Читать книгу OUTPOST - Gerd Frey - Страница 7
Time Erase
ОглавлениеPaul nannte den Mars auch gern den Planeten der gescheiterten Beziehungen. Kein normaler Mensch würde freiwillig seine Zeit hier verbringen. Früher gingen die Menschen ins Kloster, um sich eine Auszeit von der Welt zu nehmen. Heute flogen sie zum Mars.
Der Blick aus dem zerkratzten Cockpitfenster des kleinen Rovers wirkte trostlos und unspektakulär. Er hätte sich ebenso gut zwischen den endlosen Dünenflächen einer irdischen Wüste befinden können. Der Sand besaß vielleicht eine etwas rötlichere Tönung, doch dies konnte auch auf Einbildung zurückzuführen sein. Zumindest die Sonne brannte hier kleiner und stechender vom Himmel herab, als auf der Erde.
Die Werbefilme der EMP vermarkteten den Mars als großes Abenteuer für wagemutige Frauen und Männer. In Wirklichkeit bestand der größte Teil der hier verbrachten Zeit aus monotonen Reparatureinsätzen und dem Warten auf die nächste Havarie. Hinzu kam ein täglich zu absolvierendes Muskelaufbautraining von mehreren Stunden. Ohne dieses Training würde der Muskelapparat – der geringeren Schwerkraft wegen – innerhalb weniger Wochen spürbar an Masse verlieren. Spannend war dies allenfalls für Fitnessfanatiker.
Durch die dünne Atmosphäre konnte Paul schon von Weitem den Turm der automatischen Abbauanlage erkennen. Die sich vor dem helleren Hintergrund abzeichnende Silhouette erinnerte ihn ein wenig an den vor zwölf Jahren bei einem terroristischen Anschlag gesprengten Eiffelturm.
Seit zwei Stunden war er jetzt auf den Beinen. Das automatische Störungsposting hatte ihn nach nur vier Stunden Schlaf aus den Träumen gerissen. Ein Teil des Kühlsystems war ausgefallen und die Anlage arbeitete nur noch mit halber Leistung. Seinen Auftraggeber, die LMC, kosteten solche Ausfälle ein Vermögen. Die Unterhaltung eines marsianischen Außenpostens zählte noch immer zu den teuersten unternehmerischen Projekten weltweit. Regierungen allein konnten solch kapitalintensive Vorhaben schon lange nicht mehr stemmen. Fast alle demokratischen Länder der Erde waren inzwischen stark verschuldet und besaßen kaum noch wirtschaftlichen Einfluss. Die immer weiter erodierenden Staatengebilde verwalteten allenfalls die wachsende Armut und koordinierten regionale Ressourcenkriege, die von privat verwalteten Armeen geführt wurden. Die Privatwirtschaft war daher bei der Eroberung des Sonnensystems federführend.
Eine Erschütterungswelle durchlief den Boden. Im selben Augenblick schnellte eine silbern schimmernde Nadel aus der flachen Kuppel der Abbauanlage. Der winzige Punkt verlor sich im dunklen Marshimmel.
Die abgebauten und aufbereiteten Metalle wurden mittels einer Induktionsschleuder in Richtung Erde geschossen. Ein riesiges Projektil aus massivem Metall. Um Kurskorrekturen vornehmen zu können, verbaute man winzige Seitentriebwerke an dem Zylinder. Ein Fallschirm sorgte dann für eine weiche Landung auf der Erde.
Ohne einmal vom Kurs abzuweichen, setzte der Autopilot des Rovers die Fahrt fort. Etwa zwanzig Minuten von der Abbauanlage entfernt, stach plötzlich spitzes Pfeifen in seine Ohren. Dunkel huschte etwas durch sein Blickfeld. Kurz darauf eine rot leuchtende Explosion. Der Rover schlingerte, während Paul kräftig durchgeschüttelt wurde. Die Gurte schnitten schmerzhaft in seine Haut und die Sitzaufhängung ächzte unter der Belastung. Sekunden später kam das Fahrzeug zum Stehen. Stille. Eine rot blinkende Anzeige informierte über einen leichten Druckabfall. Erst jetzt spürte Paul, dass seine Hände verkrampft die Armlehnen umklammerten. Er lockerte den Griff. Lehnte sich zurück. In seinem Kopf drehte sich alles. Eine leichte Benommenheit, als hätte er in kurzer Zeit eine halbe Flasche Wein geleert.
Draußen lichtete sich langsam der hochgewirbelte Staub und die Konturen der Landschaft traten wieder hervor. Durch das Cockpitfenster erblickte er einen kleinen Krater, den es zuvor hier nicht gegeben hatte. Obwohl Meteoritenabstürze auf dem Mars nur unwesentlich häufiger als auf der Erde vorkamen, hatte er beinahe das Glück gehabt, von einem dieser kosmischen Vagabunden pulverisiert zu werden.
Sein Blick wanderte über die Bereitschaftsanzeigen. Bis auf den minimalen Druckabfall befand sich alles im grünen Bereich. Paul war gerade dabei, den Autopiloten neu zu starten, als er auf ein helles Flimmern aus dem Krater aufmerksam wurde.
Das Fauchen verstummte. Druckausgleich erfolgreich. Die Ausstiegsluke entriegelte sich mit einem deutlich vernehmbaren Klicken und öffnete sich automatisch. Er trat in dem silbern schimmernden Raumanzug ins Freie. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie einer jener legendären Marspioniere, die damals ohne Rückfahrkarte auf dem Planeten gelandet waren. Drei Monate später verursachte eine schwere Havarie einen Ausfall der lebenserhaltenden Systeme. Nach einer von den Medien bis zur Schmerzgrenze zelebrierten Trauerzeit waren die Menschen, die hier ihr Leben gelassen hatten, schnell vergessen.
Paul stapfte langsam auf den Krater zu. Durch die geringere Gravitation spürte er die Schwere des Raumanzugs kaum. Der Boden war recht fest und von unzähligen Steinbrocken übersät. Die Sonne stand in seinem Rücken und Paul warf einen meterlangen, scharf umrissenen Schatten, der bis an die Einschlagstelle des Meteoriten heranreichte. Der Krater hatte einen Durchmesser von ungefähr zehn bis fünfzehn Metern. Er näherte sich dem spitz aufgeworfenen Randbereich. Schaute hinein.
Sein Blick fiel auf eine weiß schimmernde Membrane, die den unteren Bereich der Kratersenke verschloss. Paul schwankte zurück. Er hatte viele Science-Fiction-Filme gesehen und bisher geglaubt, durch nichts so schnell aus der Bahn geworfen werden zu können. Doch es war etwas anderes, selbst dem Unbekannten gegenüberzustehen, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, was als Nächstes geschehen würde.
Seine wachsende Unsicherheit wegdrückend, tat Paul einen weiteren Schritt nach vorn. Im selben Augenblick glitt ihm der Boden unter den Füßen weg. Sand floss in schmalen Strömen in die Tiefe. Er verlor den Halt. Stürzte mit den Füßen voran nach unten. Mit den Händen versuchte er, seine Abwärtsbewegung zu stoppen. Doch er setzte nur noch mehr Sand in Bewegung. Sand, der ihn wie Wasser umfloss und mit ihm in die Tiefe rutschte. Alles in ihm begann sich zu verhärten, während sich seine Füße der Membrane näherten. Einen Augenblick lang fühlte er sich schwerelos. Seine Gedanken wirbelten.
Schließlich durchbrachen seine Füße die unruhig flackernde Fläche. Drangen nach und nach tiefer. Paul spürte nichts davon. Er hatte mit intensiven Empfindungen gerechnet. Einem Kribbeln oder einer Art Taubheitsgefühl. Doch er spürte nicht das Geringste. Die Membrane veränderte langsam die Farbe. Das flackernde Weiß begann aufzuwallen. Begann sich zu färben. Es wurde zu einem kräftigen Rot, welches langsam den Raumanzug hinaufkroch.
Plötzlich Schmerz. Glutrotes Brennen, das sich rasend schnell in seinem Körper ausbreitete. Schmerz, der ihn vollständig ausfüllte.
Paul schrie.
Dunkelheit.
Leises Rauschen.
Lichter schälten sich langsam aus der Schwärze.
Paul sah diese Lichter nicht wirklich. Er nahm sie wahr. Ohne das eingeschränkte Blickfeld seiner Augen. Er war nicht nur Mittelpunkt. Er war überall.
Die Lichter wuchsen. Die Lichtquellen waren in immer gleichen Abständen angeordnet. Ein riesiges dreidimensionales Raster.
Die Stille brach. Sein Name. Eine Stimme, die aus allen Richtungen zu kommen schien. Er versuchte, sie zu lokalisieren. Ergebnislos.
Eine der Lichtquellen veränderte sich. Sie pulsierte, wuchs an. In ihrem Inneren erkannte er unzählige Lichtfäden, in denen Ströme aus Energie flossen. Plötzlich begriff er so vieles.
Etwas zog ihn an.
Der Raum und die in endloser Wiederholung angeordneten Lichter … alles krümmte sich … verbog sich.
Er im Zentrum.
Licht, Energie, Geräusche, Palises, Korasus …
Alles strömte auf ihn zu.
Wissen. Begreifen. Evolution.
Stille. Absolut.
Zurückschrecken.
Gefühle. Unfühlbar.
Wissen. Unfassbar.
Er spürte, wie ihm alles genommen wird.
Verlöschen. Ablehnung. Zurückstoßen.
Dann … Dunkelheit.
Sterben.
Sterben …
… Paul stapfte langsam auf den Krater zu. Durch die geringere Gravitation spürte er die Schwere des Raumanzugs kaum. Der Boden war recht fest und von unzähligen Steinbrocken übersät. Die Sonne stand in seinem Rücken und Paul warf einen meterlangen, scharf umrissenen Schatten, der bis an die Einschlagstelle des Meteoriten heranreichte. Der Krater hatte einen Durchmesser von ungefähr zehn bis fünfzehn Metern. Er näherte sich dem spitz aufgeworfenen Randbereich. Schaute hinein. Der Mittelpunkt des Kraters lag im Dunkeln. Er schaltete den Helmscheinwerfer ein und ließ den Lichtkegel über den staubigen Boden wandern. Paul hatte mit etwas Metallischem gerechnet. Ein vergessenes Wrackteil vielleicht, das am Rand des Kraters das Sonnenlicht reflektiert hatte. Doch da war nichts. Hier gab es nur einen von vielen langweiligen Kratern, wie sie den Mars zu Tausenden bedeckten.
Paul schaltete den Helmscheinwerfer aus und machte sich auf den Rückweg zum Rover. Wie ein riesiger Urzeitkäfer, durch das Gegenlicht nur als Schattenriss erkennbar, stand das Gefährt in der Landschaft.
Paul drehte sich noch einmal um. Ihn beschlich das eigenartige Gefühl, etwas vergessen zu haben. Eine Ahnung, von etwas Wichtigem. Doch da war nichts.
Leise ein Lied summend, setzte er seinen Weg fort.