen, ohne vorher zu warnen. Wer ohne Warnung schießt, macht sich strafbar! Wenn allerdings Gefahr für Leib und Leben vorliegt, kann ausnahmsweise anstatt der mündlichen Warnung ein Warnschuss abgegeben werden. Und merken Sie sich eins: Wenn der Taliban dann wegrennt, ist es verboten, diesen fluchtunfähig zu schießen! Hat jemand Fragen dazu?«

»Ich weiß nicht, wer diese Regeln aufgestellt hat, aber glauben Sie, dass man mit einem solch laschen Vorgehen neue Anschläge verhindern kann?«, fragte einer der Männer aus einem anderen Zug. »Sind das nicht Regeln, die völlig an der Realität vorbeigehen?«

Ein anderer meldete sich. »Jeder Polizist bei uns in Berlin darf da ja mehr als ein Soldat in Afghanistan. Er darf nämlich jeden flüchtigen Verbrecher, der bewaffnet ist, mit Schusswaffengebrauch daran hindern, zu flüchten.«

»Das mag sein«, sagte der Instrukteur. »Aber der deutsche Soldat in Afghanistan darf das so natürlich nicht. Daran sollten Sie sich gleich von vorn herein gewöhnen.«

»Aber das ist doch ein Unding«, warf wieder ein anderer ein. »Diese Regeln sind völlig unpraktikabel.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Von meinem Bruder, der vier Monate in Kunduz stationiert war. Er sagte mir auch unter vier Augen, dass der Verteidigungsminister Jung, ich drücke das mal ganz vorsichtig aus, ein Hasenherz sei, dem es an Mut fehle, die derzeitigen Einsatzbefehle zu ändern.«

Zustimmendes Gelächter zu dem Gehörten und Diskussionen der Rekruten machten sich breit.

»Das habe ich nicht zu kommentieren. Ruhe … Ruhe! Die Anweisungen werden von Fachleuten nach bestehendem Recht in dem Einsatzland ausgearbeitet.« Am Gang baute sich der Spieß auf. »Ruhe, verdammt noch mal …!«

»Eine Frage habe ich noch dazu«, sagte der Mann, der die Diskussionen in Gang gebracht hatte.

»Bitte.«

»Die deutschen ISAF-Soldaten sind doch eingebunden in das Gesamtkonzept, das weitgehend von den Amerikanern bestimmt wird. Glauben Sie, dass ein amerikanischer Rekrut erst in die Luft schießt, wenn ein Auto auf ihn zurast oder ein einzelner Mensch mit einem Sprengstoffgürtel auf ihn zuläuft?«

»Der Gürtel wird kaum zu sehen sein«, rief ein Diskutant in die Runde. »Vielleicht hört man nicht einmal mehr den Knall, wenn es einen zerreißt.«

»Der deutsche Einsatz im Norden setzt ganz andere Prioritäten als der Einsatzort um Kandahãr. Die deutsche Politik will den friedlichen Aufbau des Landes Afghanistan vorantreiben, und die Bundeswehr soll das flankierend begleiten. Mehr nicht.«

»Deshalb haben wir bereits über dreißig Verluste zu verzeichnen«, widersprach der Frager.

»Kein Mensch bestreitet, dass der Einsatz auch im Norden gefährlicher geworden ist. Die Taliban kommen in die Region zurück und kämpfen partisanenartig: schnelle Angriffe aus dem Hinterhalt, ebenso schneller Rückzug. Sie arbeiten in relativ kleinen und Kleinstverbänden, sodass sie schwer aufzureiben sind. Ja, die Anschläge nehmen zu.«

»Sollte die Entscheidungsebene dem nicht Rechnung tragen und endlich den Kommandeuren vor Ort den Einsatz von Schusswaffen nach eigenem Ermessen zum Schutz des Lebens der eigenen Soldaten gestatten?«, wagte sich Heiner Müller vor.

»Da stehen Sie mit Ihrer Meinung sicher nicht allein, Soldat, aber die Entscheidung darüber fällt im Deutschen Bundestag. Die Bundeswehr, und das dürfte Ihnen bekannt sein, ist nur ausführendes Organ. In einer Demokratie ist das so geregelt«, sagte der Leutnant.

»Stimmen Sie mit mir überein, dass das der schwierigste Einsatz überhaupt ist, den die Bundesrepublik in ihrem Bestehen zu bewältigen hat?«, fragte der Gefreite aus dem anderen Zug, der die Diskussion angestoßen hatte.

»Das ist er ohne Frage.«

»Glauben Sie nicht auch, dass ein solcher Einsatz zwingend politische Führung erfordert?«

»Auch das muss ich bejahen.«

»Gehört nicht zur politischen Führung, dass man rechtzeitig veränderte Situationen erkennt und diese Erkenntnisse dann politisch umsetzt?«

»Ja, das ist so.«

»Dies ist durch den zuständigen Minister nicht geschehen. Er hat lange gezaudert. Wichtige Zeit ist verloren gegangen, in der unsere Soldaten bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten im Dauereinsatz waren.«

Der Instrukteur wusste genau, dass der Mann, der ihn nun vor versammelter Mannschaft in Verlegenheit brachte, recht hatte. Immer wieder hatten die Kommandeure das Ministerium in Berlin davon unterrichtet, dass die Zahl der Soldaten in Afghanistan nicht annähernd ausreiche.

»Mein Bruder sagte, sie haben so manchen Auftrag nicht oder nur bedingt erfüllen können, weil sich das Einsatzkontingent während des ganzen Einsatzes an seiner Belastungsgrenze befand.« Völlig unbemerkt war ein Oberstleutnant hereingekommen, hatte sich in die hintere Reihe gesetzt und eine Weile zugehört. Jetzt schien ihm die Diskussion zu weit zu gehen.

»Ich denke, wir sind nicht hier, um über die Möglichkeiten, über genutzte und ungenutzte Chancen zu diskutieren«, sagte er. »Sie sollen hier auf den Einsatz vorbereitet werden. Und dazu ist genau das Papier wichtig, das der Leutnant Ihnen gerade erklärt.« Er schaute den Instrukteur an. »Fahren Sie fort!«


*


Am Morgen des kommenden Tages ließ Senz sich von seinem Handy wecken. Nun wäre er an der Reihe gewesen, mit lautem Ruf durch den Flur die Kameraden zu wecken. Alles, was er herausbrachte, war ein leises Krächzen. Er ging zurück und weckte Adam Silarski.

»Ich kann das nicht, Adam«, sagte er. »Ich kann nicht so schreien, dass die Jungs das hören.«

»Musst du mich wecken? Ich habe gerade so schön geträumt. Hast du gar kein Selbstvertrauen? Stell dich hin und schreie, was das Zeug hält.«

»Ich kann das nicht.« Senz war den Tränen nahe.

Adam schälte sich mühsam aus seinem Bett. Gemeinsam gingen sie vor die Tür und Silarski forderte Christoph Senz auf, es nochmals zu versuchen. Wieder war Senz nur in der Lage, ein leises Krächzen abzugeben, und so übernahm Silarski es wieder, laut schreiend die Kameraden zu wecken.

»Auf-ste-hen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« Er zeigte auf den leeren Blechkübel. »Und nun, Christoph, wirf den Kübel durch den Flur!«

Senz hob den Kübel an, und während Silarski wieder »Auf-ste-hen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!«, schrie, warf er den Kübel zaghaft in den Flur.

»Glaubst du, dass es Zweck hat, wenn ich dem Arzt heute sage, ich sei schwul?«, fragte Senz Silarski.

»Warum? Bist du denn schwul?«

»Nein. Ich will aber unbedingt ausgemustert werden.«

»Wenn der Arzt selbst schwul ist, wird er den Wink verstehen und es möglicherweise machen. Jedenfalls dann, wenn er dich als Homosexuellen erkennt. Wenn nicht, sehe ich schwarz, weil er dann denkt, du hättest seine Homophilität erkannt und wollest das ausnutzen. Und den stinknormalen Ärzten ist es scheißegal, wen sie diensttauglich schreiben. Da wird das ohnehin nicht ziehen.«

»Ich habe gestern noch einmal mit meinem Onkel gesprochen, der Allgemeinmediziner mit eigener, großer Praxis in Mecklenburg-Vorpommern ist.«

»Hat es etwas gebracht?«

»Nein. Er sagte nur, wenn der Arzt vom Psychologischen Dienst gut sei, würde er meinen Zustand erkennen. Auf das angebliche Schwulsein solle ich lieber verzichten.«

»Na, siehst du.«

Inzwischen zeigte das »Unternehmen Weckruf« Erfolg. Die ersten Rekruten gingen zum Waschraum. Silarski und Senz zogen sich in den Raum 113 zurück.


*


Nach dem Frühstück gingen Graber und Jerôme Mohr hinunter zum Tor, wo bereits ein Wagen der Fahrbereitschaft auf sie wartete; täglich fuhr dieses Fahrzeug zwei, drei Rekruten zum Psychologischen Dienst der Bundeswehr nach Leipzig, wo ein Psychiater sich mit den Männern unterhielt. Geprüft wurde unterschiedlich. Ob überhaupt diensttauglich bei den neu eingezogenen Rekruten, die ihre Erstausbildung erhalten sollten, ob den psychischen Anforderungen beim Dienst in Afghanistan gewachsen bei den Männern, die für diesen Einsatz aus anderen Standorten hier zusammengezogen wurden.

Christoph Senz wurde zu einem Militärarzt im Majorsrang gebracht. Nach der Begrüßung schaute ihn der Mann eine ganze Weile an, ohne etwas zu sagen. Dabei beobachtete er sehr genau, wie unsicher sich Christoph Senz an den Fingern spielte und hörte das leichte Zittern in der Stimme, als er ihn fragte, wie er sich fühle.

»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Jugend, Herr Senz.«

»Wo soll ich anfangen?«

»Am besten, wie weit ihre Erinnerungen an die Kindheit haften geblieben sind.«

»Ich weiß, dass meine Eltern sich trennten, als ich zwei Jahre alt war. Aber daran habe ich keine realen Erinnerungen mehr.«

»Sie wissen es von Ihrer Mutter?«

»Ja.«

»Waren Ihre Eltern verheiratet?«

»Nein. Sie haben nur zusammengelebt. Zuerst habe ich meinen Vater auch gar nicht vermisst. Wenn ich es recht bedenke, später auch nicht wirklich. Als ich klein war, haben sich meine Mutter und in den Ferien meine Großeltern liebevoll um mich gekümmert. Ich weiß noch, wie ich mein erstes Fahrrad bekam. Es war eins mit Stützrädern, weil ich eigentlich noch viel zu klein war, um mit einem solchen Rad in der Gegend herumzufahren. Aber ich wünschte mir nichts sehnlicher als ein Rad.«

»Wenn Ihnen die Sache mit dem Rad so in Erinnerung geblieben ist, werden Sie sicher schildern können, wann und wie Sie es bekamen?«

»An Feiertagen fuhren wir immer mit der Bahn von Berlin, wo meine Mutter mit mir wohnte, zu einem kleinen Ort im heutigen Brandenburg, der an das Braunkohlefördergebiet grenzte. Mein Großvater war dort als Chefarzt in einem Krankenhaus tätig, das vorwiegend für die in der Kohle arbeitenden Menschen betrieben wurde. Wenn wir ankamen, stand mein Opi schon am Bahnsteig. Er konnte es gar nicht erwarten, mich in seine Arme zu nehmen.«

»Sie fuhren gern zu Ihren Großeltern …«

»Sehr gern. Jedes Mal, wenn meine Mutter Ferien hatte. Und dann kam das Ereignis – wir stiegen in sein Auto, einen Trabant. Ich liebte das kleine Auto, das mächtig knatterte und erbärmlich nach dem verbrannten Öl stank. Es war jedes Mal ein Erlebnis für mich kleinen Mann. Wenn wir wieder nach Hause fahren mussten, habe ich immer geweint. Viele Jahre habe ich geweint, wenn ich wieder von meinen Großeltern aus der behüteten ländlichen Gegend ins kalte Berlin fahren musste. Auch als ich schon größer war.«

»Das zeugt von einer engen Bindung an Ihre Familie. Kommen wir auf das Rad zurück.«

Christoph Senz merkte gar nicht, wie der Arzt versuchte, ihn mit diesen Fragen locker zu machen. Der Mann hatte genau den Ton getroffen, der bei Christoph ankam, der ihm Vertrauen gab, sich ein wenig zu öffnen.

»Das Rad. Ich hatte es bei einem anderen Kind in Berlin gesehen«, sinnierte Christoph Senz. »Es war relativ klein und hatte Stützräder an beiden Seiten, damit man nicht umfallen konnte. Ich sehe es noch heute vor mir, als wäre es erst Stunden her. Der Junge in Berlin ließ mich widerwillig für einen Augenblick auf sein Fahrzeug steigen, fing aber wie wild an zu brüllen, als ich nicht bereit war, es nach wenigen Sekunden schon zurückzugeben. Er hörte erst auf zu weinen, als es mir weggenommen wurde, und ich heulte los, weil ich es nicht herzugeben bereit war. Aber nichts half. Der Junge bekam sein Rad zurück und ich wünschte mir seither nichts sehnlicher, als ein solches Fahrrad zu besitzen.« Christoph sah, wie der Major sich hin und wieder Notizen machte. Daneben hatte er noch einen Bogen liegen, auf dem sicher irgendwelche Fragen aufgelistet waren, denn auf diesem Bogen machte der Arzt nur ab und zu ein Kreuz.

»Ich weiß nun aus den Erzählungen, dass meine Mutter, die als Lehrerin in Berlin tätig war, versuchte, ein solches Kinderrad zu bekommen. Vergeblich. Es war ein Artikel, der zu dieser Zeit im Wirtschaftsgüter-Mangel-Land DDR kaum aufzutreiben war. Mein Großvater erzählte einem Patienten, wie dringend er ein solches Rad für seinen Enkel suche. Und dieser Patient hatte Zugang zum Rat der Stadt. Er besorgte meinem Großvater das Fahrrad.«

»Und beim nächsten Besuch bekamen Sie das Rad.«

»Nein, nein. Nicht beim nächsten Besuch. Aber zum nächsten Weihnachtsfest. Die Bescherung näherte sich, und ich war sicher, ein solches Rad zu bekommen. Es gab allerlei kleinere Geschenke, über die ich mich auch freute, aber das Rad war nicht dabei. Also war ich auch enttäuscht. Als ich am kommenden Morgen aufstand und zum Frühstück gerufen wurde, stand das Rad da. Ich war vor Freude ganz aus dem Häuschen. Der Weihnachtsmann, sagte man mir, habe es am Vortag vergessen abzugeben und es nachträglich während der Nacht gebracht.«

Wieder machte sich der Arzt eine Notiz.

»Und Ihre Großmutter? Wie stehen Sie zu ihr?«

»Die Omi ist eine ganz liebe, aber durchaus resolute Frau.«

»Was meinen Sie mit resolut?«

»Sie sagt mir Sachen, die mein Opi nie sagen würde.«

»Nennen Sie ein Beispiel.«

»Sie kritisiert mich, sagt manchmal auch Dinge, die mir nicht so gefallen.«

»Nennen Sie ein konkretes Beispiel«, wiederholte der Arzt.

»Ich war in der zwölften Klasse und stand kurz vor dem Abitur. Nach einem Schulwechsel hatte ich das Gefühl, gemobbt zu werden.«

»Wie kam es zu der Annahme, man wolle Sie mobben?«

»Ich hatte das Gefühl, alle lehnten mich ab.«

»Wirklich alle?«

»Nur eins der Mädchen hatte sich in mich verliebt. Ich brachte es mit nach Hause. Sabrina war zwei Jahre älter als ich und natürlich erfahrener. Mein Interesse an Mädchen war wesentlich kleiner als umgekehrt. Damals wusste ich nicht einmal, was Pubertät ist.«

»Das passte Ihrer Mutter nicht?«

»Nein, ganz und gar nicht. Sie redete mit mir und drang darauf, dass ich das Verhältnis zu dem Mädchen beendete.«

»Können Sie mir sagen, warum das so war?«

»Sie meinte, es sei viel zu früh für mich, mich an ein Mädchen zu binden.«

Während sich der Psychiater wieder Notizen und ein weiteres Kreuz auf den zweiten Bogen machte, den er vor sich liegen hatte, fragte er: »Und die Eltern des Mädchens?«

»Es war eine Unternehmerfamilie, die die ganze Sache viel lockerer sah. Als sie mich einmal einluden, wollten sie, dass ich mit ihrer Tochter in deren Zimmer übernachte.«

»Und?«, drängte der Psychiater.

»Ich habe es nicht gemacht. Ich dachte an die Worte meiner Mutter.«

»Sie waren also folgsam? Hat sich das Mädchen nicht geärgert, dass Sie gerade bei dieser Gelegenheit folgsam waren?«

»Nein. Na ja, vielleicht ein klein wenig. Aber bisher hatte meine Mutter immer den Ton angegeben, wenn etwas in unserer kleinen Familie geschehen sollte.«

»Und Sie haben immer gehorcht?«

»Meistens.«

»Was heißt das?«

»Ich habe immer versucht, meine heimlichen Wünsche erfüllt zu bekommen.«

»Nennen Sie mir ein Beispiel.«

»Wir waren im Urlaub auf Usedom. Ich sah einen sündhaft teuren Pullover, den ich haben wollte. Meine Mutter sagte, sie sei nicht bereit, dafür so viel Geld auszugeben. Es war die Zeit, wo sie noch nicht so viel Geld verdiente, um überflüssige Dinge zu erwerben. Und der Urlaub war schon über die Maßen teuer.«

»Aber Sie wollten den Pullover unbedingt haben«, stellte der Arzt lapidar fest. »Unbedingt … Wie alt waren Sie da etwa?«

»Vierzehn oder fünfzehn und ganz schön eitel, weil ich zu den am besten angezogenen Kindern der Schule zählte.«

»Ihre Mutter gab also in bestimmten Dingen immer nach. Das heißt, wann immer Sie sich etwas wünschten, bekamen Sie Ihren Willen, wenn sich das irgendwie machen ließ.«

»Ja. Ich führte sie an jedem Tag unseres Urlaubs an dem Geschäft vorbei, in dem das begehrte Teil ausgestellt war. Und jeden Tag sagte sie Nein. Aber am letzten Urlaubstag hatte ich sie so weit, dass sie einverstanden war und mir den Pulli kaufte.«

»Sie hatten wieder Ihr Ziel erreicht.«

»Ja.«

»Glauben Sie, dass das mit einem gewissen Komplex in Verbindung gebracht werden muss, weil sich ihre Mutter möglicherweise die Schuld dafür gibt, dass Sie ohne Vater aufgewachsen sind?«

»Ich weiß nicht recht. Ich habe den Vater ziemlich spät vermisst. Und um ehrlich zu sein, da auch nur manchmal, wenn andere Kinder vor der Klasse in der Schule von ihren Vätern erzählten und ich keinen Vater vorzuweisen hatte. Da habe ich ihn in der Tat vermisst.«

»Wissen Sie noch, zu welcher Zeit das war?«

»Etwa von der ersten bis zur fünften Klasse. Sonst ist das eine Seltenheit, aber da hatten alle Kinder einen Vater. Nur ich nicht.«

»Haben Sie Ihre Mutter nach dem Verbleib des Vaters gefragt?«

»Ja, zweimal. Einmal in Berlin. Sie hat mir erklärt, dass der Vater uns verlassen hatte, als ich zwei Jahre alt war. Sie sagte, er habe sich nicht so viel aus mir gemacht, wollte gar nicht, dass ich zur Welt kam, weil er noch nicht so weit sei, eine Familie mit Kind zu akzeptieren. Das habe noch Zeit.«

»Und das zweite Mal?«, fragte der Arzt, als Christoph seinen Bericht einen Augenblick unterbrach.

»Das zweite Mal am Mittagstisch bei meinen Großeltern. Da hat sich auch die Omi eingeschaltet und mir gesagt, dass es die Entscheidung meiner Mutter war, einen Mann zu verlassen, der die Hilfe seiner Familie in den Wind geschlagen hatte, der von seinem Sohn so recht nichts wissen wollte und wohl ein Versager war.«

»Inwiefern?«

»Er fing einige Arbeitsstellen an, um nach zwei, drei Monaten festzustellen, dass es nicht nach seinem Geschmack war, gerade diese Arbeitsstelle auszufüllen. Er behauptete, man würde ihn brüskieren. Das Wort Mobben gab es damals noch nicht. Jedenfalls nicht in der DDR.«

»Zum Beispiel?«

»Er bekam eine Stelle als Beleuchter beim Theater und fing dort an, laufend zu diskutieren. Da hat man ihn, der ja gar keine Erfahrung am Theater hatte, in die Schranken gewiesen. Folglich hat er sofort beleidigt die Stelle geschmissen.«

»Haben Sie noch ein Beispiel?«

»Er hatte wohl ein wenig Ahnung davon, Fernsehgeräte zu reparieren. Es war ein Boomberuf zu einer Zeit, als auch in der DDR derartige Geräte zum Verkauf standen. Eine Weile hat er das wohl auch gemacht.«

Als Senz schwieg, fragte der Arzt: »Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht oder ein Wasser?«

»Gern. Ein Wasser, bitte. Dann bot man meinem Vater einen Studienplatz an. Meine Großeltern, die wollten, dass meine Mutter einen Mann hat, der seinen Weg macht und eine Familie auch ernähren kann, boten finanzielle Unterstützung an. Mein Erzeuger hat den Studienplatz abgelehnt. Stattdessen wollte er meine Mutter davon überzeugen, sie solle ihre Anmeldung zum Kauf eines Trabants, die eine Wartezeit von rund zehn Jahren beinhaltete, in eine Anmeldung auf einen Wartburg ändern. Meine Mutter war realistisch genug, zu erkennen, dass die Kaufsumme für einen Wartburg für sie nicht aufzubringen gewesen wäre, da der Vater fortdauernd arbeitslos war. Er war nicht arbeitslos, weil es keine Arbeit gab, sondern weil er keinerlei Arbeit akzeptierte. Stattdessen kaufte er sich ein Rennrad der Marke Favorit und spielte Friedensfahrt

»Und lebte vom Verdienst Ihrer Mutter? Ist es das, was Ihnen nahegebracht wurde?«

»Ja.«

»Von Ihrer Mutter?«

»Und meinen Großeltern.«

»Vermissen Sie Ihren Vater heute noch manchmal?«

»Nein.«

»Denken Sie nie an ihn?«

»Nein, nie.«

»Sie haben auch nicht einmal daran gedacht, nachzuforschen, was Ihr Vater jetzt macht?«

»Ich habe einmal meiner Mutter damit gedroht, als ich sauer auf sie war. Aber es war nicht ernst gemeint.«

»Also haben Sie daran gedacht, nachzuforschen, was mit dem Mann in den über zwanzig Jahren passiert ist?«

Christoph Senz lächelte. »Nein, nicht wirklich. Meine Mutter hatte während der ganzen Zeit meines Erwachsenwerdens niemals auch nur den Hauch eines Zweifels daran gelassen, dass sie diesem Mann niemals mehr zu begegnen wünsche.«

»Und sie verdrängten die Gedanken an Ihren Vater, weil sie der Mutter nicht wehtun wollten.«

»Ja.«

»Die Hand, die dich füttert, sollst du nicht abschlagen«, sagte der Psychiater und lächelte Christoph aufmunternd zu.

»So habe ich das gar nicht gesehen. Der Mann existierte für meine Mutter nicht, und für mich auch nicht. Meine Mutter war immer sehr fürsorglich.«

»Immer? Ich meine, heute auch noch?«

»Ja. Ich konnte kaum das Haus verlassen, ohne dass sie zwei-, dreimal fragte, ob ich auch ja nicht den Schlüssel vergessen hätte. Und jedes Mal machte sie mich darauf aufmerksam, dass ich die Tür richtig zuschließen sollte.«

»Wann stellten Sie fest, dass Ihnen diese Fürsorge zu weit ging?«

»Irgendwann in den letzten zwei Jahren begann mir diese Fürsorge wie eine Belästigung zu sein. Ich konnte nichts selbst entscheiden.«

»Sie fühlten sich wie die Puppe eines Schmetterlings, die nie aus dem Kokon entlassen wurde?«

»Das trifft es. Sie beeinflusste mich, welche Freunde ich akzeptieren konnte, wie oft ich zur Mathenachhilfe gehen musste.«

»Sie sorgte dafür, dass Sie zur Nachhilfe im Fach Mathematik gingen?«

»Ja. Es war mein einziges schwaches Fach. Aber ich boykottierte den Unterricht mental. Es war mein Protest, weil sie mich wie einen Säugling behandelte.«

»Nur deshalb?«

»Ich denke, ich lernte nichts, weil ich eine Aversion gegen das logische Denken hatte.«

»Aha.«

»In Wirklichkeit schickte sie mich wahrscheinlich da hin, weil sie ebenfalls eine Schwäche in diesem Fach hatte.«

»Als Lehrerin?«, fragte der Psychiater.

»Sie unterrichtet Deutsch und Musik.«

»Verstehe. Fühlen Sie sich von Ihrer Familie bevormundet?«

»Ja.«

»In inakzeptabler Weise?«

»Ja.«

»Haben Sie versucht, dagegen anzugehen?«

»Wie denn?«

»Mit Ungehorsam zum Beispiel?«

»Ja, natürlich.«

»Wie hat sich das geäußert?«

»Ich liebte meine Mutter, aber ich hasste sie auch manchmal für diese Bevormundung. Ich fühlte, dass ich mich so nicht entfalten konnte. Manchmal hatten wir kleine Auseinandersetzungen.«

»Wurden Sie so aggressiv, dass Sie Ihre Hand gegen Sie erhoben?«

»Ich habe sie nicht geschlagen. Aber ich habe sie mehrmals gegen die Wand gedrückt.«

»Aber es hat nichts gebracht.«

»Nein. Auch, weil die Omi mich belehrt hatte, was meine Mutter alles für mich tun würde. Sie hätte es nicht verdient, dass ich mich so gehen ließe.«

»Hatte Ihre Großmutter recht damit?«

»Ja, absolut. Meine Mutter hat viel für mich getan.«

»Und Ihr Großvater? Was sagte der dazu?«

»Er redete mit mir, wie mit einem kranken Hund. Aber ich brachte ihn auch mit meiner Haltung dazu, seine Zurückhaltung mir gegenüber aufzugeben.«

»Wie äußerte sich das?«

»Er ließ seine innere Ruhe vermissen, brüllte mich an, versuchte es mit den unterschiedlichsten Methoden, auf mich positiv einzuwirken.«

»Positiv in seinem Sinn?«

»Ja. Aber sicher auch in meinem Sinn. Nur wollte ich das nicht erkennen.«

»Kommen wir noch einmal auf Ihre Großmutter zurück. Nennen Sie mir nun ein konkretes Beispiel, wo ihre Oma sich gegen Sie gestellt hat. Das hat sie doch.«

»Nicht wirklich. Die Wahrheit ist, sie hat mir im Beruf sehr geholfen. Als ich meinen Meister machen wollte, wurde ihre Küche zur Backstube. Sie müssen wissen, meine Großmutter kann ausgezeichnet backen. Ohne sie hätte ich die Meisterprüfung nicht bestanden. Aber sie war es auch, die mich als ‚Dünnbrettbohrer‘ bezeichnete, weil ich es bei keiner Arbeitsstelle länger ausgehalten habe.«

»Zog sie damit einen Vergleich zu Ihrem Vater?«

»Eher selten.«

»Aber ein-, zweimal schon?«

»Ja.«

»Haben Sie deshalb versucht, während Ihrer kurzen Zeit beim Bund Kontakt zu Kameraden zu bekommen, die möglicherweise in einen Kampfeinsatz gehen werden?«

War Christoph Senz, nach anfänglicher Unsicherheit, während des Großteils des Gesprächs zu einer nahezu normalen Stimmung gekommen, die ihn mühelos aus seinem Leben berichten ließ, änderte diese Frage schlagartig sein Verhalten. Das Zittern in der Stimme, die Unsicherheit, die ihn verriet, wenn er die Gelenke seiner Finger zum Knacken brachte, das Spiel der Falten auf seiner Stirn und die Schläge der Augenlider zeigten dem erfahrenen Psychiater, dass er einen jungen Mann vor sich hatte, der von Selbstzweifeln zerfressen wurde.

»Ja. Das war wohl der Auslöser. Ich wollte ihnen Stärke beweisen.«

»Aber diese Stärke haben Sie nicht? Sie haben Angst vor dem Dienst beim Bund?«

Christoph Senz kämpfte mit den Tränen.

»Ja. Ich … ich glaube, ich bin dem nicht gewachsen. Allein das Rumbrüllen beim Wecken versetzt mich in einen Zustand der Unsicherheit.«

Der Psychiater war ein Mann, dem die »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« durchaus geläufig waren. Er hatte schon alles erlebt von Männern, die dem Wehrdienst entgehen wollten, und war mit nahezu allen Tricks bestens vertraut. Hier hatte er es mit einem jungen Mann zu tun, dem es an jeglichem Selbstbewusstsein fehlte. Sicher schrie der Mann nach einer Befreiung vom Bund, aber nicht, weil er sich drücken wollte, sondern weil er sich in tiefer psychischer Not befand.

»Herr Senz, ich sehe durchaus, in welcher Verfassung Sie sich befinden. Ich werde Sie dienstuntauglich schreiben, wenn Sie mir versprechen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Werden Sie mir das zusagen?«

Als Senz nichts sagte, fuhr er fort: »Aufgrund unseres Gesprächs habe ich den Eindruck, dass Sie dringend einer solchen Behandlung bedürfen, um festzustellen, was notwendig ist, um gewisse Unsicherheiten, die Ihr ganzes Leben beeinträchtigen, zu beseitigen. Es kann sich um Psychosen handeln … aber auch um Schlimmeres. Genaues kann nur eine langwierige psychiatrische Untersuchung zutage bringen. Können Sie mir zusagen, sich in eine solche Behandlung zu begeben?«

Christoph Senz zögerte einen Moment. »Ja.«

»Fragen Sie Ihren Großvater oder besser Ihren Onkel, der wird Ihnen sicher behilflich sein können«, sagte der Psychiater.

»Ich werde meinen Onkel fragen.«

»Bisher habe ich dienstlich mit Ihnen besprochen. Jetzt werden wir uns noch ein wenig unterhalten. Ich werde versuchen, Ihnen noch einige Ratschläge zu geben.«

Sechs Tage später verließ Christoph Senz die Hans-Joachim-von-Zieten-Kaserne in Beelitz und suchte erst einmal Zuflucht bei seinen Großeltern in dem kleinen brandenburgischen Dorf, in dem das Grundstück mit dem Haus – umgeben von riesigen Feldern der ehemaligen LPG – wie eine Oase lag.

Jenseits von Deutschland

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