Читать книгу Ein verhängnisvolles Vermächtnis - Geraldine Haas - Страница 4
2
ОглавлениеSofia stand mitten in der Diele vor dem großen Wandspiegel und starrte auf ihr Spiegelbild. „Du hattest es wieder einmal viel zu eilig Marcel“, sagte sie leise. Sie hing ihren Mantel in den Garderobenschrank und setzte sich auf ihren Reisekoffer. Wieder war dieses beklemmende Gefühl da. Es kam immer dann, wenn sie nach einigen Tagen Abwesenheit der Alltag wieder einholte. Das Altgewohnte machte sie depressiv und die wolkenverhangenen Berggipfel trugen das übrige dazu bei.
Sofia wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, als sie aufstand und über die Treppen hinauf in die Küche ging. Sie brühte sich Tee und während er zog, eilte sie hinauf in ihr Arbeitszimmer im zweiten Stock. Zu Anfang ihrer Ehe, als sie noch malte, hatte sie viele Stunden hier oben verbracht. Doch Marcel hatte ihre naive Malerei belächelt und sie verlor das Interesse daran. Nachdem auch ihre Tochter nicht mehr im Hause lebte, war ihr nur noch die Hausarbeit geblieben.
Es war kalt, deshalb beschloss Sofia ins Wohnzimmer zu gehen. Sie schichtete Holz in den Kamin und bald fraß sich das Feuer knisternd in die trockenen Scheite. Dann nahm sie wieder das Tagebuch, schob einen Sessel vor den Kamin und setzte sich. Während draußen der Schnee in dichten Flocken fiel, machte sich bald in der gemütlichen Appenzeller Stube die heimelige Wärme des Kaminfeuers breit.
Sie musste wohl eingeschlafen sein, als sie plötzlich über das Schließen der Haustüre hochschreckte. Sie sprang auf und eilte hinunter in die Diele, wo Marcels Aktenkoffer mitten auf dem glänzenden Parkett stand.
„Marcel, du bist zurück?“, fragte sie.
„Dein Reisekoffer steht noch immer hier unten“, erwiderte Marcel aus dem Badezimmer.
„Ich packe ihn morgen aus“, erwiderte Sofia.
„Wenn es so weiter schneit, haben wir vielleicht doch noch weiße Weihnachten“, sagte er und kam aus dem Bad. Er hatte seine Krawatte abgelegt und die oberen zwei Knöpfe seines Hemdes geöffnet.
„Möchtest du auch eine Tasse Tee, Liebling?“
„Warum nur trinkst du ihn überhaupt? Wo du doch genau weißt, dass er deine Nervosität nur immer mehr verstärkt?“ Marcel schüttelte heftig seinen Kopf. „Ich verstehe dich nicht.“
„Ich bitte dich Marcel, übertreibe nicht“, erwiderte Sofia verärgert.
„Ich weiß, du willst es nicht hören.“ Marcel folgte seiner Frau in die Küche.
Sie nahm die Teekanne, warf ihm einen gekränkten Blick zu und leerte den Inhalt in das Spülbecken. „Bist du nun zufrieden?“ Doch Marcel schwieg. „Warum nörgelst du immer an mir herum?“, fragte Sofia. Und ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sie sich ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie nahm das Tagebuch vom Tisch und setzte sich wieder in den Sessel vor dem Kamin.
Marcel war ihr gefolgt und zeigte auf das Buch. „Was liest du?“
„Tante Berthas Tagebuch, ich habe dir doch davon erzählt.“
„Sofia, gibt es nichts Wichtigeres zu tun?“
„Ach Marcel, das hat doch bis morgen Zeit.“
„Ich verstehe dich nicht, du kommst zurück und liest in einem Tagebuch“, er schüttelte seinen Kopf.
„Aber ich bitte dich“, verärgert warf sie das Buch auf den Tisch.
Mit den Händen in den Hosentaschen stand Marcel am Fenster und wippte mit seinen Füßen, von den Sohlen auf die Zehenspitzen und zurück, wieder und wieder. Dabei hüllte er sich in Schweigen.
Sofias Nerven wurden überstrapaziert. „Kannst du nicht aufhören?“, fragte sie. Es steckte ein Klos in ihrem Hals, an dem sie zu ersticken drohte. Obwohl sie genau wusste, dass es seine Vorliebe war, sie durch Schweigen zu strafen, so deprimierend war es dann immer wieder. Sie hatte ihm das auch schon gesagt, und er hatte darauf erwidert: „Ich schweige, weil ich nicht reden kann.“
„Warum wendest du dich von mir ab und starrst hinaus in die Dunkelheit?“
„Ach was“, entfuhr es ihm. Er drehte sich zu ihr um. Sie erkannte an seinen Gesichtszügen, wie aufgewühlt er innerlich war.
Wortlos hatte Marcel sich in sein Büro zurückgezogen. Sofia warf noch einige Holzscheite in den Kamin und setzte sich. Für einen kurzen Augenblick wollte sie ihre Augen schließen. Doch als sie erwachte schlug die alte Wanduhr Mitternacht. Sie erhob sich langsam und rieb schlaftrunken ihre Augen. Dann ging sie hinaus auf den Flur. Unter Marcels Türe sah sie noch Licht. Sie fragte sich, ob sie hineingehen sollte, um ihn zu fragen, warum er noch immer an seinem Schreibtisch saß? Wahrscheinlich würde er ihr keine Beachtung schenken. Also ging sie wieder zurück und öffnete das Fenster und schaute hinaus. Die Äste der Tannen trugen schwer an der weißen Last und reichten fast bis an den Fenstersims heran. Sofia griff nach einem Zweig und schüttelte ihn. Der pulvrige Schnee staubte ins Zimmer bis zum Tisch und bedeckte dort Tante Berthas Tagebuch mit glitzernden Eiskristallen. Fröstelnd schloss Sofia das Fenster und presste ihre kalten Hände an die noch warmen Platten des Kaminofens. Sie war müde geworden und wollte schlafen gehen.
Einige Minuten verharrte sie noch vor Marcels Türe, bevor sie sich hinauf in das Schlafzimmer zurückzog. Er benahm sich ihr gegenüber höchst seltsam. Eigentlich wurde er immer unnahbarer.
Unruhig wälzte sich Sofia in ihrem Bett und träumte, Marcel habe ihr die Trennung vorgeschlagen. Schweißgebadet erwachte sie und tastete hinüber zu ihm. Sein Bett war noch immer unberührt. Der Wecker zeigte auf vier Uhr. In diesem Augenblick wurde leise die Türe geöffnet.
„Warum kommst du erst jetzt?“, fragte Sofia.
„Du bist wach?“, erwiderte er mürrisch, legte sich in sein Bett und drehte sich zur Seite. „Ich bin müde“, sagte er dabei.
Ich bin auch müde, dachte Sofia. Aber ich kann nicht schlafen. Sie starrte in die Dunkelheit. Der bohrende Gedanke an eine andere Frau neben ihm ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Es hielt sie nicht länger in ihrem Bett und sie stand auf. Langsam ging sie die Treppen hinab. Nervös strich sie sich durch ihr Haar, weil sie hatte ausgerechnet das Tagebuch auf ihrem Nachttisch liegen lassen. Sie hastete zurück, um es zu holen.
„Warum liegst du nicht in deinem Bett?“, fragte Marcel.
„Ich kann nicht schlafen“, erwiderte Sofia und sie nahm das Tagebuch an sich und wollte schon aus dem Zimmer eilen, als er hinzufügte: „Was ist an diesem Buch so faszinierend? Meinst du nicht, du übertreibst?“
Ohne zu antworten schlug Sofia die Türe hinter sich zu. Sie hastete in ihr Zimmer und setzte sich an den Tisch und schlug das Tagebuch auf und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen von ihren Wangen.
Sommer 1966, die Hochzeit von Sofia und Marcel. Der schönste Tag für meine kleine Sofia. Marcel wird ein fürsorglicher Ehemann sein, der es versteht, sie auf Händen zu tragen. Mögen sie glücklich sein, auf ihrem gemeinsamen Lebensweg.
Fürsorglich, das war er wirklich einmal gewesen. Nicht nur die Blumen, die er ihr regelmäßig mitbrachte, waren es. Er war auch sehr verständnisvoll und zärtlich damals. Aber seit dem Tage ihrer Hochzeit waren viele Jahre ins Land gezogen. Sara wurde geboren und studierte jetzt in Lausanne. Sie hatte sorglose Kinderjahre hier oben in den Bergen verbracht. Auch Marcel war hier in seinem kleinen Bergdorf groß geworden. Er hatte ein Wirtschaftstudium absolviert, bekam bei einem bedeutenden Unternehmen eine gute Anstellung, stieg nach und nach bis in die Vorstandsetage auf. Er konnte sich nie richtig in Sofia hinein fühlen. Und sein anfängliches Verständnis war nie wirklich tief. Es verflog jedenfalls mit den Jahren. Und mit der Zeit war aus der idyllischen, heilen Bergwelt ein Gefängnis geworden. Er hat mich in die Einsamkeit verbannt, mit seinem Schweigen bestraft und den sich ständig wiederholenden Erniedrigungen. Warum nur tut er das?
Die Pendule schlug acht Uhr, als Marcel herunterkam. „Was machst du denn?“ Kopfschüttelnd schaute er seine Frau an. „Nimmst du das Tagebuch nicht zu wichtig? Gib es mir, damit du wieder zur Ruhe kommst.“
„Du! Du willst es mir wegnehmen? Mir meine Erinnerungen stehlen.“
„Aber Sofia!“ Marcel schaute sie nachdenklich an. „Ich begreife dich nicht.“ In seiner Stimme war Mitleid herauszuhören. „Was ist bloß los mit dir? Du bist ja völlig verändert, seit du von deiner Tante zurück bist.“
„Glaubst du, ich verstehe dich noch?“, fragte Sofia. „So wie du dich in all den Jahren seit unserer Hochzeit verändert hast? Ich erkenne dich oft nicht wieder!“
„Eigentlich solltest du mir dankbar sein“, sagte er, ohne auf ihren Vorwurf einzugehen.
„Dankbar für was?“, fragend schaute Sofia ihren Mann an. „Für was dankbar?“
„Du hast doch alles. Schöne Kleider, Schmuck, ein wundervolles Haus, der Garten, und das alles in einer grandiosen Landschaft. Was willst du eigentlich?“
Sofia ließ ihren Kopf auf das Tagebuch sinken. „Hast du schon einmal daran gedacht, dass ich deine Nähe, dein Verständnis brauche?“, murmelte sie. „Aber du bist dir ja immer selbst der Nächste.“
„Mit dir ist wirklich nicht zu reden“, entfuhr es ihm. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann wandte er sich um und verließ das Zimmer.
Sofia saß eine Weile regungslos am Tisch, stand dann aber doch auf, um Frühstück zu machen.
Nach einigen Minuten erschien Marcel im Anzug. „Für mich nur eine Tasse Kaffee“, sagte er.
„Was? Jetzt wo ich alles hergerichtet habe! Warum sagst du mir das nicht früher?“
„Ich habe einen Termin mit einem Geschäftspartner. Aber das habe ich dir doch gestern schon gesagt.“ Hastig schlürfte er den Kaffee, wischte sich mit der Serviette über seine Lippen. „Also bis dann!“ Er fügte noch hinzu: „Ich komme erst am Abend nach Hause. Es kann spät werden.“
Fassungslos und unfähig zu erwidern, schaute Sofia ihm nach. Sie eilte ans Fenster. Marcel fuhr sein Auto aus der Garage. Er blickte nicht wie früher zu ihr herauf. Ihr schien, als bemerke er sie überhaupt nur noch in Ausnahmefällen. War sie zu leise und zu unauffällig? Sie begehrte selten auf und wenn überhaupt, dann verrauchte ihr Zorn bald wieder. Sie war kein Mensch, der Ärger und Reibereien über einen längeren Zeitraum ertrug. Das wusste Marcel.
Es war wieder diese Leere, die Sofia mutlos werden ließ. Sie saß auf dem Küchenhocker und starrte aus dem Fenster. Die kahlen Äste des Apfelbaumes im Garten schienen sich nach ihr zu recken, als flehten sie um Hilfe aus ihrem einsamen Winterschlaf. Sie lechzen nach der Wärme der ersten Frühlingssonnenstrahlen, die noch lange auf sich warten ließen. Auch Sofia wollte etwas Wärme. Das war doch nicht zu viel verlangt! Immer wieder hatte sie in den vergangenen Monaten ihren Mann gebeten, doch nicht immer so spät am Abend nach Hause zu kommen, von den Sonn- und Feiertagen ganz zu schweigen. Es hatte sich nichts geändert. Wenigstens wollte er die Weihnachtsfeiertage mit seiner Familie verbringen. Aber das auch nur, weil Sara kommen wollte. Ob er überhaupt väterliche Gefühle für seine Tochter hegte? Sara sah ihn jedenfalls nur als großzügigen Geldgeber. Dabei braucht auch sie seine Zuneigung. Auch sie fühlte sich einsam. Sie hat es oft genug angedeutet. Ob sie sich vielleicht dazu bewegen ließe, zurückzukommen? fragte sich Sofia. Vielleicht sollte sie mit Marcel darüber reden? Oder besser doch nicht! Er würde wahrscheinlich nur sagen: Ein Mensch in Saras Alter braucht Freiheit. Und damit wäre das Thema erledigt.
Sofia fehlte an diesem Morgen die innere Kraft, das Frühstücksgeschirr abzuräumen und die Hausarbeiten zu erledigen. Deshalb hastete sie in ihr Zimmer um wieder in Berthas Aufzeichnungen zu lesen.
Ich wollte mir das Leben nehmen. Aber es ist bei einem Versuch geblieben, denn ich hatte nicht den Mut. Schließlich kam mir der Gedanke, dass ich nicht wegen August und seiner Geliebten aus dem Leben scheiden durfte.
August und diese Frau treiben mich fast an den Rand des Wahnsinns. Und jetzt vor dem Weihnachtsfest bin ich immer besonders labil und verletzbar. Manchmal bin ich so weit, dass ich beide töten könnte, ja töten. Es ist ein unsagbarer Hass in mir, und dieser Hass macht mir Angst. Angst vor mir selbst.
Sofia lehnte sich bestürzt zurück. Ist es mir nicht auch schon so ergangen, dass ich Marcel unsagbar hasste? Muss ich ihn nicht hassen? Nach allem was er mir antut.
Vollkommen aufgelöst eilte Sofia hinunter ins Parterre, schlüpfte in ihren Wintermantel und die gefütterten Stiefel und rannte hinaus in die weiße Winterlandschaft. „Nur weg von dem Haus“, flüsterte sie, das mit langen, dünnen Armen nach ihr zu greifen schien. Sie hastete auf der verschneiten Bergstraße dem Dorf entgegen. Als sie den Ort erreicht hatte, fühlte sie sich befreit. Die Enge in ihrer Brust, die sie in ihrem Haus so vernichtend gequält hatte, war von ihr gewichen.
Vor dem Schaufenster eines Weinhändlers blieb Sofia stehen und drückte nach einigem Zögern die Türklinke. Sie war die einzige Kundin an diesem kalten, trüben Vormittag. Der Mann begrüßte sie freundlich und er nahm sich Zeit für sie. Das Gespräch mit ihm tat ihr gut und brachte ihr etwas Ruhe.
„Ich nehme meinem Mann zwei Flaschen von dem französischen Rotwein mit, den sie mir empfohlen haben, und noch zwei von dem Weißwein, bitte.“
Während der Weinhändler die Flaschen einpackte sagte er: „Sie haben eine hervorragende Wahl getroffen.“
Sofia dachte an Marcels Reaktion. „Wir haben genug Wein im Keller“, wird er vorwurfsvoll sagen.
Mit Tragetaschen bepackt, kam Sofia am späten Nachmittag wieder nach Hause. Sie hatte eine Menge eingekauft und es ging ihr so gut wie schon lange nicht. Sie war nicht kleinlich gewesen beim Geld ausgeben und sie hörte schon Marcels Vorwürfe. ‚Es hat mir gut getan‘, wollte sie ihm antworten.
Zu Hause hatte Sofia dann die erstandenen Dinge auf dem Esstisch ausgebreitet. Dabei fiel ihr Blick auf die Tragetasche mit den Weinflaschen. „Die habe ich für dich mitgebracht mein Guter“, sagte sie. Sie schaute dabei auf die Türe, so als käme ihr Mann eben dort herein. „Nimm Platz und stoße mit mir an!“ Sie machte eine einladende Handbewegung. Mit dem Korkenzieher öffnete sie eine der Flaschen und füllte zwei Weingläser. „Auf dein Wohl und auf gute Geschäfte, mein lieber Marcel!“, rief sie. Sie setzte das Glas an ihre Lippen und leerte es hastig. „Hat es dir geschmeckt?“, fragte sie und sie nahm das andere Glas und trank es auch leer. Dabei musste sie lachen. Es war ein fröhliches Lachen. „Ich sehe, du hast schon leer!“, rief sie. Sie schenkte nach. „Die Einsamkeit ist gar nicht so unerträglich, wenn man sie zu bekämpfen weiß. So ist es doch, Liebling!“ Sofia schaute sich um. „Habe ich keinen Champagner kaltgestellt?“, fragte sie. „Ach, es gibt ja auch nichts zu feiern. Doch deswegen lassen wir uns unsere gute Laune nicht verderben, Liebster.“