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2. Nachsinnliches

Sprache, Schrift, Wissen und Glaube

Alles, was wir über die Umwelt wissen, haben wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, ertastet oder sonst wie über unsere Sinne erfahren. Diese Beobachtungen und Erfahrungen sind ein Schatz, aus dem wir schöpfen, um uns in der Welt zurechtzufinden. Wir können diesen Schatz immens vergrößern, wenn wir uns mit anderen über unsere Beobachtungen und Erfahrungen austauschen. Ein solcher Austausch spielte bereits bei unseren urzeitlichen Vorfahren eine wichtige Rolle. Sie warnten sich gegenseitig vor Gefahren und sie machten sich auf Nahrung oder Wasser aufmerksam. Sie gingen gemeinsam auf die Jagd und sie mussten ihr Zusammenleben organisieren, was ebenfalls eine Verständigung untereinander notwendig machte. Zur Verständigung setzten sie Gebärden und Laute ein. Irgendwann reichten die zur Verfügung stehenden Laute jedoch nicht mehr aus, um alle wichtigen Sachverhalte oder Dinge unverwechselbar zu bezeichnen. Deshalb gingen sie dazu über, mehrere Laute miteinander zu verbinden, wodurch neue Möglichkeiten für Bezeichnungen entstanden. Mit der Zeit wurden die Lautverbindungen zu Wörtern, erst zu einfachen, später zu solchen, die aus mehreren Lautverbindungen zusammengesetzt waren. Eine Sprache entstand. Zumindest könnte es so gewesen sein, klar ist jedoch, dass es immer Wahrnehmungen über die Umwelt, über Artgenossen oder eigene Befindlichkeit waren, zu denen sich die Menschen verständigten. Diese Wahrnehmungen prägten die Wörter und damit die Sprache.

Die Vielfalt der möglichen Sinneswahrnehmungen ist gewaltig. Man denke nur an die 10.000 Düfte, die wir zu unterscheiden vermögen. Wollte man all diese Eindrücke mit eigenen Wörtern beschreiben, würde dies wahrscheinlich unsere intellektuellen Möglichkeiten überfordern. Nicht alle Wahrnehmungen sind jedoch gleichermaßen wichtig. Der Geruchssinn hat für die Menschen beispielsweise nicht die gleiche Bedeutung wie für andere Säugetiere, weshalb es auch nicht erforderlich ist, für alle Düfte Bezeichnungen zu bilden. Außerdem kann man Dinge oder Sachverhalte, die in wesentlichen Punkten übereinstimmen, in einem Wort zusammenfassen. Ein Teller ist ein Teller, egal ob er aus Holz gefertigt wurde oder aus Keramik, aus Metall oder Knochen, egal welche Größe er hat, welche Farbe oder Form. Meist reicht die Bezeichnung "Teller" aus, um den Gegenstand, der gemeint ist, hinreichend zu benennen. Ist eine genauere Bezeichnung erforderlich, dann können konkretisierende Wörter hinzugefügt werden. Will man Ereignisse oder Sachverhalte schildern, müssen ebenfalls mehrere Wörter aneinandergereiht werden. Die Kombination der Wörter folgt dabei allgemein akzeptierten Regeln, die wir Grammatik nennen. Für die Herausbildung der Sprache, des Sprechens und Verstehens, waren aber auch Anpassungen des Sprechapparats und des Gehörs erforderlich. Diese Anpassungen gingen in das Erbgut der Menschen ein. Die Sprache selbst wird nicht vererbt, das heißt, jedes Kind muss sie erlernen. Eine Vererbung kam schon deshalb nicht in Frage, weil die Sprache sich immer aufs Neue den unterschiedlichen und sich zudem ständig verändernden Lebensbedingungen anpassen muss. Ihre Dynamik führte auch dazu, dass sich in den mehr oder weniger isoliert voneinander lebenden Gemeinschaften der Menschen unterschiedliche Sprachen und Dialekte herausbildeten.

Die Sprache ist etwas Flüchtiges. Wollte man Erfahrungen über Erscheinungen in der Natur, zum Verhalten der Tiere oder über Taktiken der Jagd für die folgenden Generationen bewahren, mussten sie immer wieder neu erzählt werden. Als die Menschen nicht mehr umherzogen, sondern Siedlungen errichteten und sich Ackerbau und Viehzucht widmeten, veränderte sich vieles. Nach und nach blühte das Handwerk auf, dessen Erzeugnisse bald den Weg auf fremde Märkte fanden. Ein wirtschaftlicher Austausch, teilweise über große Entfernungen hinweg, entwickelte sich. Mit ihm entstand das Bedürfnis, gegenseitige Verpflichtungen nachprüfbar festzuhalten, das heißt zu dokumentieren. Außerdem war es manchmal erforderlich, Partnern Nachrichten zukommen zu lassen, die man nur ungern Dritten für eine mündliche Überlieferung anvertraute. Als Alternative konnte man Gegenstände oder Zeichnungen übersenden, die eine Nachricht symbolisierten. Das setzte jedoch voraus, dass der Empfänger die Symbole zu deuten wusste, das heißt, die Partner mussten vorab verabreden, was mit den jeweiligen Gegenständen oder Zeichnungen ausgedrückt werden sollte. Das war umständlich. Deutlich mehr Möglichkeiten eröffneten sich, als man dazu überging, die Sprache selbst in allgemein akzeptierten Bildern oder Zeichen wiederzugeben. Dazu mussten den Wörtern einzelne Bilder verbindlich zugeordnet werden, wodurch Bilderschriften, wie die Hieroglyphen der alten Ägypter, entstanden.

Die Bilderschriften hatten den Nachteil, dass die einzelnen Bilder oder Symbole die Dinge und Sachverhalte nur grob differenzierten. Das Leben gewann aber ständig an Vielfalt, so dass, um Missverständnisse zu vermeiden, immer neue Bilder benötigt wurden. Immer mehr Bilder machten die Schrift jedoch kompliziert und damit weniger alltagstauglich. Zur Auflösung dieses Dilemmas ging man dazu über, nicht mehr alles und jedes mit einem speziellen Symbol zu versehen, sondern nur einfachen Wörtern und wiederkehrenden Lautverbindungen, die Teile von Wörtern geworden waren, Symbole zuzuordnen. Die Symbole dieser Lautverbindungen konnten zu komplizierteren Wörtern zusammengesetzt werden. Eine solche Entwicklung lässt sich bei den Sumerern oder auch im alten Ägypten nachweisen. Später ging man noch einen Schritt weiter und ordnete die Schriftzeichen nicht mehr den Lautverbindungen, sondern den einzelnen Lauten zu, aus denen dann Silben und Wörter zusammengesetzt werden konnten. Auf diese Weise entstand eine phonetische Schrift, die mit relativ wenigen Zeichen praktisch jeden Sachverhalt darstellen kann.

Alle Zeichen und Symbole, genauso wie die Sprache, beinhalten Abstraktionen. Die Fähigkeit zur Abstraktion half den Menschen auch, allgemeine Zusammenhänge in der Natur oder in den Gesellschaften, in denen sie lebten, zu erkennen. Im Unterschied zu den Erfahrungen, die meist einen individuellen Bezug besitzen, in jedem Fall aber eine spezielle Aufgabe oder Situation betreffen, war das durch die Abstraktion entstehende Wissen auf unterschiedliche Gegebenheiten anwendbar. Hinzu kam, dass das Wissen in Bereiche vorstoßen konnte, die der direkten Wahrnehmung verborgen blieben. Dieses Wissen wurde wie auch die Erfahrungen zu einem Schatz der Menschen, der wohl behütet von Generation zu Generation weitergegeben werden musste. Seine Pflege, Mehrung und Weitergabe übertrug man oft speziell dafür ausgebildeten Personen.

Trotz aller Fortschritte blieb vieles unerklärlich, manches wohl auch bedrohlich. Dort, wo Beobachtungen keine Erkenntnisse lieferten, nahmen die Menschen Erfahrungen aus anderen Lebensbereichen zur Hilfe, um sich die Welt zu erklären. Anfangs, als die Menschen gerade begannen, sich die Natur nutzbar zu machen, entstand die Vorstellung, dass nicht nur sie selbst, sondern auch die Pflanzen und Tiere handelnde Subjekte seien. Wie sie selbst, würden auch diese sicher einen Anführer haben, den man sich mit Bitten und Gaben gewogen halten wollte. Darüber hinaus schien es ihnen nur folgerichtig, dass auch jene Erscheinungen in der Natur, die man sich nicht recht erklären konnte, das Werk von Subjekten seien. Da man diese nicht sehen konnte, waren sie wohl weder Mensch noch Tier, sondern etwas anderes, Götter eben. Wie sollte man mit Göttern umgehen? Verehrung, gutes Zureden und kleine Geschenke würden sicher auch bei ihnen für Wohlwollen sorgen. Der Einzelne tat das nicht für sich allein, sondern er tauschte sich mit anderen dazu aus, so dass sich nach und nach eine gemeinsame Vorstellung von der Natur und ihren Göttern herausbildete. In dieser Zeit stand für die Menschen jedoch noch außer Frage, dass sie selbst Teil dieser Natur seien. Folglich existierten auch die Götter nicht außerhalb ihrer Lebenswelt, sie waren vielmehr in einer mystischen Beziehung mit ihr verwoben.

Im Laufe der Zeit lernten die Menschen immer besser, sich die Natur nutzbar zu machen oder gegebenenfalls sich ihrer zu erwehren. Viele Erscheinungen, die ehemals furchterregend waren, flößten ihnen nun keine Angst mehr ein. Ihr Selbstvertrauen wuchs, so dass Pflanzen und Tiere mehr und mehr von Partnern zu Objekten ihres Tuns wurden. Es war auch ganz praktisch, wenn nicht hinter jedem Baum, den man fällen wollte, und hinter jedem Tier, das gejagt werden sollte, Götter zu vermuten waren, die erst besänftigt werden mussten, bevor man zur Tat schreiten konnte. Den Menschen schien es jetzt, dass ihnen die Erde mit den Pflanzen und Tieren darauf als Lebensraum gegeben sei, den sie zu eigenem Nutz und Frommen gebrauchen könnten. Allerdings gab es da immer noch eine Reihe von Erscheinungen, deren Ursachen sie nicht verstanden, die wohl doch das Werk von Göttern waren. Es waren aber nicht nur Erklärungen zum Platz der Menschen in der Natur gefragt, auch das Zusammenleben der Menschen warf Fragen auf. Große soziale Unterschiede waren entstanden, doch waren sie rechtens? In den alten Hochkulturen waren die Priester berufen, Antworten auf diese Fragen zu geben. Die Antworten, die sie fanden, gingen in ihre Lehren ein. Diese waren damit nicht mehr nur Mythos als Reflex auf Unwissen, sondern auch Sammelbecken des in ihrer Zeit vorhandenen Wissens über die Natur, die Menschen und die Gesellschaft, in der sie lebten. Außerdem hatten sich ethische und moralische Normen des Zusammenlebens herausgebildet, die ebenfalls Bestandteil der Lehren wurden. Die auf diese Weise entstehenden Religionen nahmen in den verschiedenen Zeiten und Weltengegenden unterschiedliche Gestalt an.

Messen und Vergleichen

Im zweiten Teil findet sich der Abschnitt „Objektive Realität und subjektive Wahrnehmung“, in welchem ich weitere Aspekte der Wahrnehmungen wie auch zum Messen und Vergleichen beleuchte.

Die gesammelten und weitergegebenen Erfahrungen halfen den Menschen, sich in einer oft feindlichen Umwelt besser zu behaupten. Aber nicht jede Erfahrung ist immer und überall gleichermaßen hilfreich. Um zu verstehen, wann welche Erfahrung sinnvoll genutzt werden kann, müssen die Bedingungen ihrer Anwendung miteinander verglichen werden. Vergleiche helfen nicht nur bei der Beurteilung von Erfahrungen, sie können dem Leben insgesamt eine gewisse Ordnung verleihen. Man veranstaltet Wettkämpfe, um zu klären, wer der schnellste Läufer ist, wer am weitesten springen oder werfen kann. Heute dienen solche Wettkämpfe meist der Unterhaltung, für unsere Vorfahren mag das Kräftemessen darüber hinaus wichtiger Teil des Zusammenlebens gewesen sein, da sich mit ihm eine Rangordnung herausbilden konnte. Man kann aber nicht nur Leistungen miteinander vergleichen, auch Dinge können mit Hilfe von Vergleichen geordnet werden. Hinsichtlich der Größe der Dinge kann dies nach Augenschein erfolgen. Schwierig wird es, wenn die Dinge nicht nebeneinandergestellt werden können, weil sie zu groß oder zu schwer für einen Transport sind. Man könnte jedoch einen Stab benutzen, an dem sie sich messen lassen. Das mit dem Messen sollten wir uns etwas genauer anschauen.

Dort steht ein Tisch, dem eine neue Decke guttun würde. Damit ich eine Decke in passender Größe kaufen kann, muss ich die Länge des Tisches ermitteln. Dazu nehme ich einen Gliedermaßstab - welch ein hässliches Wort. Mein Opa hat noch Zollstock gesagt, was zwar inhaltlich nicht zutrifft, weil bei uns Längen nicht mehr in Zoll gemessen werden, trotzdem ist dieses Wort griffiger. Ans Werk! Ich klappe den Zollstock auseinander, lege ihn an die Tischkante an und lese auf dem Zollstock die Länge ab - 1,20 m. Die Tischkante ist 1,20 Meter lang. Das war einfach. Manchmal lohnt es sich, über das scheinbar einfache noch einmal nachzudenken. Was habe ich beim Vermessen der Tischkante getan? Ich habe den Zollstock auf den Tisch gelegt und dessen Länge an dem auf dem Zollstock aufgezeichneten Maßstab abgelesen. Woher kommt dieser Maßstab? Es waren die Franzosen, die in den Jahren nach der Revolution von 1789 nicht nur das Herrschaftssystem umkrempelten, sondern auch das System der Maße und Gewichte. Es sollte auf Dezimalbasis vereinheitlicht werden und eine wissenschaftliche Grundlage erhalten. In diesem Zusammenhang wurde der Meter als einheitliches Längenmaß eingeführt. Die Länge eines Meters berechnete man auf der Basis bekannter geophysikalischer Größen. Der Vorteil dieses Herangehens war, dass die ausgewählten Parameter hohe Beständigkeit aufwiesen, so dass die zugrunde gelegte Berechnung jederzeit nachvollzogen werden konnte. Trotzdem war die Auswahl der für die Berechnung genutzten Größen willkürlich, man hätte auch andere Werte zugrunde legen können, dann hätte der Meter halt eine andere Länge gehabt.

Die für den Meter berechnete Länge vergegenständlichte man in einem Metallstück, das als „Urmeter“ fortan Bezugsobjekt aller metrischen Messungen sein sollte. Den Meter kann man in zehn, hundert oder mehr gleiche Teile untergliedern, so dass jede beliebige Genauigkeit darstellbar ist. Es ist natürlich auch möglich, den Meter zu vervielfachen, um auf diese Weise einen Kilometer zu erhalten. Der gewonnene Maßstab kann auf Messmedien, wie einen Zollstock, aufgetragen werden, so dass ein Messwerkzeug als Bezugsobjekt für unsere Messungen entsteht. Wenn man einen Zollstock auf den Tisch legt und die Länge der Tischkante am Maßstab abliest, dann vergleicht man im Kern also die Länge der Tischkante mit der Länge des Urmeters. Bei meiner Messung habe ich demnach festgestellt, dass der Tisch 20 Hundertstel länger als der Urmeter ist. Das heißt aber auch, ich habe keinen absoluten Wert für die Länge des Tisches ermittelt, sondern einen relativen Wert im Vergleich zum Urmeter. Der ermittelte Wert hilft mir trotzdem weiter, da auch die Länge der Tischdecke in Meter angegeben wird.

Für eine Messung braucht man also ein Messwerkzeug mit einem Maßstab. In unserem Fall war der Maßstab der Urmeter mit seiner dezimalen Unterteilung, das Messwerkzeug war der Zollstock. Mit dem Namen Zollstock verbindet sich das Wissen, dass auch andere Maßstäbe der Längenmessung möglich sind. In früheren Zeiten waren viele unterschiedliche Maße gebräuchlich, was den Warenverkehr behinderte und Missverständnissen Vorschub leistete. Die Vereinheitlichung der Maßsysteme kann daher als epochale Errungenschaft angesehen werden, ohne die es den späteren Siegeszug der Industrie kaum gegeben hätte. Im internationalen Vergleich finden wir allerdings nach wie vor verschiedene Maßsysteme, was in meinen Augen wie aus der Zeit gefallen wirkt. Als Messwerkzeuge sind ebenfalls ganz unterschiedliche Instrumente in Gebrauch, das hat jedoch einen guten Grund, da für die verschiedenen Zwecke unterschiedliche Eigenschaften der Messgeräte wichtig sind. Letztendlich ist es aber egal, ob man ein Lineal, einen Zollstock oder ein Bandmaß benutzt, ob man die Lasermessung oder ein Echolot einsetzt, in jedem Fall wird bei einer Längenmessung ein Vergleichswert zum gewählten Maßstab, in unserem Fall zum Urmeter, ermittelt.

Eine Voraussetzung für den Vergleich von Messergebnissen ist, dass jeweils der gleiche Maßstab verwendet wurde. Setzt man unterschiedliche Maßstäbe ein, zum Beispiel einmal Meter und dann wieder Zoll, muss man umrechnen, um eine Vergleichbarkeit herzustellen. Umrechnungen sind allerdings meist nicht bis auf die letzte Kommastelle genau. Darüber hinaus sind häufig die Messmethoden wie auch die Messinstrumente unterschiedlich genau, so dass die Vergleichbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt ist. Ungenauigkeiten können auch durch Abweichungen unseres Maßstabs vom Urmeter entstehen. Selbst das Vergleichsstück, der metallische Urmeter, ist Einflüssen und damit Schwankungen ausgesetzt. Um diese gering zu halten, wurde es aus einem sehr stabilen Material, einer Legierung aus Platin und Iridium, hergestellt. Es wird bei exakt 0 Grad Celsius gelagert, denn die Temperatur hat bekanntlich Einfluss auf die Längenausdehnung des Materials. Für die Genauigkeit eines Messvorgangs wäre es demnach wichtig, dass dieser bei exakt 0° Celsius stattfindet. Mit einem Seufzer der Erleichterung können wir konstatieren, dass in der Praxis meist keine vergleichbar hohen Anforderungen an die Genauigkeit des Messvorgangs gestellt werden. Im Alltag sind die Genauigkeit des Zollstocks und die Messung bei Zimmertemperatur in der Regel völlig ausreichend. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass alle drei Faktoren, der Maßstab, das Messverfahren samt Messinstrument und die äußeren Bedingungen des Messens, Quellen von Ungenauigkeiten sein können. Hinzu kommt, dass nichts auf dieser Welt so bleibt, wie es ist. Das heißt, ganz egal, was man auch anstellt, es werden sich während einer Messreihe immer Veränderungen ergeben, die die Genauigkeit der Ergebnisse, mithin ihre Vergleichbarkeit begrenzen. Messungen können niemals absolut genau sein, sie haben immer eine relative Genauigkeit, was unproblematisch ist, solange der Zweck der Messung erreicht wird. Trotzdem existiert diese absolute Genauigkeit, sonst könnten wir uns ihr, zum Beispiel durch den Einsatz besserer Messmethoden, nicht annähern.

Was kann man außer der Länge eines Tisches noch messen? Man könnte sein Gewicht ermitteln. Die in der Französischen Revolution entstandene Nationalversammlung legte auch für die Gewichte einen allgemeingültigen Maßstab fest. Ein Urkilogramm wurde definiert und als Platin-Iridium-Zylinder verewigt. Wenn wir heute ein Gewicht ermitteln, zum Beispiel mit Hilfe einer Waage, dann bestimmen wir einen Vergleichswert zu diesem Urkilogramm. Man kann auch Temperaturen messen. Ausgangspunkt für die Entwicklung entsprechender Messverfahren war die Beobachtung, dass sich Körper, die erwärmt werden, ausdehnen, und dies proportional zum Grad der Erwärmung. Für die Konstruktion von Messwerkzeugen verwendete man Flüssigkeiten, da sich diese in dünne Röhren bannen ließen, die ein einfaches Ablesen der Ausdehnung ermöglichten. Celsius setzte für sein Messinstrument Wasser ein. Für den Maßstab nutzte er dessen Siede- beziehungsweise Gefrierpunkt bei einem Luftdruck von 760 Torr. Auf eine Skala übertragen gab er den erhaltenen Punkten die Werte 100 und 0, den Zwischenraum unterteilte er in einhundert gleichmäßige Schritte, Grade genannt. Diese Skala konnte nun über die Fixpunkte hinaus nach oben und unten verlängert werden, so dass eine Skala entstand, mit deren Hilfe man die Temperaturen verschiedener Stoffe bestimmen konnte. Richtiger sollte man sagen, die Temperaturen der Stoffe konnten nun verglichen werden, da sie mit demselben Maßstab bestimmt wurden. Durch den Vergleich erhielt man eine Vorstellung von der unterschiedlichen Temperatur der Dinge. Dass eine Temperatur immer relativ, in Bezug auf einen Maßstab bestimmt wird, ändert nichts daran, dass sie eine tatsächliche Eigenschaft der Stoffe, nämlich ihren Energiegehalt, ausdrückt.

In der Geschichte entstanden verschiedene Maßstäbe für die Messung der Temperatur. Fahrenheit verwendete ein Quecksilberthermometer. Als Nullpunkt legte er eine Temperatur fest, die er bei einer Mischung aus Schnee und Salmiakgeist bestimmt hatte. Er nahm an, dass dies die tiefste in der Natur vorkommende Temperatur sei. Als zweiten Fixpunkt nutzte er die normale Körpertemperatur des Menschen. Den Zwischenraum zwischen diesen beiden Punkten unterteilte er in 96 Einheiten. Réaumur wiederum verwendete wenige Jahre später ein mit Alkohol gefülltes Thermometer, dessen Gefrier- und Siedepunkt seine Fixpunkte wurden. Den Zwischenraum unterteilte er in 64 Punkte. In Europa hat sich die Skala nach Celsius weitgehend durchgesetzt, während in den USA die Temperatur meist nach der von Fahrenheit angegeben wird. Celsius hatte übrigens ursprünglich den Gefrierpunkt des Wassers mit 1000 und den Siedepunkt mit 0º festgelegt, erst Linné drehte die Skala um und erhielt die noch heute gebräuchliche Einteilung. Aus der Geschichte sieht man, dass die Auswahl des Messmediums und die Ableitung eines Maßstabs recht willkürlich erfolgen kann. Selbst der Fakt, dass die Annahme Fahrenheits hinsichtlich der niedrigsten in der Natur vorkommenden Temperatur falsch war, verhinderte nicht, dass seine Temperaturskala bis heute Verwendung findet. Es ist demnach völlig gleich, wie die Fixpunkte einer Skala bestimmt werden, die Qualität eines allgemeingültigen Maßes erhalten sie nicht durch eine wissenschaftliche Begründung, sondern durch ihre Akzeptanz in der Gesellschaft. Aus diesem Grund können sich die Messinstrumente auch von den ursprünglichen Messmedien, bei Celsius dem Wasser, entfernen. Heute werden ganz unterschiedliche Medien beziehungsweise Methoden zur Messung der Temperatur herangezogen, deren Resultate trotzdem in Grad Celsius angegeben werden.

Die Maßstäbe, mit denen Messungen quantifiziert werden, sind so vielfältig wie die Eigenschaften der Stoffe, für deren Bestimmung sie Einsatz finden. Für alle gilt das oben gesagte in ähnlicher Weise. Was wir uns unbedingt noch genauer anschauen müssen, ist die Bestimmung der Geschwindigkeit von Bewegungen. Geschwindigkeit ist definiert als Bewegung in der Zeit. Doch, was ist Zeit überhaupt? Stofflich, im eigentlichen Sinne, ist Zeit wohl nicht. Ganz allgemein könnte man vielleicht sagen, dass alles eine Zeit hat, in der es entsteht, sich verändert und wieder vergeht. Um die unterschiedlichen Zeiträume, in denen sich diese Prozesse vollziehen, vergleichen zu können, brauchte man einen Maßstab. Für unsere Vorfahren war es naheliegend, regelmäßig wiederkehrende Zyklen in der Natur, wie die Sonnentage, die Mondphasen oder die Jahreszeiten, als Maßstab der Zeit zu nutzen. Diese Zyklen konnten in kleinere Einheiten unterteilt werden, so dass genaue Zeitangaben möglich wurden. Der als durchschnittlich ermittelte Sonnentag wurde beispielsweise in 24 Stunden zu jeweils sechzig Minuten gegliedert. Ein voller Zyklus der Jahreszeiten, gemessen am Stand der Sonne, wurde zu einem Jahr, ein Mondzyklus zu einem Monat. Für die Zählung der Jahre brauchte man allerdings einen Punkt, mit dem sie beginnen konnte. Die Festlegung eines solchen Anfangspunktes erfolgte wiederum recht willkürlich. Im Jahr 2020 nach Christi Geburt wies zum Beispiel der jüdische Kalender das Jahr 5.781 nach Erschaffung der Welt aus, der islamische Kalender war im Jahr 1.441 nach der Ankunft von Mohamed in Medina und nach dem Französischen Revolutionskalender war das Jahr 231 nach dem Sturm auf die Bastille erreicht. Mit der Festlegung eines Anfangspunktes und eines zählbaren Zyklus, wie dem Sonnenjahr, erhielt man eine Zeitskala, die in beide Richtungen, in die Vergangenheit und die Zukunft, verlängert werden konnte. Als Verfahren zur Messung der Zeit kam jeder gleichmäßig wiederkehrende Vorgang in Betracht. So liegen dem „Ticken“ der Uhren meist mechanische Schwingungen oder atomare Bewegungszyklen zugrunde. Für die Zeitmessung gilt jedoch das gleiche, wie für alle Messungen, man kann nicht den absoluten Verlauf der Zeit bestimmen, man kann lediglich Zeitperioden miteinander vergleichen.

Das Messen von Bewegungen

Wie ist das nun mit den Bewegungen? Wie kann man Bewegungen messen?

In der Praxis scheint das wieder recht simpel zu sein. Man misst eine Strecke aus, die eine Läuferin zurücklegen soll. Dann misst man die Zeit, die sie für die Strecke benötigt und kann daraus die Geschwindigkeit, das heißt die Anzahl der Meter, die sie in der Zeiteinheit zurücklegt, ermitteln. Diese Messung hat allerdings eine ganze Reihe von Voraussetzungen. So gehen wir davon aus, dass die Läuferin diese Strecke auf schnurgeradem Wege hinter sich bringt, das heißt, dass sie tatsächlich nur die ausgemessene Entfernung zurücklegt. Das Auf und Ab des Körpers oder die Abweichungen der Läuferin von der Ideallinie, lassen wir bei der Ermittlung der zurückgelegten Strecke außen vor. Wir berücksichtigen auch nicht, dass die Läuferin einmal schneller und dann wieder langsamer laufen könnte, wir ermitteln einen Durchschnittswert. Außerdem könnte es noch diverse Messfehler gegeben haben, zum Beispiel, weil die Strecke nicht exakt vermessen wurde oder weil der Messende die Handhabung der Stoppuhr nicht gewöhnt war. Selbst, wenn wir sagen, für unseren Zweck reicht die erhaltene Genauigkeit aus, bleibt die Frage, was unsere Messung eigentlich aussagt.

Wir haben einen Weg von einhundert Metern ausgemessen, also einhundert Mal die Länge des Urmeters. Außerdem haben wir die für den Lauf benötigte Zeit gemessen. Die Läuferin hat 14,3 Sekunden, anders gesagt 14,3 Teile des in 86.400 Sekunden untergliederten durchschnittlichen Sonnentags, für die Strecke benötigt. Diese beiden relativen Ergebnisse setzen wir ins Verhältnis und erhalten die durchschnittliche Geschwindigkeit der Läuferin. Das Ergebnis aus zwei relativen Größen kann nur wieder eine relative Größe sein. Das heißt, wir haben die relative Geschwindigkeit der Läuferin ermittelt, auch wenn der Bezug zum Urmeter beziehungsweise zum Sonnentag bereits in den Hintergrund getreten ist. Obwohl wir nur eine relative Geschwindigkeit messen, wird niemand bestreiten, dass sich die Läuferin tatsächlich bewegt hat. Mit anderen Worten, obwohl wir nur relative Geschwindigkeiten messen können, setzen diese Messungen voraus, dass sich das Zumessende, in unserem Fall die Läuferin, tatsächlich bewegt. Diese Bewegung ist absolut vorhanden, auch wenn wir ihre Geschwindigkeit nur als relative Größe ermitteln können. Das Wechselverhältnis von absoluter und relativer Bewegung müssen wir uns wohl noch etwas genauer anschauen.

Stellen Sie sich vor, Sie fahren in einem Zug. Die Fenster sind verdunkelt, so dass ein Blick nach draußen nicht möglich ist. Der Zug gleitet mit konstanter Geschwindigkeit und erschütterungsfrei dahin. Unter diesen Bedingungen ist es für Sie oder einen Mitreisenden nicht möglich, die Position des Zuges in der Landschaft oder seine Geschwindigkeit festzustellen. Für Sie befindet sich das geschlossene System Zug mit allen Dingen darin in Ruhe. Eine Bewegung wäre nur durch den Blick nach draußen erkennbar. Das heißt, die gleichmäßige Bewegung eines Systems ist nur in Bezug auf die Umgebung, also auf ein anderes System wahrnehmbar und damit messbar. Eigentlich ist dies gar nicht verwunderlich, denn für jede Messung gilt, dass sie nicht nur einen gleichbleibenden Maßstab und ein genaues Messverfahren erfordert, sondern, dass auch das Bezugssystem und die Bedingungen des Messens während der gesamten Messreihe gleichbleiben müssen. Für den Zug als Ganzes ist dieser Bezug die Landschaft, in der er sich bewegt, für die Reisenden im Zug ist es dessen Inneres, an dem sich jede Bewegung misst.

Stellen Sie sich nun vor, die Rollos, mit denen die Fenster des Zuges verdunkelt waren, werden hochgezogen und der Blick durch die Scheiben wird möglich. Sie selbst seien zur Abwechslung nicht im Zug, Sie stehen vielmehr am Bahndamm und können für die kurze Zeit des Vorbeifahrens in das Innere des Zuges blicken. Sie sehen, wie ein Junge mit einem Tischtennisball spielt. Er lässt den Ball auf einen Tisch fallen, von dem dieser sehr gerade nach oben springt. So sieht es zumindest der Junge im Zug. Am Bahndamm stehend sehen Sie jedoch, dass sich der Zug bewegt, und mit ihm der Tisch und der Tischtennisball. In Ihrem Bezugssystem der offenen Landschaft ist augenscheinlich, dass sich der Tischtennisball bei jedem Hochspringen vom Tisch an einem anderen Ort in dieser Landschaft befindet. Man könnte fragen, wer hat nun recht mit seiner Beobachtung - Sie, der Sie am Bahndamm stehen und sehen, dass sich der Tischtennisball bei jeder Bewegung an einem anderen Punkt in der Landschaft befindet, oder der Junge im Zug, für den der Ball immer an derselben Stelle hochspringt. Offensichtlich haben beide recht - der Junge, der keinen Blick nach draußen wirft, weil er mit seinem Tischtennisball beschäftigt ist, und Sie, der sie am Bahndamm stehen und den Zug, den Jungen und den Tischtennisball an sich vorbeifahren sehen.

Der Vater des Jungen, der sich ebenfalls im Zug befindet, sieht, als er seinen Blick kreisen lässt, sowohl den Jungen, der mit seinem Tischtennisball spielt, als auch einen einsamen Spaziergänger am Bahndamm. Ihm mögen die gleichen Gedanken durch den Kopf gehen wie uns. Er fragt sich, was passieren würde, wenn nach einiger Zeit die Rollos des Zugabteils wieder heruntergelassen würden. Wieder wäre im Zug nicht feststellbar, ob und mit welcher Geschwindigkeit sich dieser bewegt. Müsste der Vater nun vergessen, was er vorher beobachtet hatte, weil er es jetzt nicht mehr wahrnehmen kann? Anders ausgedrückt, ist nur das aus Wahrnehmung respektive Messung entstandene Wissen des Beobachters „Wahrheit“ oder gibt es unabhängig von dieser Wahrheit noch eine andere Wahrheit, die nicht minder richtig ist, auch wenn sie unter den gegebenen Bedingungen nicht gemessen werden kann?

Obwohl der Reisende im gleichförmig dahingleitenden Zug ohne den Blick nach draußen dessen Bewegung nicht wahrnehmen kann, so ist diese Bewegung doch vorhanden, wie der Beobachter am Bahndamm bezeugen wird. Damit nicht genug, denn der Zug bewegt sich nicht nur auf den Schienen durch die Landschaft, er nimmt auch an der Bewegung der Erde um ihre eigene Achse teil. Mit der Erde bewegt er sich um die Sonne, mit dem Sonnensystem um den Kern der Galaxis. Auch die Dinge im Inneren des Zuges sind nicht so bewegungslos, wie sie scheinen, denn ihre Bausteine, das heißt, Moleküle, Atome und deren Bestandteile, führen ein eigenes bewegtes „Leben“. Alles ist in Bewegung, panta rhei, wie die alten Griechen meinten. Obwohl sich ein Objekt in einem bestimmten Bezugssystem in Ruhe befindet, wird man in einem anderen Bezugssystem hinsichtlich desselben Objekts Bewegung registrieren. Das heißt, wir „wissen“, dass auch dann, wenn wir keine Bewegung messen können, eine Bewegung vorhanden ist. Diese Bewegung kann in mindestens einem Bezugssystem beobachtet beziehungsweise gemessen werden. Wenn man das Bezugssystem, in dem die Messung möglich war, verlässt, dann verschwindet die eben noch gemessene Bewegung nicht, auch wenn sie nun nicht mehr gemessen werden kann. Mit anderen Worten, jede konkrete im gegebenen Bezugssystem messbare, mithin relative Bewegung, kann in einem anderen Bezugssystem zur nur noch absoluten, das heißt, objektiv zwar vorhandenen aber nicht mehr messbaren Bewegung werden.

Zum besseren Verständnis des Zusammenwirkens von absoluter und relativer Bewegung wollen wir uns noch ein weiteres Beispiel ansehen. Stellen Sie sich eine Autoverfolgungsjagd vor, wie sie mitunter in Kriminalfilmen zu sehen ist. Es kommt zu der Szene, da Räuber und Gendarm mit ihren Autos auf gleicher Höhe fahren. Die Geschwindigkeit der Autos sei 100 Kilometer in der Stunde. Trotzdem wird der Superheld vom Dach des einen Autos auf das Dach des anderen Autos springen. Das ist möglich, weil die relative Geschwindigkeit der beiden Autos zueinander annähernd Null ist. Das heißt, im Bezugssystem der beiden gleichmäßig dahin rasenden Autos herrscht relative Ruhe, in dem Sinne, dass sich die Autos nicht voneinander entfernen. Trotzdem rasen sie mit 100 km/h die Straße entlang, was unserem Helden spätestens dann schmerzhaft bewusst würde, sollte der Sprung misslingen und er nicht auf dem anderen Auto sondern im Straßengraben landen. Die Bewegung ein und desselben Autos erlangt also in Abhängigkeit vom betrachteten Bezugssystem (Straßengraben oder zweites Auto) eine unterschiedliche physikalische Bedeutung.

Das ist noch nicht alles. Bevor die Autos im Rahmen der Verfolgungsjagd auf gleicher Höhe fuhren, war es nämlich zu einer Schießerei gekommen. Sagen wir der Einfachheit halber, beide Autos hatten zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine konstante Geschwindigkeit von 100 km/h. Die Frage ist, welche Auswirkungen die Geschwindigkeit der Autos auf die Geschwindigkeit der Pistolenkugeln hat. Müssen wir die 100 km/h der Autos zur Geschwindigkeit der Kugeln hinzuaddieren? In unserem Beispiel rasen die Autos zwar mit 100 km/h die Straße entlang, ihr Abstand zueinander verändert sich jedoch nicht. Insofern bewegen sich die Kugeln in einem „ruhenden“ System. Ihre Geschwindigkeit und damit die Aufprallenergie auf den anderen Wagen ist die gleiche, als wenn die Autos irgendwo, gleichen Abstand zueinander vorausgesetzt, auf einem Parkplatz stünden. Anders sieht es aus, wenn die Kugel des Verfolgers ihr Ziel verfehlt und in ein am Straßenrand parkendes Auto einschlägt. In diesem Fall befinden sich die beteiligten Autos nicht in relativer Ruhe zueinander, das verfolgende Polizeiauto und das parkende Auto bewegen sich vielmehr, objektiv gesehen, aufeinander zu. Zur „normalen“ Geschwindigkeit der Kugel kommt die relative Geschwindigkeit, mit der sich die beiden Autos einander annähern, hinzu. Die Aufprallenergie der Kugel erhöht sich um den aus der Bewegung des Autos resultierenden Betrag. Wiederum erlangt ein und dieselbe Bewegung eine andere physikalische Bedeutung, sobald das betrachtete Bezugssystem wechselt. Es könnte aber auch sein, dass das fälschlicherweise getroffene Auto nicht am Straßenrand parkte, sondern dem Schützen entgegenkam. Dann ist neben der Geschwindigkeit des Polizeiautos auch die Geschwindigkeit des entgegenkommenden Autos bei der Bestimmung der Aufprallenergie der Kugel zu berücksichtigen.

Auf der anderen Seite erhält die Kugel ihre Bewegung durch den Impuls, der von der Waffe ausgeht. Dieser Impuls verändert sich in den verschiedenen Situationen nicht. Das heißt, die Geschwindigkeit, mit der sich die Kugel von der Waffe entfernt, wird durch die Geschwindigkeit des Autos nicht beeinflusst. In diesem Sinne ist sie absolut. Soll die Geschwindigkeit, mit der sich die Kugel von der Waffe wegbewegt, gemessen werden, dann müsste sich der Messende innerhalb des betrachteten Bezugssystems und dort in relativer Ruhe zum Gegenstand der Messung befinden. Das heißt, er muss sich mit der gleichen Geschwindigkeit und in dieselbe Richtung wie unser Schütze bewegen. Messungen, die von einem parkenden oder einem entgegen kommenden Auto vorgenommen werden, sind immer durch die relative Bewegung zwischen dem Messenden und dem Gemessenen beeinflusst. Würde man trotzdem eine Messung von außen, das heißt von außerhalb des Bezugssystems, versuchen, müssten die zusätzlichen Faktoren, die nun die Messung beeinflussen, separat bestimmt werden.

Über das Messen von Massen

Wie ist das mit den Massen, die kann man doch sicher eindeutig bestimmen, oder? Wieder scheint es recht einfach zu sein. Es gibt einen gültigen Maßstab, das Urkilogramm. Als Messinstrument nutzt man eine Waage. Waagen gibt es in verschiedenen Ausführungen. Eine sehr einfache Variante ist die Balkenwaage. Das zu wiegende Objekt wird in die eine Schale gelegt, in die andere Schale legt man Wägestücke, solange bis die Waage ausbalanciert. Die Gewichte der Wägestücke waren vorher mit Bezug auf das Urkilogramm bestimmt worden. Nun kann man die Gewichte der Wägestücke zusammenzählen und erhält das Gewicht des zu bestimmenden Objekts. Dabei wird augenscheinlich, dass das Messen ein Vergleichen ist, im konkreten Fall das Vergleichen des zu wiegenden Objekts mit dem Gewicht der Wägestücke.

Wer in Physik aufgepasst hat, wird vielleicht einwenden, dass Masse und Gewicht nicht dasselbe sind. Für die alltäglichen Messungen auf Erden kann der Unterschied zwischen Masse und Gewicht meist vernachlässigt werden, ansonsten hat diese Unterscheidung natürlich einen ernstzunehmenden Hintergrund. Das Gewicht wird der Masse durch die Schwerkraft verliehen, die selbst auf der Erde nicht überall völlig gleich ist. Größere Unterschiede würden wir im Vergleich zum Mond feststellen. Wäre dort unser Kilogramm weniger schwer, da doch die Schwerkraft geringer ist? Zur Ermittlung eines eventuellen Gewichtsunterschieds würde die Balkenwaage allerdings nicht weiterhelfen, da die Wägestücke ebenfalls an Gewicht verloren hätten. Was für ein Dilemma! Im Bezugssystem Mond entspricht unser Kilogramm wieder einem Kilogramm an Wägestücken. Kann das richtig sein? Natürlich ist das richtig, denn messen heißt vergleichen und vergleichen können wir nur Dinge, die sich im selben Bezugssystem befinden. Unsere Messungen auf dem Mond werden daher die gleichen Relationen zwischen den Gewichten verschiedener Objekte ergeben, wie wir sie von der Erde kennen. Wir wollen aber unbedingt das Kilogramm auf der Erde mit dem Kilogramm auf dem Mond vergleichen. Da man keine Waage bauen kann, deren eine Schale auf dem Mond platziert ist und die andere auf der Erde, muss ein anderer Weg gefunden werden. Man könnte eine andere Waage, eine Federwaage zum Beispiel, zur Hand nehmen. Benutzt man den gleichen Versuchsaufbau auf der Erde und auf dem Mond, dann wird die Federwaage auf dem Mond für das zu messende Objekt einen geringeren Wert anzeigen als auf der Erde. Na also, geht doch! Nur, was haben wir eigentlich verglichen? Wir haben die Schwerkraft auf der Erde mit der Schwerkraft auf dem Mond verglichen und nicht die Gewichte zweier Objekte, deren Messung ein gleichbleibendes Bezugssystem verlangen würde.

Bisher haben wir Massen anhand ihrer Gewichte unterschieden. Was machen wir aber, wenn Massen an Orten verglichen werden sollen, wo, wie im Weltraum, keine Gravitationskräfte wirken? Die Balkenwaage würde uns nicht weiterhelfen, die Wägestücke flögen einfach davon. Eine Federwaage wäre ohne Gravitationskraft, mithin ohne Gewicht der Massestücke, ebenfalls nicht von Nutzen. Eine Größe hätten wir noch, die auf Massen auch ohne Gravitationskraft Einfluss nehmen kann - Energie. Wirkt Energie auf eine Masse, dann wird sie in Bewegung gesetzt, zumindest, wenn die Energiemenge groß genug ist, um die Trägheit der konkreten Masse zu überwinden. Bei gleicher eingesetzter Energiemenge werden unterschiedlich große Massen unterschiedlich beschleunigt. Damit ergibt sich eine Möglichkeit, unterschiedlich große Massen zueinander ins Verhältnis zu setzen, das heißt, sie zu messen. Experimente haben bestätigt, dass die "schwere" Masse und die "träge" Masse gleich groß sind, das heißt, die auf die eine oder die andere Weise ermittelten Relationen der Massen zueinander sind identisch. Es wäre auch verwunderlich, wenn sie je nach Art der Messung unterschiedlich ausfallen würden, denn die Unterschiede zwischen träger und schwerer Masse liegen in den Messbedingungen beziehungsweise im Messverfahren begründet und nicht in der Natur der Sache selbst. Die Messung einer schweren Masse verlangt ein Bezugssystem, in dem Gravitationskräfte auf alle zu messenden Massen in gleicher Weise wirken, ihnen in gleicher Weise "Schwere" verleihen. Die Messung einer trägen Masse setzt wiederum die Einwirkung gleicher Energiemengen auf die zu vergleichenden Massen voraus, da diese dann unterschiedlich in Bewegung gesetzt werden.

Weltall Erde Mensch und Dialektik

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