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Einleitung

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Die in diesem Band erstmals oder erneut publizierten Arbeiten des Verfassers gewinnen ihren inneren Zusammenhang durch einige zentrale Themen und Fragestellungen, denen alle Beiträge verpflichtet sind. Hilfreich und notwendig scheint es daher, diese eingangs anzusprechen und sie in den Kontext bisheriger Forschungsbemühungen zu stellen.

In mehreren Beiträgen wird Konfliktforschung betrieben. Es geht um Techniken und Charakteristika der Konfliktführung im frühen und hohen Mittelalter. Thematisiert wird hiermit ein Problemfeld, das wie wenige andere das Bild der Moderne vom Mittelalter prägte. Diese Prägung ging allerdings in eine Richtung, die von der in den folgenden Beiträgen erarbeiteten deutlich unterschieden ist. Ob man diese Zeit nun „barbarisch“, „eisern“, „bleiern“ oder „finster“ nannte, mit solch negativen Bewertungen zielte man immer auch auf eine geradezu hemmungslose Gewaltbereitschaft, die ein Charakteristikum dieser Zeit gewesen sei.1 Dieses Klischee vom „fehdefreudigen“ Mittelalter verabsolutiert jedoch unzulässig die unbestreitbare Tatsache, daß im Mittelalter die Schwelle zur Anwendung von Waffengewalt sehr niedrig war und kein staatliches Gewaltmonopol existierte. Es gab in dieser Zeit nämlich ein ganzes Regelwerk, das die Funktion hatte, die Eskalation von Konflikten zu vermeiden und den Frieden wiederherzustellen. Dieses Regelwerk lag wohl deshalb im Schatten des Interesses, weil es sich um Verfahren und Verhaltensmuster handelte, die sich nicht in die traditionelle Sicht vom „Staat“ des Mittelalters einpassen ließen. Die Eigenart dieses Regelwerks und seine praktische Leistung wird in den Arbeiten des ersten Hauptteils aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben.

Die Analyse von Konfliktabläufen führte fast notwendig zu einem zweiten Fragenkomplex, zur allgemeineren Frage nach der Funktionsweise mittelalterlicher Herrschafts- und Lebensordnungen, die ganz wesentlich eine Frage nach den Eigenarten der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters ist. So wie die Konfliktführung nach einem festliegenden Regelwerk vonstatten ging, so gab es in der mittelalterlichen Ordnung auch für andere Bereiche der Interaktion und Kommunikation Normen, Regeln und Gewohnheiten, die das Funktionieren dieser Ordnungen gewährleisteten. Die Regeln der Konfliktführung bildeten nur einen, wenn auch sehr wichtigen Teil dieses Gesamtsystems. Für heutige Betrachter, die daran gewöhnt sind, daß der moderne Staat durch seine Gesetze die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens vorgibt und durch seine Institutionen ihre Einhaltung einfordert, ist es nicht leicht, das Funktionieren dieses Systems im Mittelalter zu verstehen, das unter anderen Bedingungen stand. Daraus erklärt sich nicht zuletzt, daß man den mittelalterlichen Staat lange wie einen modernen beschrieben hat. Gerichtsverfassung, Gesetzgebung, Ämterorganisation und Institutionen des mittelalterlichen Staates sind mit Akribie und Energie von verschiedenen Disziplinen erforscht worden – und nur langsam wuchs die Einsicht, daß eigentlich alle diese Begriffe zur Beschreibung der mittelalterlichen Verhältnisse wenig angemessen sind.2 Wesentliches kommt aus dieser Perspektive überdies gar nicht in den Blick: etwa die Formen und Verfahren politischer Willensbildung, die Formen öffentlichen und vertraulichen Umgangs miteinander, wie sie auf der unablässigen Folge von Hoftagen praktiziert wurden, auf denen sich mittelalterliche Herrschaft recht eigentlich realisierte. Auch wenn es eine für uns durchaus fremde Art und Weise ist, wie auf solchen Hoftagen Politik gemacht, Entscheidungen gefällt und Einfluß ausgeübt wurde; sie war keineswegs regellos. Vielmehr wurden Regeln beachtet, die auf Rang und Ehre basierten, die Kommunikation auf Grund von Verwandtschaft und Freundschaft erlaubten, die das Prinzip der gegenseitigen Unterstützung (do-ut-des) beachteten und vieles andere mehr. Es waren Regeln einer Gesellschaft, in der staatliche Strukturen und Institutionen das Zusammenleben noch nicht dominierten. Zum Verständnis der mittelalterlichen Verhältnisse scheint es daher dringend nötig, sich mit all den Regeln und Normen auseinanderzusetzen, die das Verhalten mittelalterlicher Menschen gerade in der politischen Öffentlichkeit bestimmten. Sie beanspruchten, obgleich sie nicht oder erst spät schriftlich fixiert wurden, durchaus eine Gesetzen vergleichbare Verbindlichkeit. Es waren „ungeschriebene Gesetze“. Mit ihnen beschäftigt sich der zweite Hauptteil des Buches.

Hauptgegenstand aller vorgelegten Untersuchungen zur Konfliktführung und Kommunikation sind die Herrschaftsverbände des frühen und hohen Mittelalters – also Personenverbände um den König, die ganz wesentlich aus den weltlichen und geistlichen Großen gebildet wurden. Begründet ist dies einmal ganz pragmatisch in der Überlieferungssituation, denn das Kräftespiel von König und Großen fand in allen Jahrhunderten der mittelalterlichen Geschichte reichen Niederschlag in den verschiedensten Quellen und Quellengattungen. Untersucht wurden die Verhältnisse im fränkisch-deutschen Reich, die durch ein sehr spezifisches Zusammenwirken von König, Adel und Kirche charakterisiert sind. Ob die auf dieser Basis entwickelten Modellvorstellungen auch für andere Reiche gültig sind, in denen dieses Zusammenwirken anders gestaltet war, wird zukünftig zu prüfen sein. Damit stehen die Arbeiten auf den ersten Blick gewiß in einer langen Tradition verfassungsgeschichtlicher Forschungen, wie sie namentlich für die deutsche Mediävistik charakteristisch waren und sind.3 Sie setzen diese Tradition – wie aus dem bisher Gesagten schon deutlich sein dürfte – allerdings nicht bruchlos fort, sondern brechen eher mit dieser Tradition. Unter anderem versuchen sie die deutlich anachronistische Perspektive zu vermeiden, die die ältere verfassungsgeschichtliche Forschung nicht zuletzt dadurch einnahm, daß sie in der nationalen Geschichte des Mittelalters Antworten für Probleme ihrer jeweiligen Gegenwart suchte. Aus dieser Perspektive resultierten nämlich Konsequenzen, die beträchtlich waren. Auf den allgemeinsten Nenner gebracht lauten sie so: Der Blick für die Andersartigkeit der mittelalterlichen Verhältnisse ging verloren bzw. stellte sich erst gar nicht ein. Man hat das mittelalterliche Reich wie einen modernen Staat aufgefaßt und dementsprechend analysiert. Stärken und Schwächen, die man fand, Lob und Tadel, die man an die Akteure verteilte, orientierten sich an den gleichen Kategorien, die für die Gegenwart galten. Da sich die folgenden Beiträge also implizit oder explizit gegen diese traditionelle, aber teilweise bis heute herrschende Auffassung von den Funktionsweisen des mittelalterlichen Staates richten, seien hier einige grundsätzliche Überlegungen zu dieser speziell deutschen Forschungstradition und ihren Bedingungen angestellt.

Das Interesse verfassungsgeschichtlicher Bemühungen der deutschen Mediävistik des 19. und 20. Jahrhunderts richtete sich zumeist in ganz außergewöhnlicher Weise auf das Königtum, die Zentralgewalt. Diese wurde als eine ursprünglich machtvolle Institution beschrieben, auf der die Dominanz des deutschen Reiches gegenüber anderen Völkern des nachkarolingischen Europas gründete. „Vor- und Ordnungsmacht“ in Europa gewesen zu sein war die Botschaft, die die „deutsche Kaiserzeit“ des Mittelalters, die bis zum „Untergang“ der Staufer reichte, dem 19. und 20. Jahrhundert verkündete.4 Es ist ganz unzweifelhaft, daß nationale Sehnsüchte, Hoffnungen und Enttäuschungen der jeweiligen Gegenwart die Sicht auf die mittelalterlichen Jahrhunderte entscheidend prägten – sie als goldene Vergangenheit idealisierten. Um die Wiedererrichtung dieser Zentralgewalt ging es ja nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts; um die Wiedergewinnung der vermeintlichen Macht im 20. Jahrhundert. Folgerichtig und gewollt entfachte dieses Bild vom Mittelalter nationale Begeisterung und entfaltete, als „Erbe und Auftrag“ verstanden, motivierende Kraft. Die Botschaft, die die mittelalterliche Geschichte, so dargeboten, den Deutschen verkündete, lautete etwa im Hinblick auf die Zeit Ottos des Großen, daß „Deutschland an der Spitze der Völker dieser Erde stand und kein anderer Staat es mit ihm an Jugendkraft, Machtentfaltung, Zielsicherheit und geistiger Regsamkeit aufnehmen konnte“.5 Mit dieser Sicht von der Spitzenstellung Deutschlands am Beginn seiner Geschichte hängt eine andere Eigenart des deutschen Geschichtsbildes vom Mittelalter eng zusammen: Man beschrieb die deutsche Geschichte des Mittelalters als eine Geschichte des Verfalls. Der Weg führte von den „umglänzten Höhen“ der Kaisermacht in die „dumpfe Enge“ der deutschen Kleinstaaten. Der Partikularismus und die Eigensucht der Fürsten wie die Politik der Kirche und insbesondere des Papsttums hätten den deutschen Königen und Kaisern nach und nach ihre Machtgrundlagen entzogen, lautete der zentrale Vorwurf, der – von der Fachwissenschaft erarbeitet – das öffentliche Geschichtsbewußtsein nachhaltig prägte.6

Ein bißchen überspitzt kann man sagen, die deutsche Mediävistik war lange Zeit entschieden royalistisch. Sie schrieb die Geschichte des Mittelalters aus der Perspektive, daß eine starke Zentralgewalt im ureigensten Interesse des deutschen Volkes gelegen habe, hierbei häufig implizit voraussetzend, daß diese natürlichen Interessen durch die Jahrhunderte keinen Veränderungen unterworfen waren. Ob Macht und Machtausübung im 8., 10. oder 12. Jahrhundert überhaupt das gleiche beinhalteten wie im 19. und 20. Jahrhundert, hat man nicht gefragt. Die theoretisch ab einem bestimmten Zeitraum durchaus vorhandene Kenntnis von der Unterschiedlichkeit traditioneller und moderner Herrschaftsformen blieb für die politische Geschichte des Mittelalters und ihre Bewertung so eher folgenlos.7

Erst langsam, dann aber mit stetig steigendem Tempo, hat sich die moderne Mediävistik von solchen Vorstellungshorizonten und Fixierungen gelöst. Dieser Prozeß ist bis heute im Gange, und die hier vorgelegten Arbeiten sind ein Teil dieses Prozesses. Erfolgreich hinterfragt wurde zunächst die Staatlichkeit des mittelalterlichen Staates. Die in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts aufgekommene Formel vom „Personenverbandstaat“ (Th. Mayer), die der Tatsache Rechnung trug, daß verschiedenste Personenverbände in diesem Staat neben- und gegeneinander agierten, markiert wohl den Ausgang dieser Entwicklung, auch wenn sie gleichfalls deutlich zeitgebunden war.8 Personen- und Gruppenforschung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg auf den verschiedensten Feldern betrieben wurde, verbreitete die Kenntnis über die politisch relevanten Kräfte, lenkte den Blick auf die Vielfalt dieser Kräfte und thematisierte in neuer Weise die Grundlagen des Zusammenwirkens von Königtum, Adel und Kirche.9 Ganz gewiß schärften auch die Kontroversen um mittelalterliche Ämterorganisation und Amtsauffassung, ausgetragen etwa am Beispiel der Grafschaft oder des Herzogtums, den Blick für die Andersartigkeit des mittelalterlichen Staates.10 Neue Impulse gingen von der Diskussion aus, welchen Stellenwert Gesetze und Gesetzgebung, besser gesagt alle Arten normativer Texte im Mittelalter eigentlich hatten, die die ebenso ernüchternde wie heilsame Einsicht erbrachte, daß die Normen in vielerlei Hinsicht ein Eigenleben führten und die Wirklichkeit keinesfalls in ähnlicher Weise prägten, wie es die Gesetze moderner Staaten tun oder zumindest versuchen.11

In diesen Diskussionszusammenhang gehören auch die vorgelegten Arbeiten zur mittelalterlichen Konfliktführung. Sie unterscheiden sich in Methodik und Fragestellung in mehrfacher Hinsicht von den zahlreichen älteren Arbeiten zu Gewalt, Fehde und Frieden.12 Zunächst einmal ist die vorrangige Quellenbasis der Arbeiten die Historiographie. Aus den verschiedensten Bereichen der Geschichtsschreibung wurden Normen und Regeln von Konfliktabläufen wie der Technik ihrer Beilegung gewonnen und auf diesem Wege ein Modell von solchen Abläufen entwickelt, das mit jedem neuen Bericht überprüft, differenziert, verifiziert oder falsifiziert werden kann. Dieser Zugang unterscheidet sich namentlich von rechtshistorischen Arbeiten, die vornehmlich normative, manchmal auch urkundliche Texte heranzogen.13 Der selektive Zugriff auf die verfügbaren Quellen, wie er rechtshistorisch orientierten Arbeiten eigen ist, hatte eine gravierende Konsequenz: Da es zwischen den karolingischen Kapitularien und dem Sachsenspiegel so gut wie keine normativen Texte gibt, denen man das Attribut mittelalterlicher Gesetzgebung zubilligen könnte, kamen die Verhältnisse des 10. bis 13. Jahrhunderts gar nicht genauer ins Blickfeld. Die Herrschaft der Karolinger, namentlich Karls des Großen, bildete jedoch keinesfalls den Beginn einer linearen Entwicklung, sondern brachte auf allen Gebieten mittelalterlicher Staatlichkeit einen Modernisierungsschub, für den die Zeit in verschiedenster Hinsicht nicht reif war und der deshalb abgebrochen worden ist. Dies manifestierte nicht nur die Krise des Karolingerreiches, sondern auch der Neubeginn des 10. Jahrhunderts, bei dem an die frühkarolingische Staatlichkeit gerade nicht angeknüpft wurde. Die im 10. Jahrhundert praktizierten Herrschaftsformen waren in vielem archaischer als die der Zeit Karls des Großen; dennoch markieren sie die Ausgangspunkte vieler Entwicklungen des Hoch- und Spätmittelalters.14 Gerade an den von den Führungsschichten beobachteten Regeln der Konfliktaustragung läßt sich dies nachdrücklich erweisen.

Neben dem Interesse für normative Texte konzentrierte man sich in historischen wie rechtshistorischen Arbeiten stark auf die Tätigkeit der Gerichte, namentlich das Königsgericht, dem nach herrschender Meinung eine zentrale Rolle auch und gerade im Falle von Konflikten in den Führungsschichten zukam. Heinrich Mitteis’ Studie über die „politischen Prozesse“, die jüngere Arbeit von Adelheid Krah über „Absetzungsverfahren als Spiegelbild der Königsmacht“ und die jüngste Abhandlung von Friedrich Battenberg über „Herrschaft und Verfahren“ seien stellvertretend für diese Perspektive genannt.15 Diese Arbeiten und viele andere vermitteln den Eindruck, als seien Konflikte im Mittelalter vorrangig durch Gerichtsurteile entschieden worden. Die zeitgenössischen Historiographen setzen dagegen ganz andere Schwerpunkte. Vorherrschend aus ihrer Sicht war die Technik gütlicher Bereinigung von Konflikten. Für diese sorgten Vermittler (mediatores), die in Verhandlungen mit den Parteien um einen gütlichen Ausgleich (compositio) bemüht waren, in dem durch Genugtuung (satisfactio) der Konfliktgrund aus der Welt geschafft wurde.16 Wenig vermag das Vorstaatliche der Herrschaftsorganisation der ottonischen, salischen und auch noch staufischen Könige besser einsichtig zu machen als die Tatsache, daß die Könige gleichfalls den Weisungen dieser Vermittler unterworfen waren, wenn sie sich in Konflikten mit Angehörigen ihres Herrschaftsverbandes befanden. Es gehört daher zu den dringenden Aufgaben modern betriebener mittelalterlicher Verfassungsgeschichte, dieses „Institut“ des Vermittlers gerade in Konflikten der Führungsschichten eingehender zu erforschen.

Nachhaltig ist allerdings auch darauf hinzuweisen, daß gütliche Konfliktbeilegung durch Vermittlung der internationalen Mediävistik durchaus kein unbekannter Vorgang ist. Die hier vorgelegten Arbeiten entdeckten vielmehr in den mittelalterlichen Herrschaftsverbänden des deutschen Reiches und ihren Konflikten die Existenz einer „Institution“, die uns aus anderen Bereichen der mittelalterlichen Geschichte bereits wohlvertraut war. Namentlich französische und amerikanische Mediävisten erkannten vor einigen Jahrzehnten, daß bestimmte Konflikte in Frankreich im 10. und 11. Jahrhundert nicht in erster Linie durch Gerichtsurteile, sondern durch Vermittlung einer gütlichen Einigung entschieden wurden.17 Es handelte sich vor allem um Konflikte um Eigentums-, Grenz- und Nutzungsfragen, die unter Laien oder zwischen Laien und Klöstern ausgetragen wurden. Sie fanden vornehmlich in den Cartularen der Klöster Erwähnung, die die Entscheidung aufzeichnen ließen und dabei häufig auch Konfliktursache und -verlauf ansprachen. Trotz der in mehreren Einzelstudien festgestellten Unterschiede zwischen süd- und nordfranzösischen Verhältnissen wird man konstatieren dürfen, daß die dortigen Befunde denen sehr vergleichbar sind, die in den hier vorgelegten Arbeiten erzielt wurden. Die Nutzung des Instituts der Vermittlung ist mit anderen Worten unterschiedlichen mittelalterlichen Regionen ebenso gemein wie unterschiedlichen sozialen Schichten und unterschiedlichen Konflikttypen.

Diese Einschätzung wird weiter gestützt durch die Tatsache, daß frappierend ähnliche Vorgänge und Verhältnisse auch für den Bereich der isländischen Gesellschaft festgestellt wurden, wie sie auf der Quellengrundlage der isländischen Sagas rekonstruiert werden können.18 Trotz aller bestehender Unterschiede – etwa dem Fehlen eines Adels in Island – läßt sich festhalten, daß auch in Island Konfliktlösung durch Vermittlung in allen Streitigkeiten ihren festen Platz hatte und daß die Regeln, nach denen die Vermittler tätig wurden und denen ihre Entscheidungen verpflichtet waren, den auf dem Kontinent gültigen in vielfacher Hinsicht ähnlich waren.

Diese Befunde dürften einen Teil ihres überraschenden Charakters verlieren, wenn man einschlägige Untersuchungen der Rechtsethnologie zur Kenntnis nimmt: Die an außereuropäischen, sogenannten primitiven Gesellschaften gewonnenen Kenntnisse über die Bedeutung der Konfliktlösung durch Vermittlung lesen sich über weite Strecken wie eine Beschreibung mittelalterlicher Verhältnisse auf diesem Gebiet.19 Trotz aller gebotenen Vorsicht bei der Generalisierung wird man daher formulieren können: Die mittelalterlichen Herrschaftsordnungen nutzten mindestens bis ins 13. Jahrhundert hinein Praktiken zur Konfliktbeendigung, wie sie sich – gewiß unabhängig – auch in ganz anderen Kulturen etabliert hatten, die auf einer vorstaatlichen Stufe menschlichen Zusammenlebens standen. Insofern bieten die hier vorgelegten Beiträge reichlich Stoff und Anlaß, die Bedeutung der Konfliktmittler und ihre verfassungsgeschichtlichen Konsequenzen zu überdenken und neu nach dem Wesen der Königsherrschaft, der Stellung der Gerichte und anderem zu fragen.

Die Berücksichtigung der Historiographie bei der Erforschung mittelalterlicher Konflikte schärfte aber nicht nur den Blick für die Tätigkeit der Vermittler, sie ermöglichte auch Einsichten in Charakteristika der Austragung, die normative Quellen so nicht bieten. Zusammengefaßt erlauben sie die Einschätzung: Die Führungsschichten beobachteten bei ihrer Konfliktführung ein verbindliches, differenziertes Regelwerk, das darauf angelegt war, unnötiges Blutvergießen zu verhindern. Alle Seiten kannten und nutzten die Technik der Drohgebärde und der kalkulierten Eskalation wie eine Technik des Einlenkens unter Wahrung des Gesichts und der Ehre. Eine Vielzahl ausgesprochen rationaler Züge der Konfliktaustragung hatte die Funktion, ein Ausufern der Kämpfe zu verhindern. Hierzu gehörte etwa die weitverbreitete Praxis, eine belagerte Burg gegen freien Abzug zu übergeben;20 die Zerstörung einer Burg nur symbolisch durch das Einreißen einer Mauer durchzuführen;21 sich in der Auseinandersetzung gefangennehmen zu lassen und Lösegeld zu zahlen;22 sich nur deshalb dem Heer eines Fehdeführenden anzuschließen, um als Vermittler vor Ort zu sein, und anderes mehr.23 So bedarf die Einschätzung des „fehdefreudigen“ Mittelalters dringend der Differenzierung und Ergänzung. Die Gefährdungen, denen sich die mittelalterliche Gesellschaft durch die niedrige Gewaltschwelle ausgesetzt sah, wurden zumindest teilweise kompensiert durch sehr verbindliche Regeln, die die Anwendung von Waffengewalt in kontrollierte Bahnen lenkten und begrenzten. Bedacht werden muß allerdings, daß solche Regeln in erster Linie oder ausschließlich den Führungsschichten selbst zugute kamen. Wehr- und waffenlose Bauern und Leibeigene waren lange Zeit der Willkür gegnerischer Krieger schutzlos ausgeliefert.24

Die Beobachtung, daß Verhalten in Konflikten nicht selten eher demonstrativ-rituellen Charakter hatte, leitet über zu den Arbeiten des zweiten Hauptteils, in denen Charakteristika mittelalterlicher Kommunikation thematisiert werden. Diese war nämlich in weiten Teilen demonstrativ-ritueller Natur, und diese Einsicht ist eine Grundvoraussetzung für das Verständnis vieler öffentlicher Geschehnisse. Gegenstand der Untersuchungen sind auch hier die Verhältnisse in den mittelalterlichen Führungsschichten, die Interaktionen zwischen König und Großen und das ihnen eigene Regelwerk. Die Quellenbasis lieferte wieder die Historiographie, die gerade über Geschehen aus diesen Bereichen berichtet. Die Vermutung hat jedoch einiges für sich, daß die hier beobachteten Normen und Gewohnheiten auch in anderen Bereichen der mittelalterlichen Gesellschaft beachtet wurden, auch wenn die Quellen keine vergleichbaren Einblicke gewähren. Zwei wesentliche Felder der Kommunikation versuchen alle Beiträge zu unterscheiden und in ihrer Eigenart zu erhellen: erstens die Phase der Willensbildung, die durch Vertraulichkeit und die entsprechenden Techniken der Kommunikation gekennzeichnet ist, und zweitens die Phase der Veröffentlichung von Entscheidungen, durch die eine spezifisch mittelalterliche Öffentlichkeit über Sachverhalte in sehr charakteristischer Weise in Kenntnis gesetzt wurde.25 Hier dominierten demonstrative Verhaltensweisen, Rituale und Inszenierungen – es wurde mehr gezeigt als geredet. Doch handelte es sich um alles andere als leere Schauspiele. Öffentlich gezeigtes Verhalten verpflichtete, und dies war die vorrangige Funktion der inszenierten Haupt- und Staatsaktionen des Mittelalters.

Zum Zeichen konnte in dieser öffentlichen Kommunikation nahezu alles werden: die Kleidung, die Geste, sogar die Emotion. Die Zeichen transportierten rationale Botschaften und klärten etwa Rangfragen, Fragen des Einvernehmens oder Dissenses. Sie boten den Teilnehmern dieser Kommunikation vielerlei Möglichkeiten der Ankündigung, der Warnung oder der Selbstvergewisserung und stabilisierten so eine Ordnung nicht unerheblich, in der aus Rang- und Prestigegründen Situationen der offenen Kontroverse nicht beherrschbar waren.

Der Begriff Inszenierung markiert einen Schlüsselbegriff für das Verständnis vieler einschlägiger Ereignisse in dieser Öffentlichkeit. Von den Akten der Königserhebung über die Huldigung und Investitur bis zum Unterwerfungsakt, von den Ritualen der Begrüßung und des Abschieds bis zum rituellen Mahl und höfischen Fest, von der demonstrativen Ehrung bis zur gleichfalls demonstrativen Mißachtung oder Provokation gilt es eine Fülle von demonstrativ-rituellen Verhaltensweisen zur Kenntnis zu nehmen und ihren Stellenwert für das Funktionieren des politischen Systems des Mittelalters zu erkennen. Man benutzte festliegende Verhaltensmuster, deren Aussagegehalt bekannt war. Auch ohne langwierige Absprachen über Details war man auf diese Weise in der Lage, öffentliche Auftritte von Herrschern und Großen zu inszenieren, so lange sich alle an die Spielregeln hielten. Neben und teilweise anstelle der Sprache praktizierten die Führungsschichten Formen differenzierter nonverbaler Kommunikation, die eine wichtige Aufgabe erfüllten. Sie informierten permanent über den jeweiligen Stand der Beziehungen, signalisierten ungetrübte Verhältnisse ebenso wie aufkeimenden Dissens. Durch Verhalten, Zeichen und Gesten war man in der Lage, die Rangordnung einer Gruppe zu verdeutlichen und tat dies durch die Sitzordnung, beim Einzug in die Kirche oder durch Geschenke. Es gab ein ganzes Arsenal von Zeichen für Über- wie für Unterordnung oder auch für Gleichrangigkeit. Jeder, der solche Zeichen zu deuten verstand – und diese Fähigkeit war eine elementare Voraussetzung für jeden öffentlichen Auftritt –, wußte bereits viel über sein Gegenüber, ohne daß dieser ein Wort sagen mußte. An der Zahl der Begleiter, der Ausrüstung, der Pracht erkannte er den Rang der anderen, an ihren Mienen und Gesten ihr Verhältnis zu sich oder anderen. Eine Fülle von Aktivitäten hatte bei jeder Begegnung die Funktion zu unterstreichen, daß die Beziehungen intakt waren: die Ehrung bei der Begrüßung, das Mahl, die Geselligkeit bei Spiel oder Jagd, der Abschied mit Geschenken. Dergestalt rituelle Kommunikation bewirkte eine stete Selbstvergewisserung der Beteiligten über ihre Beziehungen; sie begründete aber auch die Verpflichtung, sich dem Gezeigten gemäß zu verhalten und trug so nicht unwesentlich zur Stabilisierung der Ordnungen bei. Zur Signalfunktion, die solch demonstratives Verhalten hatte, trat also eine Kontrollfunktion der Öffentlichkeit, die die Einhaltung des Gezeigten erwartete. Diese Öffentlichkeit rekrutierte sich aus den Mitgliedern der Führungsschichten selbst sowie aus ihren Vasallen und Gefolgsleuten, die ihre Begleitung bildeten. Insofern unterscheidet sie sich von dem, was wir unter moderner Öffentlichkeit verstehen, nicht unerheblich.

Aufmerksam geworden ist die bisherige Forschung auf dieses weite Feld öffentlicher Kommunikation vor allem unter dem Stichwort der Herrschaftsrepräsentation.26 Von diesen Grundlagen profitieren die vorgelegten Untersuchungen vielfältig. An dieser Stelle ist jedoch nachhaltig darauf aufmerksam zu machen, daß man gern neben dem Felde der Repräsentation das Feld der „richtigen“ Politik, der Machtausübung ansiedelte. Gegen solches Trennungsdenken sei hier zumindest die Frage gestellt, ob die Machtausübung mittelalterlicher Könige und gewiß auch anderer Herren nicht ganz wesentlich aus solchen Akten der Repräsentation bestand. Die angedeuteten Regeln der Kommunikation zielten ja auf eine permanente demonstrative Anerkennung der Ordnung. Sie bewirkten einen beträchtlichen Zwang zum „Mitspielen“, anderweitiges Verhalten bedeutete ein „Aus-der-Rolle-Fallen“, eine Störung dieser Ordnung. Durchdenkt man die Konsequenzen dieses Kommunikationsstils, so fällt es nicht schwer zu erkennen, wieviel Machtausübung mit ihm verbunden war. Man mußte mitspielen. Wer dazugehören, Einfluß entfalten oder behalten wollte, war im Rahmen der Herrschaftsrepräsentation zu einem Verhalten verpflichtet, das die bestehende Ordnung demonstrativ anerkannte. So nimmt es nicht wunder, daß Opposition und Dissens in der Regel bereits dadurch zum Ausdruck kamen, daß man den persönlichen Kontakt, etwa ein Erscheinen auf Hoftagen, vermied, um nicht Verhalten zeigen zu müssen, zu dem man nicht bereit war. Auf der anderen Seite gewinnen aus dieser Perspektive natürlich die Fälle an Interesse, in denen Akte der Repräsentation bewußt gestört wurden. Zur generellen Charakteristik der mittelalterlichen Kommunikationsregeln gehört daher wesentlich folgendes: Sie waren sehr, nahezu ausschließlich am Rang der Agierenden orientiert, gaben den Ranghöchsten viele Trümpfe in die Hand, da das Ranggefüge permanent zur Darstellung gebracht wurde und so anerkannt werden mußte. Überraschungen und spontane Handlungen schlossen die Regeln dagegen weitgehend aus, da sie vertrauliche Klärungen zwingend vorschrieben, ehe es zu öffentlichen Auftritten kam.

Die Beschreibung der Konflikte wie der Kommunikationsgewohnheiten in der zeitgenössischen Historiographie vermittelt nachdrücklich, wie andersartig und teilweise fremd uns die praktizierten Regeln und Gewohnheiten sind. Dies hängt ganz gewiß damit zusammen, daß wir auf Funktionsweisen des modernen Staates fixiert sind, auf Ämterhierarchie und Instanzenzüge. Solche Fixierungen verstellen jedoch den Weg zum Verständnis der mittelalterlichen Verhältnisse. In welchem Ausmaß, wollen die folgenden Beiträge zeigen.

Doch nur auf den ersten Blick sollte das hier vorgestellte Mittelalter ein vollständig fremdes sein. Auch im modernen Staat findet bekanntlich der Konfliktmittler die verschiedensten Arbeitsfelder, auf denen er unverzichtbar zu sein scheint. Und diese Felder vermehren sich gerade in jüngster Zeit.27 Mehr Analogien noch als auf dem Felde der Konfliktaustragung lassen sich aber bei unseren Kommunikationsgewohnheiten diagnostizieren. Auch wir etablieren in den verschiedensten Lebensordnungen gerne die vertrauliche Ebene der Vorklärung und Willensbildung trotz aller Versuche einer kritischen Öffentlichkeit, in diese hineinzuleuchten. Gewiß sind alle Phänomene auf diesem Felde, wie „Telefondiplomatie“, „Vitamin B“, „Seilschaften“ oder „Amigo-Verhältnisse“, im öffentlichen Bewußtsein pejorativ besetzt, die Verhaltensweisen nichtsdestotrotz häufig sehr „mittelalterlich“. Ganz ähnliches gilt für die Bereiche der Inszenierungen und der demonstrativ-rituellen Verhaltensweisen. Auch wir nutzen Statussymbole, Körpersprache oder andere nonverbale Zeichen zur Bekanntgabe unseres Ranges und unserer Bedeutung, erfahren hierbei von anderen Ehrungen wie Kränkungen – und sind für erstere empfänglich. Die Spielregeln auf diesen Feldern zu verletzen zeitigt zwar keine strafrechtlichen Sanktionen, kann aber der Karriere oder dem Prestige durchaus nachhaltig schaden. Umgangssprachliche Wendungen wie „eine Hand wäscht die andere“ oder „kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ weisen auf die Gültigkeit von Verhaltensmustern, die schon in mittelalterlicher und älterer Kommunikation zu beobachten waren. Auch wir inszenieren nicht nur in der Politik unsere Auftritte in der Öffentlichkeit und verschleiern dabei gern die Tatsache der Inszenierung. Es mag mit diesen Hinweisen sein Bewenden haben, doch gewinnen die hier diskutierten Spielregeln nicht zuletzt dadurch an Interesse, daß nicht wenige von ihnen mutatis mutandis auch noch heute Beachtung finden.

Wissenschaftliches Neuland betritt man in aller Regel nicht ohne Fehler. Dies ist auch bei den hier vorgelegten Arbeiten gewiß der Fall. Dennoch verbot sich aus verschiedenen Gründen der Versuch, bereits erkannte Überzeichnungen und Fehleinschätzungen einzeln zu korrigieren. Die Arbeiten sind – soweit schon publiziert – nur durch formale Straffung der Anmerkungen verändert worden. Einige der problematischen Wertungen und offenen Fragen seien daher hier angesprochen, um so aufmerksam zu machen auf Probleme, die genauerer Erforschung bedürfen. Mit diesen Hinweisen soll allerdings nicht behauptet werden, alles andere hielte jeder kritischen Überprüfung stand oder bedürfe ihr schon nicht mehr. Für jedes Gesamturteil über die Technik gütlicher Konfliktbeilegung höchst wichtig ist die Frage, welche Verbindlichkeit solche compositiones beanspruchten, worauf diese gründete, wer sie garantierte und welche Konsequenzen es hatte, wenn ein gütlich beigelegter Konflikt wieder aufbrach. Meine Antworten auf diese Fragen sind unterschiedlich ausgefallen. So ist nicht zufällig in der ersten Arbeit über die Thematik die Meinung vertreten worden, eine compositio durch das Ritual der Unterwerfung habe demjenigen, der diese deditio auf sich nehmen mußte, quasi genötigt, den Konflikt wieder zu eröffnen, um so seine Ehre wiederzugewinnen.28 Diese Sicht ist in späteren Arbeiten revidiert worden. Einige Beispiele sprechen nämlich eher dafür, daß man Konflikte gütlich nur einmal beendete.29 Es bestand mit anderen Worten die strikte Erwartungshaltung, daß der Konflikt damit in der Tat aus der Welt geschafft sei. Wurde er dennoch erneuert, erübrigte sich jede Hoffnung auf Versöhnung (spes reconciliationis), jedes Berufen auf das Recht der Unterwerfung (ius deditionis).30 Da es jedoch auch einige Fälle gibt, in denen deditiones von den gleichen Personen oder Gruppen wiederholt wurden,31 ist keine starr alternative Entscheidung dieser Frage ratsam. Die Erwartungshaltung der Gesellschaft ging gewiß dahin, daß nur eine gütliche Beilegung eines Konfliktes möglich sei – Ausnahmen von dieser Regel fehlen dennoch nicht.

Auf diesem Felde gibt es eine zweite Unsicherheit, die grundsätzlicherer Natur ist: Sind die Rituale der Unterwerfung für den, der sie auf sich nimmt (nehmen muß), entehrend? Leidet sein Prestige, ist er stigmatisiert? Oder hat er nach dem Verständnis der Zeit mit einer adäquaten satisfactio im eigentlichen Sinne des Wortes genug getan? Soviel ist sicher: Eine Unterwerfung hat eine spätere einflußreiche Stellung, selbst einen Aufstieg zum Königtum nicht verhindert.32 Es sind aber Zweifel erlaubt, ob die deditio nicht doch im Bewußtsein aller Beteiligten haften blieb und so ihre Wirkung entfaltete. Quellenaussagen über solche Wirkungen sind rar. Angeführt sei hier eine Erzählung, die von einer massiven Wirkung berichtet. Als Bischof Salomo von Konstanz die schwäbischen Kammerboten Erchanger und Berthold daran erinnerte, sie hätten vor ihm eine deditio geleistet und nur durch seine Fürsprache beim König Gnade gefunden, da erboste sie diese Erinnerung derart, daß sie den Bischof gefangennahmen und ihn zwangen, die Füße von Schweinehirten zu lecken, damit diese nun Gnade für ihn erbäten, so wie er es vorher für die Kammerboten getan hatte.33 Die Geschichte rät zur Vorsicht. Sie spricht deutlich davon, daß die Menschen des Mittelalters ein Unterwerfungsritual in der Tat als Stigma betrachteten, auch wenn dies selten ausgesprochen oder niedergeschrieben wurde.

Ein drittes Problemfeld von grundsätzlicher Bedeutung besteht rund um den in verschiedenen Arbeiten benutzten Begriff der Inszenierung und seine Bedeutung. Mit dem Begriff umschrieben wird der Sachverhalt, daß die Kommunikation gerade in mittelalterlicher Öffentlichkeit geprägt wird von Handlungen, die zuvor abgesprochen und vereinbart worden sein müssen. Zeremoniell und Ritual gründen ja darauf, daß alle Beteiligten festliegende Handlungen durchführen. Insoweit dürfte die grundsätzliche Einschätzung, daß in der öffentlichen Kommunikation vorgefertigte Handlungsmuster, deren Sinn bekannt war, dominierten, nicht falsch sein. Damit sind aber wichtige Fragen noch nicht beantwortet. Wir kennen so gut wie nie die Regisseure solcher Inszenierungen; und die Art, wie ein Drehbuch – um im Bild zu bleiben – entstand, ist ebenfalls unbekannt. Da das beobachtete Zeremoniell und die durchgeführten rituellen Handlungen nicht starr waren, sondern flexibel auf bestimmte Situationen hin ausgerichtet werden konnten, ist sicher weitere Forschung nötig, um den Spielraum auszuloten, den die Beteiligten jeweils hatten oder sich nahmen. Das Problem sei auch hier an einem Beispiel verdeutlicht: Im Zuge der zweiten deditio Mailands vor Friedrich Barbarossa warfen die Mailänder ihre Kreuze als Geste der Bitte um Vermittlung in die Kemenate der Kaiserin Beatrix.34 War dies ein abgesprochener Teil der Gesamtinszenierung; war es ein Spontanakt im ansonsten festgelegten Ablauf, oder gehörten solche Aktivitäten zu den Spielräumen, die man einander ließ? Wir wissen es nicht – und von diesem Nichtwissen ist das Verständnis des ganzen Vorgangs nicht wenig berührt.

Die hier nur mit wenigen Hinweisen und Beispielen angedeuteten offenen Fragen und Unsicherheiten der Einschätzung sollen stimulieren, die im folgenden dargebotenen Beiträge als Anstoß zu nehmen, den Spielregeln der archaischen Gesellschaft des Mittelalters mehr Aufmerksamkeit zu schenken und offen zu sein für die Andersartigkeit dieser Zeit, die sich unserem Verständnis nicht leicht erschließt. Wenn die Beiträge in diesem Sinne wirken, haben sie ihren Zweck erfüllt.

1 Die Sicht der modernen Öffentlichkeit vom Mittelalter und die Bedingungen dieses Mittelalterbildes hat vor allem Otto Gerhard Oexle in mehreren Arbeiten behandelt, vgl. ders., Das entzweite Mittelalter, S. 8ff.; ders, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, S. 125ff.; ders., Das Bild der Moderne vom Mittelalter.

2 Vgl. hierzu Keller, Zum Charakter der ‚Staatlichkeit‘; ders., Grundlagen ottonischer Königsherrschaft, sowie weitere Hinweise in Althoff, Staatsdiener oder Häupter des Staates (in diesem Band), S. 126ff.

3 Die folgenden Ausführungen wurden nicht zuletzt angeregt durch diesbezügliche Fragen amerikanischer Kollegen, die ich während eines Gastsemesters an der University of California in Berkeley in einem Werkstattgespräch unter dem Thema „Why are German Medievalists so obsessed with Verfassungsgeschichte?“ zu beantworten suchte. Dankbar sei der vielen kritischen Anregungen namentlich von Tom Brady, Joachim Bumke, Geoffrey Koziol und Elaine Tennant gedacht.

4 Die hier in Anführungszeichen gesetzten Termini begegnen in der älteren Literatur so häufig, daß eine Dokumentation wohl überflüssig ist.

5 So begann Robert Holtzmann, Kaiser Otto der Große, S. 7, seine Darstellung. Vor dem zitierten Satz steht die Widmung: „Dem deutschen Volke widme ich diese Blätter“.

6 Vgl. dazu Althoff, Staatsdiener oder Häupter des Staates (in diesem Band), S. 146, mit den Literaturangaben in Anm. 47.

7 Vgl. etwa die Lehre Max Webers, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122-176, von den unterschiedlichen Herrschaftstypen; siehe dazu Kocka (Hrsg.), Max Weber, der Historiker, bes. die Beiträge von Klaus Schreiner und Matti Viikari.

8 Vgl. hierzu bes. Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, S. 566ff.; siehe auch Althoff, Staatsdiener oder Häupter des Staates (in diesem Band S. 126ff.).

9 Vgl. Schmid, Der ‚Freiburger Arbeitskreis‘; ders., Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft, sowie ders., Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen; für das Spätmittelalter Moraw, Personenforschung und deutsches Königtum, und weitere einschlägige Beiträge des gleichen Verfassers in ders., Über König und Reich.

10 Zu den Problemen der Bewertung der Grafschaft und der Grafschaftsverfassung vgl. die Kontroverse zwischen Borgolte, Geschichte der Grafschaften Alemanniens, und Schulze, Grundprobleme der Grafschaftsverfassung; die Diskussion um die Bewertung der früh- und hochmittelalterlichen Herzogtümer ist neuerdings auf breiter Basis entflammt; vgl. dazu Goetz, Das Herzogtum im Spiegel der salierzeitlichen Geschichtsschreibung; Störmer, Bayern und der bayerische Herzog; Werner, Der Herzog von Lothringen; siehe auch die Bemerkung von Engels, Das Reich der Salier, S. 479ff.; Goetz, Das Herzogtum der Billunger, S. 167ff.; eine neue Auseinandersetzung mit dem Verständnis der sächsischen Herzogsgewalt bietet jetzt Becher, Rex, Dux und Gens.

11 Vgl. hierzu etwa die Beiträge in Mordek (Hrsg.), Überlieferung und Geltung; Dilcher u.a. (Hrsg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten; Sellert (Hrsg.), Das Gesetz in Spätantike und frühem Mittelalter.

12 Vgl. dazu die Ausführungen und Literaturhinweise bei Kaufmann, Art. Fehde, in: HRG, Bd. 1, Sp. 1083–1093; Boockmann, Art. Fehde, Fehdewesen, in: LexMA, Bd. 4, Sp. 331–334. Formen gütlicher Beilegung der Fehde finden in beiden Artikeln wenig Beachtung. Folgenreich für die Forschung dürfte in dieser Hinsicht die Tatsache gewesen sein, daß Brunner, Land und Herrschaft, S. 105f., nur ganz kurz auf diese Formen gütlicher Beilegung eingeht.

13 So hat etwa die verdienstvolle Sammlung Die Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts, Bd. 1, bewußt keine Nachrichten über den Gegenstand aus der Historiographie berücksichtigt. Urkunden für rechtshistorische Fragestellungen fruchtbar gemacht zu haben, ist wohl das Verdienst von Krause, Königtum und Rechtsordnung.

14 Vgl. dazu Keller, Zum Charakter der ‚Staatlichkeit‘, bes. S. 257ff., mit weiteren Hinweisen.

15 Siehe die bibliographischen Nachweise im Literaturverzeichnis.

16 Vgl. hierzu auch Arbeiten des Verfassers, die nicht in diese Sammlung aufgenommen wurden, insbesondere Althoff, Genugtuung; ders., Compositio; ders., Gewohnheit und Ermessen; mit weiteren Hinweisen siehe demnächst Kamp, Vermittler in Konflikten des hohen Mittelalters.

17 Vgl. vor allem die Arbeiten von Cheyette, Suum cuique tribuere; Duby, Hommes et structures du Moyen Age, S. 7–46; Geary, Vivre en conflit; White, „Pactum … legem vincit et amor iudicium“.

18 Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von William Ian Miller. Siehe auch den vergleichenden Überblick bei Kamp, Konflikte und ihre Beilegung im hohen Norden.

19 Vgl. dazu die häufig zitierten Arbeiten von Eckhoff, The Mediator; Roberts, Order and Dispute; dtsch.: Ordnung und Konflikt, sowie Gluckman, Order and Rebellion.

20 Beispiele hierfür in Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung (in diesem Band), S. 28, und ders., Konfliktverhalten und Rechtsbewußtsein (in diesem Band), S. 68, mit dem Hinweis auf die Anekdote der „Weiber vom Weinsberg“, die genau den hier diskutierten Sachverhalt thematisiert.

21 Beispiele hierfür in Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung (in diesem Band), S. 28; ders., Demonstration und Inszenierung (in diesem Band), S. 239.

22 Vgl. hierzu vor allem die frappierende Erzählung der Historia Welforum, cap. 30, S. 61ff., daß in einer „Schlacht“ während der Tübinger Fehde eine Person getötet wurde, aber 900 Parteigänger Welfs VII. von den Gegnern gefangengenommen werden konnten. Vgl. auch Althoff, Konfliktverhalten und Rechtsbewußtsein (in diesem Band), S. 68. Von der Bedeutung des Lösegeldes in der Fehde erzählt auch eine Geschichte Arnolds von Lübeck, Chronica Slavorum, II, 16, S. 56f., die von einem Zwist zwischen Heinrich dem Löwen und seinem Vasallen Graf Adolf berichtet, wer das Lösegeld für die Gefangenen beanspruchen dürfe.

23 Vgl. dazu einen diesbezüglichen Brief des Augsburger Bischofs an seinen Halberstädter Amtsbruder in den Sachsenkriegen Heinrichs IV., der genau diesen Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Vgl. dazu Hannoversche Briefsammlung. Die Hildesheimer Briefe, Nr. 54, S. 100f.; siehe Althoff, Genugtuung, S. 251.

24 Vgl. Rösener, Bauern im Mittelalter, S. 20f., S. 181 sowie S. 264ff.

25 Besonders thematisiert ist dies in Althoff, Colloquium familiare (in diesem Band), S. 167ff., und ders., Verwandtschaft, Freundschaft, Klientel (in diesem Band), S. 196ff.

26 Siehe dazu vor allem die Angaben in Althoff, Demonstration und Inszenierung (in diesem Band), S. 232.

27 Vgl. dazu Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen; Hoffmann-Riem, Konfliktmittler in Verwaltungshandlungen; Breidenbach, Mediation.

28 Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung (in diesem Band), S. 36 mit Anm. 38.

29 Vgl. dazu Althoff, Das Privileg der deditio (in diesem Band), S. 122, mit weiteren Überlegungen und bei Reuter, Unruhestiftung, Fehde, Rebellion, Widerstand, S. 324 mit Anm. 163.

30 Es würde sich lohnen, solche und ähnliche Begriffsbildungen (u.a. auch ius clementiae, spes recuperandi) und ihre Verwendung in bestimmten Situationen zu sammeln, um eine genauere Vorstellung von der mittelalterlichen „Theorie“ der Konfliktbeilegung zu gewinnen.

31 Vgl. die Beispiele in Althoff, Das Privileg der deditio (in diesem Band), S. 105.

32 Vgl. ebd., S. 102.

33 Vgl. Ekkehard IV., Casus Sancti Galli, cap. 17f., S. 46ff.

34 Vgl. dazu Althoff, Das Privileg der deditio (in diesem Band), S. 104.

Spielregeln der Politik im Mittelalter

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