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MILCHGESICHTER IN BUSINESS-JETS
ОглавлениеDas Seminar hieß Business Mastery, dauerte fünf Tage und fand im Januar 2014 in Palm Beach, Florida, statt. Die Teilnahme kostete 10.000 Euro, aber Luxus boten die Veranstalter nicht. Ich hatte stets eine Jacke dabei, um mir in der zu stark gekühlten Halle keine Erkältung zu holen, und das Essen war typisch amerikanisch: fettige Double-Burger, Nachos und übelriechende Pizzen. Am ersten Tag kaufte ich deswegen am Obststand vor der Halle zur Freude des Verkäufers alle Bananen auf, für drei Dollar das Stück.
Es war ein Seminar von Anthony Robbins, einem amerikanischen Bestsellerautor und NLP-Trainer. Als Berater war er für prominente Politiker wie Bill Clinton und Profisportler, unter anderem Andre Agassi, tätig. Freunde und Kollegen hatten ihn mir als weltweit bekanntesten Mann seines Fachgebiets empfohlen, weshalb ich wissen wollte, was er zu sagen hatte.
Robbins spricht bei seinen Vorträgen unter anderem darüber, dass viele Menschen ihre Träume ihren Lebensumständen anpassen würden, weil sie Angst vor Enttäuschungen und Kummer hätten. Tatsächlich verlaufe der Weg zum Erfolg aber genau umgekehrt. Wer aufsteigen wolle, müsse seine Lebensumstände seinen Träumen anpassen und so seine inneren Kräfte befreien.
Ich hörte diese Dinge gerne, weil sie mich bestärkten und inspirierten, neu waren sie für mich allerdings nicht. Ich habe mich selbst als Kind der Mittelschicht von deren Denkmustern befreit und bin dadurch aufgestiegen. Deshalb wählte ich ein Robbins-Seminar mit konkreterem Inhalt. Es ging darum, wie aus kleinen Unternehmen große werden. Nur ein Hundertstel aller Unternehmen setzt mehr als fünf Millionen Dollar im Jahr um, aber das muss nicht so sein, lautete die Ansage.
Robbins hielt nicht alle Vorträge selbst. Es gab Gastredner, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Einer von ihnen, ein Mann mit Südstaatenakzent, erklärte uns am Beispiel der Hotellerie, wie wichtig das Internet für das Wachstum eines Unternehmens sei.
Hotels einer Preisklasse würden in Sachen Lage, Zimmerausstattung und Services ungefähr das Gleiche anbieten, erklärte der Vortragende. Dennoch verdienten manche von ihnen mehr als andere, und das liege an derem digitalen Auftritt.
Ich bin seit zehn Jahren im Hotelgeschäft als Investmentbanker tätig und kenne die Branche deshalb gut.
»Warum macht ein Hotel Nacht für Nacht um 15 bis 20 Prozent mehr Umsatz als ein anderes, obwohl beide das Gleiche anbieten, die gleichen Zimmerpreise verlangen und sogar die Auslastung vergleichbar ist?«, fragte der Redner.
Er zeigte uns die digitalen Auftritte verschiedener Ketten der gehobenen Kategorie. Bei Marriott oder Hilton bestanden die Internetseiten vor allem aus Fotos von Zimmern, die hübsch eingerichtet waren, aber doch nur das Erwartbare boten.
Er führte uns vor, wie umständlich das Buchen eines Zimmers bei manchen dieser Unternehmen war: Das Buchungssystem leitete von Seite zu Seite weiter und verlangte trotzdem immer wieder die gleichen Informationen.
Als Nächstes präsentierte er uns den digitalen Auftritt eines Hotels in der Karibik, dessen Seite einfach zu bedienen war und einen gewissen Wow-Effekt auf den Besucher hatte. Sie rief nicht nur: »Ich bin ein Hotel, bitte buche mich«. Sie zeigte Impressionen von der umliegenden Landschaft und bot einen Blog mit Berichten über das Hotel, über regionale Gerichte und interessante Ausflugsziele. Wie ein Reiseführer stellte sie eine Anleitung zum Erleben der Region bereit.
Dieses Hotel hatte 99 Prozent Auslastung im Vergleich zu 60 bis 70 Prozent bei vergleichbaren Hotels. Es war für zehn Prozent der Besucher der Region verantwortlich und stiftet damit einen Wert.
Außerdem war es unabhängig von Buchungsmaschinen wie booking.com, excite.com oder hotels.com. So zahlte sich der gute Internetauftritt für das Hotel aus, denn bei einer Direktbuchung bleibt den Hotels der ganze Bruttoumsatz, während ihnen die Buchungsplattformen 15 bis 25 Prozent davon abnehmen.
Die Botschaft des Redners im Anthony-Robbins-Seminar lautete: Unternehmen, egal welcher Branche, die rechtzeitig die Bedeutung der laufenden Digitalisierung der Wirtschaft erkennen, gewinnen, die anderen hingegen verlieren. Der Prozess sei im vollen Gange, berichtete er, nur würden viele das noch nicht sehen.
Die Branchen, in denen ich arbeite – Investmentbanking, Immobilien und Corporate-Finance-Beratung – sind wie die Hotellerie klassische Old Economy, hatte ich lange gedacht. Technologie war mir deshalb immer egal gewesen. Ich hatte nie verstanden, warum sich Menschen stundenlang für ein neues iPhone anstellten, das vielleicht etwas dünner und etwas schneller als das Vorgängermodell war.
Mir hatte es gereicht, wenn ich meine Stereoanlage und mein Navigationssystem bedienen und mit meinem Handy E-Mails und SMS-Nachrichten schreiben konnte. Was darüber hinausging, hatte mich ein wenig genervt. Das gesamte Internet hatte mich ein wenig genervt. Ich hatte es für überbewertet und die sozialen Medien für eine Modeerscheinung gehalten. Ich hatte diese Dinge stets meinen Mitarbeitern überlassen.
Doch während dieses Seminars in Palm Beach, bei dem ich nichts anderes tat, als mich mit der Zukunft zu beschäftigen, fing ich zu zweifeln an. Was, wenn ich eine entscheidende Entwicklung übersah, genau wie all die anderen Unternehmer, Manager und Angestellten, die sich in ihrer alten Welt für unschlagbar hielten und sich gerade zu Verlierern entwickelten?
Mir fielen Hinweise darauf ein, die ich bisher ignoriert hatte. So erreichten mich wegen meiner Bücher über Geld und Erfolg laufend Anfragen über Facebook, aus denen sich häufig Geschäftsbeziehungen und Freundschaften entwickelten.
Gleichzeitig fiel mir eine Reihe junger Internet-Nerds ein, die Millionen verdienten und durch die Welt jetteten. Da Geldverdienen schon immer meine Lieblingsbeschäftigung gewesen war, hatte ich mich bereits gefragt, wo genau sie das Geld herhatten. Wie machten diese Milchgesichter ihre Vermögen?
Mit dem Aufstieg von Firmen wie YouTube, Facebook, WhatsApp, Instagram und Snapchat hatten noch halbe Kinder die großen Bühnen der Wirtschaft betreten – und nicht nur der Wirtschaft. Chris Hughes, einer der Mitbegründer von Facebook und mehrere Jahre Sprecher dieser Firma, war 2007 ins Wahlkampfmanagement Barack Obamas gewechselt. Er war maßgeblich für den ersten Wahlsieg Obamas verantwortlich, bei dem die sozialen Medien eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Hughes war damals gerade einmal 25 Jahre alt gewesen, und seine blonde Bubenfrisur hatte ihm in die blasse Stirn gehangen. Doch er hatte bereits über ein Vermögen von rund 450 Millionen Dollar verfügt und in den obersten Machtzirkeln mitgemischt.
Ich selbst hatte kurz vor dem Seminar mit einem 24 Jahre alten Unternehmer zu tun, der sich bei mir nach Anlagestrategien erkundigt hatte. Er war stets in zerrissene Jeans und alte Pullover gekleidet, doch er fuhr einen nagelneuen Jaguar F-Type mit 500 PS, und als ich ihn fragte, wie viel er anlegen wolle, gab er 3,5 Millionen Euro an.
Er hatte mit 16 zu programmieren begonnen, mit Domains gehandelt, Werbeplätze verkauft und war diversen anderen digitalen Geschäftsmodellen nachgegangen. Er machte das inzwischen acht Jahre lang, was in dieser Branche eine kleine Ewigkeit ist, und kannte sich in einer Welt aus, zu der ich keinen Zugang hatte.
Ich war Mitte 30 und hatte nach meinen Studien der angewandten Mathematik und der Betriebswirtschaft auch schon einiges erreicht Ich besaß knapp 200 Wohnungen, vor allem in Frankfurt, und Vermögenswerte wie Aktien, die mir ein passives Einkommen ermöglichten. Ich hätte nicht mehr arbeiten müssen, um ein gutes Leben zu führen, aber ich arbeitete gerne, was meinen Besitz weiter mehrte. Ich hatte Ziele, zu denen – neben der Anschaffung eines kleinen Privatflugzeugs und einiger anderer Spielsachen – die Gründung einer privaten Wirtschaftsuniversität gehörte. Ich führte dabei ein gutes Leben. Ich ging gern auf Partys und machte an schönen Orten wie Miami oder Gstaad Urlaub.
Doch wenn mich diese kaum der Pubertät entwachsenen Nerds, die jeder Türsteher eines Nachtclubs abgewiesen oder nach ihrem Ausweis gefragt hätte, locker mit mir mithalten oder mich sogar überholen konnten, stimmte etwas nicht. Der Typ da vorne auf der Bühne hat recht, dachte ich. Wenn sogar eine altmodische Branche wie die Hotellerie so unmittelbar von der Digitalisierung betroffen ist, muss auch ich mich damit beschäftigen.
Ich machte mir von nun an Notizen, während der Mann auf der Bühne weitersprach. »Der größte Konkurrent eines jeden Hotels wird in Zukunft kein Hotel mehr sein, sondern eine digitale Plattform«, sagte er. »Einige von Ihnen kennen sie vielleicht. Sie vermittelt Unterkünfte in Privatwohnungen an Reisende und heißt Airbnb.«
Ich hatte mit den Managern mehrerer Hotelketten bereits über Airbnb gesprochen. »Was soll der Blödsinn? Das ist illegal und wird früher oder später verboten werden«, war damals ihr Tenor gewesen. Ich dachte ähnlich über Airbnb. Doch nun belehrte mich der Redner eines Besseren. »Airbnb wird in absehbarer Zeit mehr wert sein als die größten Hotelketten der Welt zusammen«, erklärte er. »Man nennt das ›digitale Revolution‹. Sie wird unsere Zukunft bestimmen.«
Jetzt liegt die Marktbewertung von Airbnb bei etwa 30 Milliarden Dollar, von Hilton bei etwa 19 Milliarden Dollar und von Accor bei etwa 12 Milliarden Euro. Doch damals glaubte ich, mich verhört zu haben. Immerhin besaßen die größten Hotelketten Häuser in den Zentren der wichtigsten Städte der Welt. Eine damals, im Jahr 2014, noch relativ obskure digitale Plattform sollte eines Tages einen größeren Wert ausmachen als diese prachtvollen und teilweise unbezahlbaren Immobilien in den besten Lagen Londons und New Yorks?
Am Abend befasste ich mich näher mit Airbnb. Die klassischen Hoteliers und ihre Verbände kämpften für Regulierungen, die der Plattform das Leben schwermachen sollten. Warum eigentlich? Auf den ersten Blick waren ihre Geschäfte stabil. Daraus ließ sich ableiten, dass Airbnb ihnen keine Gäste wegnahm. Doch bei näherem Hinsehen stimmte das nicht. Die ganze Hotellerie profitierte von einer sich globalisierenden Welt, in der ständig mehr Menschen reisen mussten oder wollten. Ein neuer Konkurrent fiel da kaum ins Gewicht. Doch dieser Aufwärtstrend der Branche würde einmal seinen Zenit erreichen, und von da an würde es eng für die klassischen Hoteliers werden.
Ich las weiter und dachte darüber nach, wie die Digitalisierung die klassischen Hotels verändern könnte, und in welche Richtung die Hotelketten, mit denen ich als Investmentbanker eng zusammenarbeitete, denken mussten. Abgesehen von dem digitalen Auftritt und der Buchung fielen mir noch weitere Abläufe in Hotels auf, die nur deshalb menschliches Wirken zu erfordern schienen, weil es alle so gewöhnt waren.
Etwa beim Check-in. Musste wirklich ein Mensch hinter einem Tresen stehen, der Daten entgegennahm und eine Plastikkarte mit anderen Daten darauf aushändigte? Nahm ich für den Vorteil, von einem vielleicht schlecht gelaunten Menschen bedient zu werden, wirklich so gerne Wartezeiten an einer Rezeption in Kauf? War der menschliche Faktor wirklich so wertvoll, wenn ich nachts, müde von einem Flug, in einem Hotel ankam und nichts anderes als Ruhe wollte?
Für die Luxushotels mochten diese Fragen mit »Ja« zu beantworten sein. Ihre Gäste legten Wert auf persönlichen Service. Doch die Hoteliers vieler anderer Gasthäuser warteten vermutlich schon auf eine digitale Lösung für den Check-in, die ihnen Personalkosten ersparen würde.
Lange würden sie sich nicht mehr gedulden müssen. Programmierer arbeiteten bereits an Schlüsselcodes für Smartphones. Hotelgäste würden dann zu ihren Zimmern gehen, das Mobiltelefon dort an den Türgriff halten, wo ein kleines Licht leuchtet, und eintreten. Ein Prozess ganz ähnlich jenem, der beim Check-in auf Flughäfen üblich geworden ist.
Noch am gleichen Abend sah ich mir die Internetseiten meiner Firmen an und bemerkte, was ich schon im tiefgekühlten Vortragssaal vermutet hatte: lauter benutzerfeindliche Hürden, dazu umständlich aufzufindende Inhalte, die weder informativ noch unterhaltend waren. Da ließ sich einiges verbessern.
Als nächstes sah ich mir meine Social-Media-Präsenz an. Dort gab es bisher keinen einzigen aktiven Post. Ich hatte nur beantwortet, was gekommen war. Zum ersten Mal postete ich jetzt selbst ein Status-Update auf Facebook. Es dauerte, bis ich das mit meinem Handy geschafft hatte.
Beste Grüße aus Palm Beach vom Tony-Robbins-Seminar.
Daneben stellte ich einige Fotos vom Strand, von Palmen und vom Seminar. Für diesen Post bekam ich meine ersten 100 Likes.
Die wichtigste Information, mit der ich von dem Seminar nach Hause flog, lautete: Eine neue Trennlinie wird sich durch die Gesellschaft ziehen, die wichtiger sein wird als die zwischen Arm und Reich oder die zwischen Jung und Alt. Auf der einen Seite werden Menschen stehen, die sich mit der digitalen Welt befasst haben, sie verstehen, sich ihr anpassen und sie gestalten. Auf der anderen Seite werden sich jene befinden, die das neue technisch Machbare höchstens als Konsumenten nutzen.
Teilweise wird sich diese Trennlinie mit jener zwischen Arm und Reich decken, weil die digitalen Verweigerer sozial absteigen werden. Teilweise wird sie sich mit der zwischen Jung und Alt überschneiden, wobei es auch junge Menschen geben wird, die ihre Rolle in der digitalen Welt auf die von Konsumenten beschränken, und alte, die erstaunlich behände im Umgang mit ihr sein werden.
Doch insgesamt wird diese Trennlinie die gesellschaftlichen Hierarchien ganz neu strukturieren. Ein verrückter Hacker, der Gras raucht und jetzt vielleicht noch Hartz-IV-Empfänger ist, kann dann zur Elite gehören. Umgekehrt kann einem digitalen Bummler, der nach jetzigen Maßstäben eine Eliteausbildung genossen hat, der soziale Abstieg in die unteren Schichten drohen.
Wie viele Follower jemand in den sozialen Medien hat, wird zu einem der wesentlichen Statussymbole werden. Es wird wichtiger sein als die Frage, über welche Statussymbole oder welche Titel jemand verfügt.
Ich begriff: Wenn ich mich nicht rasch an die Digitalisierung anpasste und mir das nötige Wissen dazu aneignete, würde ich in zehn Jahren ein langweiliger Investmentbanker mit einer Menge Eigentumswohnungen sein. Während ich in der ersten Klasse einer Linienmaschine sitzen würde, würden Menschen, die meine Kinder sein könnten, mich in ihren Privatjets überholen. Womöglich war selbst das noch eine optimistische Perspektive.