Читать книгу Ein verhängnisvolles Vermächtnis - Geraldine Haas - Страница 3
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ОглавлениеEs war am frühen Morgen eines frostigen Dezembertages. Sofia hatte sich von Tante Bertha verabschiedet, um mit dem Zug zurück in ihr kleines Bergdorf zu fahren, das hoch über dem schweizerischen Rheintal lag. Die Tante hatte ihr ihre Tagebuchaufzeichnungen und einige Briefe anvertraut. „Damit sie nicht in falsche Hände geraten“, hatte sie gesagt. Bertha glaubte, dass sie bald sterben werde. Sofia, ihre einzige Nichte, war ihr besonders ans Herz gewachsen.
Sie legte das Tagebuch in ihren Koffer. Doch als der Zug die kleine Stadt im Odenwald verlassen hatte und Sofia aus dem Fenster, den davoneilenden Landschaftsbildern nachblickte, überkam sie Neugier und sie holte den Koffer aus dem Fach über dem Sitz, schob ihre Hand durch eine schmale Öffnung hinein und fühlte nach dem Tagebuch, bis sie schließlich den abgegriffenen, braunen Ledereinband zu fassen bekam. Sie fragte sich, warum die Tante ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben hatte. Ob es Probleme in ihrer Ehe gab, und sie sich ihren Kummer darüber vom Herzen schrieb? Wenn Sofia ehrlich war, stimmte es auch in ihrer Ehe nicht mehr, schon lange nicht mehr. Während sie darin blätterte, traf sie auf eine interessante Stelle:
Seit heute weiß ich, dass August eine Freundin hat, denn ich ertappte ihn bei einem Telefongespräch mit einer Frau. Die Situation war eindeutig. Es traf mich so tief, dass ich unfähig bin, meiner Arbeit nachzugehen. Zuerst war es der Schock, ich saß regungslos da und hatte nicht die Kraft auch nur irgendetwas zu tun, aufzustehen, zu weinen, schreien. Nach einigen Minuten kamen die Tränen mit der Frage: Was habe ich falsch gemacht? Warum tut er das? Nach weiteren langen Minuten kam der Zorn und mit ihm der Hass. In diesem Moment wäre ich fähig gewesen ihn zu töten. Dann überlegte ich, ob ich mit ihm darüber reden sollte oder besser schwieg. Ich entschied mich für das Schweigen, denn er hätte wahrscheinlich alles abgestritten: Es war nur eine Klientin, nichts von Bedeutung. Was du wieder gleich denkst! Oder er hätte mich beschimpft, weil ich gelauscht hatte.
Sofia legte das Buch auf ihren Schoß und schaute aus dem Fenster. Erging es ihr nicht ähnlich? Obwohl sie keine Beweise dafür hatte, dass Marcel sie betrog, war da doch dieses Ungewisse. Warum kam er meist spät in der Nacht aus dem Büro nach Hause? Oder fuhr gleich nach dem Abendessen noch einmal in die Stadt? Er habe noch zu arbeiten, sagte er. Aber Sofia glaubte ihm nicht. Sie hatte bereits daran gedacht einen Detektiv einzuschalten. Doch auf der anderen Seite war sie sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit ertragen konnte, wenn er sie tatsächlich mit einer Anderen betrügt.
Wieder blickte sie auf das Tagebuch und las weiter:
Habe beim reinigen von Augusts Anzugsjacke, in der Brusttasche zwei alte Theaterkarten gefunden. Es ist offensichtlich, dass er mit dieser Person dort gewesen war. Ich fragte ihn, was es mit den Karten auf sich hat. Er sagte; er habe sie gefunden. Auf meine Frage; warum er sie in die Tasche steckte, erwiderte er barsch: „Du misstraust mir? Du solltest dich schämen.“ Darauf schwieg ich und fraß meinen Kummer in mich hinein. Die Angst, er könnte mit einer Anderen ein Kind haben, das ich ihm nicht gebären konnte, macht mich fast verrückt. Viele Nächte schlafe ich seither unruhig oder liege über Stunden wach in meinem Bett und grüble. Als ich dann gestern mit dunklen Schatten unter den Augen am Frühstückstisch saß und August mich erst kopfschüttelnd anblickte und dann fragte: „Warum gehst du nicht endlich zu einem Arzt?“, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich sprach ihn wieder auf die Theaterkarten an und sagte, er wäre an meinem Zustand schuld. Mit den Worten: „Du bist ja krankhaft eifersüchtig“, wies er die Anschuldigung von sich. Dann stand er auf und ging. Hätte er nur mit mir darüber geredet, hätte er doch gesagt: „Kein Grund zur Aufregung, es soll auch nicht wieder vorkommen“ und hätte er mich dabei in den Arm genommen. Ich hätte ihm verziehen. Aber er reagierte gereizt und überließ mich meinem Schicksal, deshalb vertraue ich meinen Schmerz diesen leeren Blättern an. Sie nehmen meinen Kummer schweigend auf und das tut gut. Ohne sie wäre ich hilflos und alleine.
Sofia hatte das Tagebuch wieder auf ihren Schoß gelegt und blickte abermals aus dem Fenster. Mein Gott Tante Bertha, dachte sie, was hatte sie wohl alles durchgemacht. Und in gewisser Weise gleicht es auch meinem Leben. Zwar gibt es keine Theaterkarten, eigentlich gibt es nichts Beweisbares und doch ist dieses Ungereimte um Marcel da. Ein Mann der sich immer nur mit zu viel Arbeit entschuldigt, hat etwas zu verbergen. Warum nur habe ich nie mit ihm darüber geredet oder mit Tante Bertha, bei meinem Besuch? Aber es hätte sie wahrscheinlich aufgeregt und alte Wunden aufgerissen. War schon gut, dass ich nichts gesagt habe.
Beim nächsten Aufenthalt stiegen Fahrgäste zu. Sofia gegenüber nahm ein beleibter Herr Platz, musterte sie kurz, holte eine Zeitung aus seinem Aktenkoffer und vertiefte sich darin. Sie fragte sich unwillkürlich, ob er auch so einer ist und seine Frau hintergeht? Dabei blickte sie auf die Perlmuttknöpfe seiner hellgrauen Weste, die sich über seinem Bauch wölbte. Plötzlich schaute er auf, ihre Blicke trafen sich und sie glaubte hinter diesen etwas aufreizendes, eine gewisse Lust zu erkennen. Wie begierig er sie mit seinen Augen abtastete. Sofia sah aus dem Fenster und doch konnte sie seinen Blicken nicht entrinnen. Es war, als bewegten sich unsichtbare Hände über ihren Körper. Sollte sie ihm seine Unverschämtheit ins Gesicht schleudern? Sie schaute zu ihm hin. Doch er hatte sich wieder in seine Zeitung vertieft.
Wahrscheinlich ist er ein Handlungsreisender, dessen Frau mit den halbwüchsigen Kindern zu Hause auf ihn wartete, während er die geschäftlichen Reisen zum Anlass nahm, unbedarften Frauen nachzustellen.
Wieder blickte sie auf das Tagebuch auf ihrem Schoß und sie glaubte die Tante in ihrem Stübchen genau vor sich zu sehen, wie sie an dem alten Sekretär saß und schrieb. Es roch wie immer nach Lavendel, den sie im eigenen Garten pflückte und in kleinen Leinensäckchen aufbewahrte. Nachdenklich strich sie über die engbeschriebenen Zeilen, deren sauber aneinandergereihte Buchstaben zeigten von Berthas Ordnungsliebe, alles immer am rechten Fleck zu wissen.
Ein Kuvert fiel aus dem Tagebuch auf den Boden des Zugabteils. Sofia hob es auf und sah darauf ihre Anschrift. Neugierig entnahm sie dem vergilbten Umschlag einen vor vielen Jahren geschriebenen Brief und fragte sich, warum ihn die Tante nicht absandte. Aufgeregt begann sie zu lesen, Unwesentliches und Alltägliches, aber einige Zeilen erregten ihre Aufmerksamkeit:
Weißt du noch meine liebe Sofia, wie Du eines Abends die schwarze Katze mitbrachtest. Als ich das Licht anknipste, sahst Du in ihre grünen Augen und ließest sie mit einem Aufschrei auf den Boden fallen. Weißt Du noch? Doch dann hab’ ich sie Dir wieder in den Arm gelegt und Ihr beide wurdet von diesem Moment an Freunde. Molli hast Du sie genannt und in Deinem Puppenwagen einquartiert.
Sofia schaute wieder aus dem Fenster. Sie glaubte sich genau an den nasskalten Novembertag zu erinnern, als sie von ihrer Freundin heimkehrte. Es war an diesem trüben Tag schon besonders früh dunkel geworden. Das Kätzchen saß auf den Stufen des Bahngebäudes, in dem sie damals wohnten, weil ihr Vater dort Bahnhofsvorsteher gewesen war. Sie hatte das Tier in den ersten Stock getragen, dabei nicht das Licht angemacht, weil sie fürchtete, jemand hätte sie sehen und ihr das Kätzchen wegnehmen können. Tante Bertha wollte die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage bei ihnen verbringen und war deshalb auf Besuch da. Sie knipste das Licht an und Sofia erschrak, als sie in die grünen Katzenaugen blickte. Sie sah wieder auf die Zeilen. Genau so war es damals, sie ließ das Tier mit einem Aufschrei des Erschreckens fallen. Doch die Tante nahm das verängstigte Kätzchen auf und legte es Sofia wieder in den Arm.
Es war eine schöne Zeit gewesen, mit Molli, bis zu dem Tage, an dem sie von ihren täglichen Ausflügen nicht mehr zurückkehrte. Sofia hatte nach ihr gesucht und schließlich völlig niedergeschlagen aufgegeben. Einige Tage später war sie dann zu den Bauern gelaufen um sich dort ein junges Kätzchen zu holen. Ein Landwirt hatte sie nachdenklich angeschaut und gefragt, ob sie denn auch für ein Tier sorgen könne. Sie beteuerte ihm damals, wie sehr sie Molli vermisste. Der Mann führte sie in die Scheune. „Such dir eines von diesen aus“, sagte er und wies mit der Hand auf die dicht aneinandergedrängten Kätzchen im Stroh. Voller Entzücken hob Sofia eines hoch und drückte es an sich. Unsicher fragte sie: „Ich darf es wirklich mitnehmen?“ Der Bauer nickte mit dem Kopf. „Ich schenke es dir.“
Sie wandte sich wieder dem Brief zu: Meine liebe Sofia, weißt du, wie sehr ich darunter litt, kein Kind zu bekommen? Ach, wie sehnte ich mich damals danach, als Deine Mutter schwanger wurde. Ich bildete mir die Schwangerschaft buchstäblich ein, stopfte mir ein Kissen unter den Pullover und besah mich im Spiegel, ob mir der dicke Bauch auch stand. Immer wieder war ich von Arzt zu Arzt gelaufen und hatte um Hilfe gebeten, weil ich es einfach nicht begreifen konnte, dass ausgerechnet meine Ehe kinderlos bleiben sollte.
Geliebte Sofia, es wird mir der Mut fehlen, Dir diesen Brief zu schicken. Ich habe Dir darin vielleicht meinen tiefsten Kummer anvertraut. Ja, ich bin zu weit gegangen in meinen Gedanken und Sehnsüchten. Weißt Du, ich beneidete Deine Mutter um Dich - um ihr Glück.
Bewegt faltete Sofia den Brief an den gleichen, brüchigen Stellen zusammen, schob ihn in das verblichene Kuvert und legte ihn wieder zurück in das Tagebuch, dabei wurde sie auf einen Eintrag aufmerksam: Ich war bei meiner Schwester zu Besuch. Die kleine Sofia ist ein munteres Kind. Schade, dass mir ein eigenes Kind versagt blieb. So hänge ich nun meine ganze Liebe an das Mädchen.
Sofia erinnerte sich an die Geschenke, welche die Tante bei ihren Besuchen immer mitbrachte. „Sie wird von dir verwöhnt“, hatte ihre Mutter dann gesagt. Doch Bertha erwiderte: „So gönne es mir doch.“
Sofia fiel der kleine Bahnhof ihrer Kindheit ein und sie schloss ihre Augen. In Gedanken hatte sie sich, wie so oft damals, auf der Bank unter dem alten Bahnsteigdach niedergesetzt. Sie glaubte ihren Vater vor sich zu sehen, wie er mit der roten Mütze, in der Hand die Kelle, den Bahnsteig entlang schritt und rief: „Einsteigen bitte, und die Türen schließen.“ Dann schob er die kleine, schwarze Trillerpfeife zwischen seine Lippen, ein kurzer schriller Pfiff ertönte und die Lokomotive stieß eine weiße Dampfwolke aus, die den Zug einhüllte, während er behäbig den Bahnhof verließ.
Sofia hatte inzwischen die Bank verlassen und ihre Stirn an die verrosteten Gitterstäbe des Fahrdienstraumes gepresst, um durch das Fenster zu spähen. Dort befanden sich die Signalhebel, der Telegraf, die Fahrkartenausgabe. Es war eine andere Welt gewesen für sie, eine Welt voller Geheimnisse und Sehnsüchte. Neben dem breiten Portal des Haupteinganges stand ein Blumentrog mit Efeu, welches sich bis zu den Fenstern in den ersten Stock emporrankte. Hinter diesen Fenstern hatte Sofia gespielt und gelacht und an so manchen Samstagen hinausgeschaut, ob nicht die Tante mit dem Zug ankam und sie mit ihrem Besuch überraschte. Sofia war dann hastig die Treppen hinab gerannt und hatte wiederholt gerufen: „Tante Bertha kommt!“
Wie so oft, wenn sie sentimental wurde, spürte Sofia auch jetzt diesen beklemmenden Druck auf dem Herzen. Sie dachte an die Tante. Ihr war es in den letzten Tagen nicht gut gegangen. Sofia machte sich Vorwürfe, weil sie nicht noch etwas geblieben war.
Benommen schaute sie auf, wie der beleibte Herr sich zum Aussteigen bereitmachte. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und er nickte ihr kurz zu, so als wollte er sich verabschieden.
Sofia hatte das Tagebuch wieder in ihrem Koffer verstaut. Der Zug näherte sich der Schweizer Grenze und sie prüfte mit ihrem Handspiegel ihr Make-up. Sie sah gewiss nicht wie eine Endvierzigerin aus, das hatte ihr auch die Tante gesagt. Und doch gab es bereits einige feine Fältchen, die das Leben in all den Jahren hinterlassen hatte. Marcel hatte ihr oft gesagt, wie fasziniert er war, als er sie zum ersten Male sah. Sie strich ihr schulterlanges Haar nach hinten und blickte wieder aus dem Fenster. Schneeflocken fielen träge vom wolkenverhangenen Himmel.
Gestern noch hatte sie Marcel telefonisch den Zeitpunkt ihrer Ankunft genannt. Sie war gespannt, ob er pünktlich sein konnte, oder ob er sie wieder einmal warten ließ. Wenn er wirklich eine andere hat, dann musste ihm ihre Reise sehr willkommen gewesen sein. Er hatte sie auch tatsächlich geradezu aufgefordert, zu ihrer Tante zu fahren. Und brachte ihr sogar die Fahrkarte mit.
Der Zug war endlich in dem kleinen Bahnhof eingefahren, als ein junger Mann Sofia fragte, ob er ihr behilflich sein konnte mit ihrem Gepäck. Es war wie damals, als sie Marcel zum ersten Male besuchte. Sofia sah den gleichen, scheuen Blick in den Augen des jungen Mannes. Er hob ihren Koffer über die zwei steilen Stufen des Waggons hinab auf den Bahnsteig. Sofia war immer noch attraktiv genug, um Blicke auf sich zu ziehen, das wusste sie und sie sah dem Fremden nach, wie er sich entfernte. Ihr fiel ein, wie Marcel sie oft überraschte und von hinten umarmte und ihr dabei ins Ohr flüsterte: „Schatz, ich liebe dich.“
Vergebens blickte sie sich nach ihm um. Er hatte sich verspätet, oder er hatte ihre Ankunft einfach vergessen. Bevor sie ihn aber in seinem Büro anrief, wollte sie im Bahnhofsrestaurant einige Zeit warten. Sie setzte sich ans Fenster, um ihn sofort zu sehen. Es war unglaublich, dass er nicht pünktlich sein konnte. Er wusste doch, dass sie einige Stunden unterwegs gewesen war.
Nur ab und zu wagten sich ein paar Sonnenstrahlen durch die schnell dahinziehenden Wolken und fielen auf den Bahnsteig. Reisende wurden abgeholt und herzlich begrüßt. „Wer wartet, glaubt die Zeit gehe nie vorbei“, pflegte Marcel zu sagen, wenn er wieder einmal zu spät kam. Damals, als sie heirateten hatte er gesagt: „Jede Stunde ohne dich ist verlorene Zeit für mich.“ Heute ist das genau umgekehrt. Heute verliert er seine Zeit im Büro, oder bei einer von seinen so wichtigen Besprechungen.
Ein Ober brachte Sofia den bestellten Kaffee. Sie genoss ihn Schluck für Schluck und schob dann die leere Tasse in die Mitte des Tisches, um wieder in dem Tagebuch der Tante zu lesen.
August hatte mich an seinem gestrigen Geburtstag zum Abendessen eingeladen. Ich hatte extra das neue Kleid angezogen. Als er bis zum späten Abend nichts von sich hören ließ, zog ich das Kleid wieder aus und hängte es an den Bügel und betrachtete mich im Spiegel. Selbstmitleid überkam mich. Nicht einmal Eifersucht fühlte ich. Doch etwas später kam der Zorn. Der Zorn darüber, dass ich mich für ihn schön gemacht hatte und er seine Verabredung nicht einhielt. Ich öffnete den Champagner, den ich kalt gestellt hatte. Wenn ich daran denke, wie teuer er war, ich hatte ihn extra für seinen runden Geburtstag gekauft.
Das erste Glas trank ich in einem Zug. Es tat mir gut und ich fühlte ein gewisses Wohlbehagen. Ich schenkte mir gleich noch einmal nach, dabei wusste ich, trinken war keine Lösung.
August kam kurz nach Mitternacht, und er nutzte dann auch gleich die Situation für sich aus. Er zeigte auf die leere Flasche auf dem Tisch und sagte: „Du solltest dich schämen“. Eigentlich hatte er sich zu schämen, weil er seine Einladung zum Abendessen nicht einhielt. Er war doch ganz sicher wieder bei dieser Person gewesen. Sie hatte ihn wahrscheinlich bewusst zurückgehalten, um mich zu verletzen.
In dem Augenblick, als Sofia von dem Tagebuch aufblickte, betrat Marcel das Café.
„Da bist du ja Liebling, ich habe dich gesucht!“, rief er. Er kam auf sie zu und beugte sich zu ihr herab und küsste flüchtig ihre Stirn. „Schön, dass du wieder zurück bist.“
Sofia klappte das Tagebuch zu und schob es in ihre Reisetasche, die auf dem Stuhl neben ihr stand. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr und sagte: „Ich warte schon über eine Stunde.“
„Eine wichtige Besprechung“, erwiderte er. „Ich konnte sie nicht unterbrechen, verstehst du?“
„Und ich glaubte schon, du hast mich vergessen.“
„Aber Liebling, wäre ich dann jetzt hier?“ Er sah sie mitleidig an. „Habe ich dich schon jemals vergessen?“
Aber nein doch! Nur warten musste ich, oft stundenlang, dachte Sofia.
Marcel hatte ihre Verärgerung wohl bemerkt, denn er sagte: „Ich muss meine geschäftlichen Termine einhalten, aber das habe ich dir ja immer zu erklären versucht.“ Es war wieder diese Mischung aus beleidigt sein und Vorwurf, die aus seiner Stimme klang.
Sie erreichten sein Auto und er öffnete ihr die Türe. „Wie geht es Tante Bertha?“, fragte er beiläufig.
Sofia setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie berichtete ihrem Mann von dem schlechten Zustand der Tante und dass Bertha glaube, sie werde bald sterben. Auch das Tagebuch erwähnte Sofia. Marcel schien das alles nicht wirklich zu interessieren.
Sie hatten mittlerweile die Stadt hinter sich gelassen. Sofia war in Gedanken wieder bei ihrer Tante. „Sie hat mir zu ihrem Tagebuch auch noch einige Briefe vermacht“, sagte sie und sie schaute dabei zu Marcel hinüber. Als er schwieg, fügte sie hinzu: „Sie hat auch über meine Kindheit geschrieben.“
„Werde nicht sentimental“, erwiderte er.
„Ich bin ihr dankbar für diese Aufzeichnungen.“
„So!“, entkam es ihm.
Er nahm sie nicht ernst, so war das doch immer. Also schwieg sie und blickte auf die in greifbare Nähe rückenden Berge des Säntismassives. Sofia glaubte die würzige Bergluft in dem engen Wageninneren schon riechen zu können und atmete tief ein.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Marcel.
„Ich bin glücklich, die Berge wieder zu sehen.“ Wieder schaute sie zu ihm hinüber. „Eigentlich merkwürdig“, fuhr sie fort. „Es fiel mir damals schwer, als ich nach unserer Heirat hierher kam und das Auge nicht mehr in die Ferne schweifen lassen konnte.“
„Was sagst du Liebling?“
„Aber es ist doch so, wenn der Blick an den Bergen bricht...“
„Was bricht sich...?“, fragte er.
Er hat wirklich keine Ahnung, was in mir vorgeht, sagte sich Sofia. Er kann nicht einmal zuhören. Sie dachte an die Zeit zurück, als sie sich in Zürich zum ersten Mal trafen. Es war in einem kleinen Lokal an der Limmat gewesen. Sie war zu Besuch bei Freunden. Schon nach einer Woche, als sie wieder im Odenwald zurück war, erreichte sie ein Brief von ihm. Und bald darauf besuchte er sie und sie sprachen schon über die Zukunft. Einige Wochen darauf fuhr sie zu ihm. Sie überkam damals ein einengendes Gefühl, inmitten einer so gewaltigen Natur. Aber nun liebte sie diese Berge. Es liegt in der Mentalität der Bergbewohner, sich abzukapseln, sagte sie sich und blickte auf ihn, wie er mit beiden Händen das Lenkrad umfasste. Sie glaubte die Enge in seiner Brust zu fühlen. Er hatte keinen Weitblick in seinem Denken, er war ein Gefangener seiner selbst, und deshalb beharrte er stur auf seinem Recht. Sofia war sich gewiss, seine Sturheit war abhängig von der einengenden Umgebung, die ihn von Kindesbeinen an geprägt hatte. Manchmal verglich sie ihn mit einer zerzausten Bergtanne, die sich am Fels festklammert und von dem Wenigen lebt, was der karge Boden hergibt.
Sie hatten ihr Haus erreicht, und Marcel parkte das Auto vor der Garage. Hastig stieg er aus und holte Sofias Gepäck aus dem Kofferraum.
„Ich gehe ins Haus und mache uns Kaffee“, sagte sie.
„Tut mir leid, aber ich muss gleich weg.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich bin auch bald wieder zurück.“