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Von einer Maus, die auszog, Politiker zu werden

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Nicht weit von hier, am anderen Ufer, liegt unsere Mäusekolonie. Früher einmal zählte sie an die siebentausend Mäuseschwänze. Wir führten ein glückliches, sorgenfreies Leben, heirateten, zogen unsere Kinder groß, wurden Groß und Urgroßväter, kurz, es ging uns gut. Eines Tages, ich erinnere mich noch genau, an einem regnerischen Frühlingstag, war es mit dem Frieden vorbei.

Ab und zu war es schon immer einmal vorgekommen, dass eine Maus, die frühmorgens zum Essenholen in die Stadt ging, am Abend nicht wieder nach Hause kam. Das war normal, wenngleich es für die Angehörigen, und ganz besonders für die Kinder, sehr, sehr traurig war. Aber niemand machte sich deswegen für das Wohlergehen der Kolonie große Sorgen.

An jenem Tag aber, ich glaube, es war der siebzehnte des internationalen Mäusekalenders, kehrten abends einundachtzig unserer Mitmäuse nicht in ihre Höhlen zurück. So etwas hatte es seit Generationen, genauer seit den großen Regenfällen im Jahre einundsiebzig, nicht mehr gegeben.

Was war geschehen? Wo waren sie geblieben? Kinder riefen nach ihren Eltern, Großväter nach ihren Enkeln, Gatten nach ihren Gattinnen und die verliebten jungen Mäuseriche warteten vergebens auf ihre Mäuslein. Die Verwandten der Vermissten nahmen die Kinder in ihre Höhlen und gaben ihnen zu essen.

Fragen auf Fragen wurden gestellt, doch niemand war in der Lage Antworten zu geben. Am folgenden Tag und in der darauf folgenden Woche verschwanden hunderte von treu sorgenden Eltern. Es war erschreckend. Kaum eine Maus, die sich morgens in die Stadt aufgemacht hatte, kehrte Abends wohlbehalten wieder zurück. Und wenn sie zurückkehrten, stand die nackte Angst in ihren Gesichtern.

Mäuse gehören zu den arglosesten Geschöpfen unter der Sonne, doch die Angst, spurlos zu verschwinden, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Kolonie. Nach einer Woche des Schreckens wagte sich keine Maus mehr, alleine auf Futtersuche zu gehen. Doch auch Gruppen zu zehnt kehrten oft nur vereinzelt oder überhaupt nicht mehr zurück.

Allmählich wurde die Lage kritisch. Verängstigt saßen ganze Sippen, oder das, was von ihnen übrig war, in ihren Höhlen und wagten sich nicht mehr vor den Eingang. Zwar lagen in den meisten Höhlen Vorräte für mehrere Tage, so dass man anfangs keinen direkten Hunger zu leiden brauchte, doch niemand hatte um diese Jahreszeit große Vorräte angelegt. Schließlich war der Winter gerade vorbei. Die Vorräte schwanden schnell, und schon hörte man aus einigen Höhlen das klagende Betteln der Kinder nach einem Krümel Käse. Bald kam der Tag, an dem die Säuglinge an den trockenen Brüsten der Mütter saugten. Kein Tropfen kam mehr hervor. Hunger und Angst hatten die Milch versiegen lassen.

Die Stimmung in der Kolonie verschlechterte sich stündlich. Eltern schrieen ihre bettelnden Kinder an, Gattinnen warfen ihren Gatten vor zu feige zu sein, um Nahrung zu beschaffen, und unter den Nachbarn neidete einer dem anderen das letzte Krümelchen verschimmelten Brotes.

Drei Wochen waren inzwischen ins Land gegangen, ohne dass es einen Tag ohne Katastrophen gegeben hätte, und noch immer konnte niemand mit Sicherheit sagen, was eigentlich die Ursache für das Mäuseverschwinden war. Das Einzige, was als sicher galt, war die Tatsache, dass die Mäuse in der Stadt verschwanden. Immer häufiger tauchten immer grausamere Geschichten von Verschwundenen auf. Mal waren Mäuse von riesigen schwarzen Untieren gefressen worden, mal waren sie in unendlich tiefe Gruben gefallen, mal waren sie, eingehüllt in eine grüne Gaswolke, elend verreckt. All diese Geschichten hatten nur einen Nutzen, nämlich den, dass die Angst vor der Stadt noch wilder um sich griff. Schließlich, als die Lage auf dem Versorgungssektor die Kolonie in einen Abgrund zu stürzen drohte, trat der Rat der Weisen zu einer Sondersitzung zusammen.

Der Rat der Weisen besteht aus zwölf mit allen Auszeichnungen versehenen Mäusinnen und Mäusen, die sich in ihrem Leben durch besondere Umsicht und Beschlagenheit im Umgang mit Menschen hervorgetan haben. Das Alter einer Maus spielt im Übrigen keine Rolle, um in den Rat aufgenommen zu werden.

Volle achtundsechzig Stunden lang tagte der Rat in Dauersitzung. Er lud hunderte von Augenzeugen vor, die angeblich eine Katastrophe mit angesehen hatten und hörte sich ebenso viele Geschichten an. Ratsschreiber notierten die wichtigsten Details der Geschichten und schließlich, nachdem der letzte Augenzeuge gehört worden war, versuchten die Ratsmitglieder, Erdichtetes von Wahrem zu trennen, um so zu einem einigermaßen wahrheitsgetreuen Bild von der Katastrophe zu gelangen. Am Anfang der neunundsechzigsten Stunde trat der Ratssprecher vor die große Ratshöhle und verkündete dort den wartenden Mäusen:

„Heute Abend, wenn die Sonne das Gras berührt, wird der Rat seine Beschlüsse verkünden. Jede Maus unserer Kolonie, die laufen und hören kann, wird aufgefordert, im eigenen Interesse bei der Beschlussverkündung zu erscheinen. Ort der Verkündung wird das große Weidengebüsch sein. Der Rat ist der Ansicht, dass dies im Augenblick der einzige Ort ist, der die Sicherheit einer solchen Versammlung garantiert.“

Der Abend nahte, die Sonne senkte sich und alle Mäuse, selbst diejenigen, die nur noch schlecht zu Pfote waren, machten sich auf zum großen Weidengebüsch. Pünktlich zur angegebenen Zeit teilte sich der dichte Weidenvorhang hinter dem erhabenen Verkündigungsplatz und der Rat trat auf.

Totenstille.

Selbst die Vögel schwiegen. Fallende Blätter konnte man durch die Luft segeln hören. Der Ratsälteste, eine in Ehren ergraute Maus, trat vor. Er stellte sich auf die Hinterpfoten und hielt ein goldgelbes Kastanienblatt in die Höhe. Mit lauter Stimme las er von dem Blatt:

„Freunde, Mitmäusinnen und Mitmäuse. Aus uns allen bekannten Gründen wollen wir es kurz machen. In den vergangenen Stunden haben wir alles an Informationen zusammengetragen, uns jede einzelne Geschichte angehört und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft.

Die Bilanz ist erschreckend.

- Mitmäusinnen und Mitmäuse -

Es ist uns gelungen, herauszufinden, was sich die letzten Wochen ereignet hat!“

Es folgte eine lange, andächtige Pause. Man sah ihm an, dass es ihm schwer fiel, weiter zu reden. Mit belegter Stimme sprach er dann:

„Die Menschen haben eine, wie sie es nennen, Offensive gegen uns gestartet. Hunderte unserer Schwestern und Brüder, Väter und Mütter, Kinder und Kindeskinder, haben sie schamlos dahingemeuchelt. Elend sind sie zugrunde gegangen. Und woran? An Gift!“

Wieder legte er eine lange Pause ein. Ein Raunen ging durch die Menge. Der alte Weise hob die Pfote und gebot Ruhe.

„Wir können mit Sicherheit sagen, dass vergiftete Lebensmittel ausgestreut wurden“, sprach er weiter.

„Lebensmittel, die unsere Schwestern und Brüder arglos fraßen. Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass viele unserer Nachbarn Fleisch zu sich nahmen, das von Ferne wie reifer Käse duftete. In Wahrheit war es verrottetes, vergiftetes Aas. Andere fielen auf herumliegende Mandelerbsen herein. Das sind kleine Kügelchen, die wie junge Erbsen aussehen aber nach Mandeln duften. Außerdem gibt es noch Giftbomben, die besonders hinterhältig sind. In allen möglichen Ecken liegen kleine Kapseln herum, die ohne Grund explodieren. Sie enthalten ein tödliches Gift.

Augenzeugen berichteten, dass man ein leises Zischen hört, und jeder, der nicht schnellstens den Raum verlässt, stirbt einen jämmerlichen, qualvollen Tod.

- Mitmäusinnen und Mitmäuse-

prägt euch diese Dinge gut ein!

- Esst kein vergiftetes Fleisch, auch wenn es noch so gut duftet!

- Wenn ihr irgendwo eine Erbse liegen seht, lasst sie liegen, es gibt genügend andere Lebensmittel

- Haltet euch nur so lange wie unbedingt nötig in geschlossenen Räumen auf.

Das ist alles, was der Rat an Sofortmaßnahmen vorschlagen kann.

Allerdings hat der Rat beschlossen, längerfristig etwas gegen die Heimtücke der Menschen zu unternehmen.“

Mit diesen Worten trat er ab und machte einem jüngeren, als ungestüm bekannten, Ratsmitglied Platz.

„Mitmäusinnen und Mitmäuse“, rief der jüngere mit lauter, hasserfüllter Stimme.

„Ich frage euch in aller Offenheit und ich erwarte von euch eine ehrliche Antwort. Wollen wir uns das bieten lassen? Wollen wir uns niedermeucheln lassen von denen, die unwürdig sind uns den Käse zu reichen? Ihre primitiven Fallen haben wir lange durchschaut und jeder Säugling weiß heute, wie man an den Käse kommt, ohne dass die Falle zuschnappt.

Freunde!

Sie sind mit ihrer Weisheit am Ende, deshalb setzen sie Gift ein.

Ich frage euch:

WAS HABEN WIR IHNEN GETAN?“

Rufe: „Nichts!“

„Sind nicht wir es, die ihren Müll wegräumen?

Was macht sie so arrogant? Haben sie eine höhere Daseinsberechtigung als wir? Wer gibt ihnen das Recht tausende und abertausende von uns grausam zu ermorden?“

Rufe : „NIEMAND!“

„Freunde - wollt ihr von Menschenhand vergiftet in irgendeinem Loch verenden?“

„NEIN!“

„Dann frage ich euch noch einmal: WOLLEN WIR UNS DAS BIETEN LASSEN?“

„NEIIIIIN“, erscholl es aus der Menge.

„Freunde -Mitmäusinnen und Mitmäuse, dann erkläre ich euch hiermit, dass wir eine Gegenoffensive starten werden.

SEID IHR DAMIT EINVERSTANDEN?“

„JAAAAA!“

„Wollt ihr sie vernichten?“

„JAAAAA!“

„Wollen wir uns ihnen in den Weg werfen, wo immer wir können?“

„JAAAA!“

„Dann erkläre ich hiermit feierlich“, er hob die rechte Vorderpfote, „dass wir dem Feind Mensch wacker ins Auge sehen werden und ihn schlagen werden, wann immer es in unseren Kräften steht.“

Er streckte die Pfote schräg nach vorne und rief:

„HEIL UNSEREM SIEG!

HEIL DEM FRIEDEN UND DER FREIHEIT ALLER GESCHÖPFE UNTER DER SONNE!

UNTERGANG JENEN MENSCHEN, DIE UNS MIT GIFT BOMBARDIEREN!

DENN WISSET, NICHT ALLE MENSCHEN SIND SCHLECHT.

HEIL UNS MÄUSEN!

HEIL!

HEIL!

HEIL!“

Alle versammelten Mäuse hoben die rechten Vorderpfoten, streckten sie schräg nach vorne und brüllten ebenfalls:

„HEIL UNS MÄUSEN!

HEIL!

HEIL!

HEIL!“

Das junge, etwas ungestüme Ratsmitglied winkte noch einmal zum Gruß und trat zackig ab.

Man konnte den frischen Mut förmlich in den Gesichtern sehen.

Alle Versammelten wirkten fröhlicher und freier, ja fast glücklich. Für den Moment war die Gefahr vergessen. Ein anderer Sprecher trat auf und hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Alles plapperte wild durcheinander.

Endlich wurde es wieder still und er begann zu sprechen.

„Freunde, es ist schon viel gesagt worden. Wir haben beschlossen gegen die Menschen zu ziehen und uns nicht alles bieten zu lassen.

Habt ihr euch auch darüber Gedanken gemacht, wie wir das anstellen wollen?

Hat auch nur einer von euch einen Vorschlag zu machen, wie wir die Menschen dazu bewegen können, kein Gift mehr zu streuen?

Denn über eines müssen wir uns im Klaren sein.

Wir können genauso wenig ohne die Menschen leben, wie sie ohne uns.“

„BUHHHHH“

Der Sprecher ließ sich von den unflätigen Zwischenrufen einiger aufgebrachter Jungmäuse nicht aus der Ruhe bringen.

„Ja, es ist wahr. In unserer heutigen modernen Zivilisation können wir es uns nicht erlauben, einen Krieg mit den Menschen anzufangen. Wir brauchen sie und ihre Vorräte, und sie brauchen uns, um ihren Unrat zu beseitigen.“

„BUUHHH“

„Seht euch doch an. Seht euch alle genau an. Wie sehen eure Bäuche aus. Sind sie prall und rund, oder habt ihr Hunger?“

Stille.

„Ja, ihr habt hundsgemeinen Hunger. Deswegen dürfen wir nicht übereilt an die Sache herangehen. Kampf gegen den Hochmut der Menschen. Alles schön und gut, aber alles zu seiner Zeit. Im Augenblick ist es für uns wichtiger, ihre Fallen zu erkennen und große Vorräte an Lebensmitteln anzulegen. Keine Maus ist mit leerem Magen mutiger als mit vollem. Seid klug und erkennt die Fallen der Menschen.

Das ist alles, was ich zu sagen habe.“

Die Mäuse waren nachdenklicher geworden. Aber sie hatten keine Zeit lange über die Worte zu sinnieren, denn schon stand der nächste und letzte Redner auf der Bühne.

„MÄUSE!“; brüllte er mit scharfer Stimme, so dass viele unwillkürlich den Kopf einzogen.

„Ihr habt Reden gehört, habt in eurem Übermut einen Beschluss gefasst, und seid dann nachdenklich geworden.

Mit elf Stimmen gegen eine, die den sofortigen Krieg wollte, hat der Rat folgendes beschlossen.

Wir wollen die Menschen dazu zwingen, dass sie uns als gleichberechtigte Geschöpfe unter der Sonne ansehen. Dazu brauchen wir Wissen, denn nicht zuletzt heißt es: Wissen ist Macht.

Wir müssen ihre Wissenschaften erlernen, um neben ihnen bestehen zu können. Erst wenn wir die wichtigsten Gebiete ihrer Lehren gründlich studiert haben, wird es uns möglich sein, einen Krieg mit ihnen zu beginnen.

Freunde, im Vergleich zu ihnen sind wir schwach. Körperlich zumindest. Doch unser Wille ist stark.

Der Rat hat beschlossen, fünf Mäuse aus unserer Mitte auszuwählen und sie auf eine weite Reise in ihre wissenschaftlichen Zentren zu schicken.

Fünf Mäuse für ihre fünf wichtigsten Wissenschaften.

Eine Maus soll in die Politik gehen, und alle Tricks und Schliche erlernen, die man kennen muss, um sämtliche Mäuse der Region zu einer schlagkräftigen Truppe zusammen zu schließen.

Eine Maus in die Medizin, um unsere Verwundeten und Kranken zu heilen.

Eine in die Technik, um ihre wunderbaren Maschinen zu verstehen.

Eine in die Wirtschaft, um ihren Handel zu begreifen, und eine soll zum Militär gehen, um die Taktik der modernen Kriegsführung zu ergründen, damit wir schon im Voraus wissen, was der Gegner plant.

Sobald die fünf der Meinung sind, dass sie alles Wesentliche gelernt haben, sollen sie zurückkehren und alle anderen mit ihrem Wissen unterrichten.

Dann meine Freunde, erst dann sind wir bereit.

Dann können wir den Kampf beginnen und dann-

WERDEN WIR AUCH SIEGEN!“

Jubel, unbeschreiblicher Jubel brach aus. Wer gedacht hätte, das samtweiche Mäusepfötchen nicht auf den Boden stampfen können, dass die Erde bebt, hat sich gewaltig getäuscht. Volle zehn Minuten dauerte es wohl, bis die Menge sich wieder beruhigte. Schließlich, die Mäusemenge machte immer noch einen schaurigen Lärm, trat der Ratssprecher wieder auf die Bühne, hob kurz die Vorderpfote und augenblicklich kehrte Stille ein.

„Mäuse, seid vernünftig“, sprach er mit ruhiger, klarer Stimme, „wir wollen den Feind nicht eher wecken, als bis wir zum Kampf bereit sind. Ihr aber weckt mit eurem Getöse die ganze Stadt auf. Geht in Ruhe nach Hause und freut euch, dass wir es geschafft haben, eine Entscheidung zu treffen, die uns auf lange Sicht viel Kummer ersparen wird.

Und nun zum letzten und endgültigen Punkt:

Alle tapferen und intelligenten Mäuse, die jung genug sind eine solche Reise zu überstehen, und die sich zutrauen, zu den Menschen zu gehen und von ihnen zu lernen, mögen sich anschließend in der Ratshöhle melden.“

Die Versammlung löste sich schweigend auf. Minuten später war der Platz wie leergefegt. Nur noch das zertretene Gras ließ vermuten, dass an diesem Ort eine der größten Mäuseversammlung seit vielen, vielen Jahren abgehalten worden war.

„Ich will es kurz machen“, sprach Tom, „ich bewarb mich neben hundert anderen Mäusen und wurde für den Bereich Politik ausgewählt.

Schon am nächsten Tag rüsteten wir uns für die lange Reise.

Die letzten Krümel wurden aus den Vorratshöhlen zusammen getragen und uns als Proviant mitgegeben. Der Rat erteilte jedem von uns streng geheime Instruktionen und zwei Tage später brachen wir in fünf verschiedene Richtungen auf, um nicht zufällig gemeinsam in eine Falle zu laufen.

Ich sage euch, Politik ist ein schwieriges Geschäft, denn selbst im Privatleben verhalten sich Politiker politisch und sprechen nie das aus, was sie wirklich denken. Man muss in der Lage sein, sich in die Gehirnwindungen eines Politikers hineinzuversetzen um ihn zu verstehen, denn schließlich setzt Lernen Verstehen voraus.

Es hat einige Zeit gedauert, doch ich sage euch, es ist mir gelungen, hinter die Käserinde zu kommen. Man braucht viel Pfotenspitzengefühl, um sich zwischen all den unnützen Worten zum Kern der Sache durchzuschlängeln.

- In medias res gehen -, wie der Lateiner sagt.

Vor meiner Abreise versuchte ich mir einen Plan zu machen, wie ich vorgehen wollte. Im Grunde war der Plan ganz einfach, denn ich sagte mir: Einfachheit zeichnet gute Pläne aus.“

„Zuerst“, dachte ich, „suchst du den Ort wo Politik gemacht wird, dann gehst du hin und lernst alles, was man über Politik lernen kann.“

Der Plan ging auf. Er musste aufgehen, einfach wie er war.

Die Durchführung meines Planes war allerdings weit komplizierter, als ich mir in meinen kühnsten Jung-mäuseträumen vorgestellt hatte. Teil eins meines Planes, festzustellen, wo die große Politik gemacht wird und dorthin zu gehen, war leicht. Nachdem ich einen Tag gewandert war, glaubte ich weit genug von der Stadt des Grauens entfernt zu sein und beschloss, mich bei den Menschen umzusehen. Gegen Abend erreichte ich ein kleines Dorf. In der Dämmerung suchte ich mir ein großes Haus, von dem aus ich mit meinen Nachforschungen beginnen wollte. Die Nacht brach herein und ich schlich durch ein offenes Kellerfenster ins Innere.

Ach du je, dachte ich, nachdem ich mich gründlich im Keller umgesehen hatte. In jeder Ecke stand mindestens eine Mausefalle. Die Fallen mussten schon seit Jahren dort stehen, denn in einigen der Fallen war der Käse derart vertrocknet, dass er nicht mehr das leiseste Düftchen von sich gab.

„Wo bin ich hier nur gelandet“, dachte ich. Es hatte ganz den Anschein, als ob die Bewohner ausgesprochene Mäusefeinde wären. Im Allgemeinen ist das bei Menschen nichts Neues, aber die Menge an Mausefallen, und die Tatsache, dass kein einziges Käsestückchen angenagt war, war mir unheimlich. Ich wollte das Haus schon wieder verlassen, um mir einen gemütlicheren Ort zu suchen, als plötzlich die Kellertür aufging und eine Frau, auf Beinen wie dreißigjährige Fichtenstämme, die Treppe hinunterschaukelte. Aus einer dunklen Ecke heraus beobachtete ich die Frau. Ich sah ihr tief in die Augen, sah wie sie ging, wie sie schnaufte. Keuchend blieb sie vor dem großen Kellerregal stehen, fuhr mit dem rechten Zeigefinger die Etiketten der Einmachgläser ab und zog dann ein Glas Sauerkirschen vom vorletzten Jahr heraus. Das Glas unter den rechten Arm geklemmt, mit der linken hielt sie sich am Geländer fest, stemmte sie sich wieder die Treppe nach oben.

„Tom“, sagte ich mir, „das kann nicht sein. Diese Frau ist keine potentielle Mörderin. Die Fallen sind Abschreckung. In diesem Haus gibt es so viel zu futtern, dass es keine Maus nötig hat an die Fallen zu gehen.“

Man fand es übrigens früher oft, dass Mausefallen zur Abschreckung aufgestellt wurden. Eine besonders grausame Art der Abschreckung war es, wenn die Menschen eine Mäuseleiche in der Falle hängen ließen, und die dann langsam vor sich hin moderte. Widerlich, sage ich euch, - wiiiderlich!

Ich habe schon Mäuse kotzen sehen, wenn sie unvermittelt auf so eine Abschreckungsfalle gestoßen sind. Gut, ich beschloss also, bei der nächsten Gelegenheit in die Wohnung zu schlüpfen.

Kein Problem für mich. In dem Haus gab es weder Katze noch Hund, noch fest verschlossene Türen. Zwei Stunden später saß ich behaglich hinter der Schrankwand des Wohnzimmers. Schlau wie eine Politikermaus sein muss, besorgte ich mir in der Speisekammer rasch Vorräte für die nächsten Tage, so dass ich mein Versteck nicht unnötig zu gefährlichen Streifzügen verlassen musste.

Die Vorsorge war überflüssig. Schon am nächsten Abend erfuhr ich alles was ich wissen musste. Dazu sollt ihr wissen, dass die Menschen die seltsame Angewohnheit haben, sich abends vor einem Kasten, den sie Fernseher nennen, zu versammeln, um sich vom Geschehen in der Welt berichten zu lassen. Das tat natürlich auch meine Gastfamilie. So erfuhr ich an einem Abend weit mehr, als mein unerfahrenes, junges Gehirn verkraften konnte. Das wichtigste merkte ich mir und verließ das Haus. Natürlich nicht, ohne mich vorher kräftig mit frischem Reiseproviant versorgt zu haben. Ich wanderte gen Berlin.

Berlin, so heißt die Stadt, in der sie die hohe Politik verkaufen.

Nach gut einer Woche Wanderschaft gelang es mir, mich einem Obsthändler anzuschließen. Zwischen Salatköpfen versteckt, die voller Würmer waren, wurde ich direkt zur Berliner Großmarkthalle gefahren. Vom Großmarkt zum Parlament, so heißt der Ort der Politik, war ein Jungmäusespiel. Einen Tag trieb ich mich auf dem Großmarkt herum. Übrigens für Mäuse ein sehr, sehr gefährlicher Ort, es wimmelt dort nur so von Katzen und Fallen, sehr, sehr hinterhältigen Fallen. Ich brachte in Erfahrung welcher Gemüsehändler das Parlament belieferte, und sprang auf seinen Kleinlaster.

An den Toren zum Parlament wurden der Gemüsehändler und sein Beifahrer strengstens kontrolliert. Nahezu zehn Minuten verbrachten die beiden in einem Kontrollhaus. Während dieser Zeit sahen sich auch zwei Uniformierte den Laderaum an und stocherten mit langen Stäben in den Gemüsekisten herum. Was sie suchten weiß ich bis heute nicht. Als sie genug gestochert hatten, nickten sie, sagten „OK“, und gingen.

Auf eine kleine Maus achtete natürlich keiner.

Der Gemüsetransporter fuhr durch das gesicherte Parlamentsgelände und hielt an einer Laderampe.

„Tom“, sagte ich mir, „es ist Zeit dein Taxi zu verlassen.“ Ich hatte nicht die geringste Lust in einem Kühlhaus eingesperrt zu werden. Mit einem Kühlhaus hatte ich in meiner jüngsten Jugend eine innige Bekanntschaft gemacht. Damals duftete es so verlockend und intensiv aus einer offenen Kühlhaustüre, dass ich kurz entschlossen hineinschlüpfte und drei ganze Tage in der eisigen Kälte verbringen musste. Beinahe wäre ich dabei erfroren.

Einmal und nie wieder, sagte ich mir und sprang vom LKW. Gleich neben der Auffahrt befand sich eine säuberlich gestutzte Hecke. Ich schlüpfte hinein, hockte mich auf ein abgebrochenes Ästchen, verschnaufte ein wenig und dachte über mein weiteres Vorgehen nach. Schließlich war ich nach Berlin gekommen, um Politik zu lernen, und nicht, um in einer Hecke auf einem Ästchen zu sitzen.

Dass ich ohne Schwierigkeiten in den heiligen Tempel der Politik gekommen war, kam mir nicht in den Sinn. Zu meiner Entschuldigung muss ich wohl sagen, dass ich damals noch nicht wusste, dass dies wahrscheinlich der bestgesicherte Ort im ganzen Land ist. Ziemlich ratlos, wie ich weiter vorgehen sollte, saß ich in der Hecke. Zum Nachdenken blieb mir allerdings keine Zeit. Plötzlich tappte mir eine Pfote von hinten auf die Schulter und eine ziemlich unfreundliche Mäusestimme fragte:

„Was zum Katzenauge machst du denn hier?“

Stocksteif saß ich auf meinem Ästchen und hielt die Luft an.

„Woher kommt die Maus?“, fragte ich mich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es außer mir noch andere Mäuse im Parlament gab.

„Weit gefehlt“, sage ich euch. Selten einmal habe ich mich so getäuscht wie damals. Es gab tausende von mehr oder minder politischen Mäusen. Aber längst nicht alle waren daran interessiert, die hohe Kunst der Politik zu lernen. In der großen Mäusekolonie des Parlaments waren alle politischen Schattierungen vertreten. Es gab linke Mäuse, rechte Mäuse, reinrassige Politikermäuse, teilweise schon in der zehnten Generation, politische Clans, Cliquen und Sekten und sogar ein voll funktionierendes Mäuseparlament, mit frei gewählten Abgeordneten, das alle Instanzen von Recht und Gesetz in der Mäusepolitik vertrat.

Daneben gab es haufenweise Schmarotzer, die die hohen Politiker umschwärmten wie die Fliegen den Kuhfladen. Sie lebten von den Brocken, die die hochpolitischen fallen ließen. Es gab ein ganzes Heer von Wachpersonal, das darüber wachte, dass das Parlament, das Mäuseparlament, bei seiner Arbeit nicht gestört wurde. Besonders beliebt war der Beruf des Textschreibers für die hochpolitischen. Die alten erhabenen Politikermäuse waren oft derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie einfach keine Zeit für ihre Reden hatten. Sie verpflichteten dann eine treu ergebene Maus dazu, ihnen die Reden nach den Barthaaren zu schreiben, und zwar so, dass sie ohne vorherige Kontrolle im Parlament vom Blatt gelesen werden konnte.

Als politisch ungebildeter Jungmäuserich kam ich also in diese hohe Welt der Politik. Der Posten, der mich in der Hecke aufgestöbert hatte, brachte mich ohne Umschweife zur Arbeitseinteilungskommission. Die A.K., so wurde sie kurz genannt, teilt alle rangniederen Arbeiten ein und überwacht die zuverlässige Ausführung der zugeteilten Arbeit.

Der zuständige Beamte musterte mich mit geschultem Blick, stellte fest, dass ich jung, kräftig und durchtrainiert war und steckte mich als Tragemaus in die Nahrungsmittel-beschaffungskolonne.

Wie ich schon erwähnte, ist die Welt innerhalb des Parlamentsgeländes vollständig nach außen hin abgeschirmt. Auf dem Gelände selbst findet man so gut wie keine Lebensmittel, es sei denn, man geht direkt in die Höhle des Löwen, in das Parlamentsgebäude. Um den reibungslosen Tagesablauf und das Überleben von tausenden von Mäusen zu sichern, hatte man ein selbstständig arbeitendes Nahrungsmittelbeschaffungskommando gebildet. Drei Wochen blieb ich in der Kolonne, verrichtete von morgens sieben Uhr bis nachmittags um fünf meinen Dienst und sah mich dann, nach Dienstschluss auf dem Gelände um. Mein Ziel war, so schnell und so gefahrlos wie möglich in das Zentrum der Politik, nämlich ins Parlamentsgebäude, zu kommen.

Freilich hatte ich zuerst ins Auge gefasst, mich von unseren eigenen hochkarätigen Politikern unterrichten zu lassen, aber für die innermäusliche Ausbildung gab es lange Wartelisten, und auch dann war es noch höchst ungewiss, ob man so eine Ausbildung absolvieren konnte, denn die Prüfung, die man ablegen musste war hart. Der diensthabende Ausbildungsleiter erklärte mir, dass ich mindestens drei Jahre warten müsste, wenn ich mich sofort mit Dringlichkeitsstufe eins anmeldete. Und das wäre dann nur die Vorschule zur Grundausbildung gewesen. Dazu kam noch, dass ich keinerlei Referenzen besaß, ich hätte mich also gar nicht mit Dringlichkeitsstufe eins anmelden können.

Also entschloss ich mich, es auf direktem Wege zu versuchen. Nach drei Wochen also, und etlichen intimen Gesprächen mit einer ziemlich pikierlichen Hundedame hatte ich zumindest den Weg ins Parlamentsgebäude gefunden. Meine angeborene diplomatische Ader und meine Redegewandtheit halfen mir, den Weg zu finden. Schon immer hatte ich mich mit Hunden ausgesprochen gut verstanden. Nicht zuletzt deshalb, weil sie mir mehr als einmal aus peinlichen Situationen mit Katzen herausgeholfen hatten.

Mein Leitspruch war schon von Kindesbeinen an:

„Bist du klein und intelligent und stehst einem gefräßigen Kater gegenüber, dann helfen dir nur Diplomatie oder ein neurotischer Hund.“

Während meiner Suche nach einem geeigneten Weg ins Parlamentshaus geriet ich auch auf den großen Politikerparkplatz. Suchend lief ich zwischen den glänzenden, schwarzen Karossen umher, als plötzlich hinter einer Panzerglasscheibe die Nase einer gelangweilten Hundedame auftauchte. Ich grüßte sie, wie es meine Art ist, mit einem kurzen Hallo, und sie bellte freudig zurück.

Ganz bestimmt hätte sie eine Unterhaltung mit mir naserümpfend abgelehnt, hätte sie sich unter ihresgleichen befunden, aber wenn man ganz allein in einer gepanzerten Staatskarosse sitzt, nimmt man jede Gelegenheit, sich die Zeit zu vertreiben, wahr.

Als sie auf die Rücksitzlehne sprang und mich in ein oberflächliches Gespräch über das Wetter verstrickte, sah ich, dass ihr Fell ordentlich frisiert war. Sie konnte also kein verwahrloster Straßenköter sein, der durch irgendeinen dummen Zufall in diese Karosse gelangt war. Ihre Ohren waren dauergewellt und im säuberlich ondulierten Schweif trug sie ein rosa Schleifchen. Durch lange, umständliche Gespräche über Gott und die Welt erfuhr ich, dass sie täglich von morgens bis mittags im Wagen saß und auf ihr Herrchen wartete. Zum Mittagsmahl wurde sie in die Kantine gebracht. Nach dem Essen brachte sie ein Bediensteter wieder zurück zum Wagen, wo sie erneut bis zum Abend wartete. Ein recht eintöniges Leben, wenn ihr mich fragt, aber was tut man nicht alles, um nur irgendwie mit dabei zu sein.

Wie ich diese Hundedame, die, wie gesagt, recht pikierlich war, dazu brachte, das zu tun, was sie getan hat, weiß ich bis heute noch nicht. Jedenfalls hat sie es getan.

Eines Abends verabredete ich mich mit ihr zur Mittagszeit. Beim Führer der Nahrungsmittelbeschaffungskolonne meldete ich mich krank, damit mein Fehlen nicht auffiel und ich wegen Arbeitsunlust des Parlaments verwiesen wurde. Immerhin konnte ja etwas schief gehen, und ich musste mich nach einer anderen Möglichkeit ins Gebäude zu kommen umsehen. Ich kam also zu unserer Verabredung, zeigte mich der Hundedame kurz, um ihr zu zeigen, dass ich da war, und verbarg mich dann hinter einem Autoreifen.

Pünktlich auf die Minute kam ein schlecht genährter, aber gut gekleideter Mensch auf die Limousine zu. Er öffnete den Schlag, das heißt die hintere Tür, und meine Hundedame sprang ins Freie. „Komm mein Mausi, gleich gibt es was zu fressen“, säuselte er mit süßer Stimme. Die Hundedame sprang an ihm hoch, wedelte wie verrückt mit ihrem rosa Seidenschleifenschwänzchen und bellte, dass mir fast das Trommelfell platzte. Als die Begrüßungszeremonie vorüber war, blieb sie verabredungsgemäß eine Sekunde länger als üblich stehen und zwinkerte mir zu.

Das war mein Zeichen. Blitzschnell schlüpfte ich hinter dem Reifen hervor und krabbelte zwischen ihre Hinterbeine. Ich krallte mich in ihren zottigen Beinhaaren fest und sie senkte ihr Schwänzchen, damit ich nicht von hinten gesehen werden konnte. Dann trabte sie los, immer neben ihrem Herrchen her. Tja, meine Freunde, auf diese Weise schmuggelte sie mich ins Parlament, was ich, ehrlich gesagt, ziemlich anrüchig fand. Lange Zeit liefen wir durch endlose Gänge, bogen in Quergänge ein, benutzten zwei Aufzüge, durchquerten eine riesige Halle. Die Pfoten wurden mir lahm und noch immer trottete die Hundedame fleißig neben ihrem Herrchen her.

„Wie zum Katzendreck soll ich jemals wieder zurückfinden?“, fragte ich mich schon, als plötzlich ein herrlicher Duft in meine Nase stieg.

Plötzlich blieb die Hundedame stehen, knurrte und hob ihr Schwänzchen. Das war wieder mein Signal. Schnell wie ich aufgesprungen war, sprang ich ab, rannte über den Gang und krabbelte in einen hölzernen Kleiderständer.

Die Frau denkt mit, dachte ich noch, als ihr Herrchen auch schon so erbarmungslos an der Leine zog, dass sie quietschend weiterging. Ich wartete eine Weile bis die Luft rein war, dann streckte ich vorsichtig die Nasenspitze auf den Gang.

Schnuppernd versuchte ich herauszufinden, aus welcher Richtung dieser herrliche Duft kam und zog mich dann rasch wieder in mein Versteck zurück.

„Zu gefährlich“, dachte ich.

Plötzlich pochte mir das Herz bis zum Hals. Die Beine knickten mir weg und ich musste mich setzen. Erst jetzt wurde mir bewusst, was geschehen war.

„Thimotheus“, dachte ich bei mir, „jetzt bist du eine innere politische Maus!“

Die gestiefelte Mütze

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