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NISCHNI NOWGOROD
ОглавлениеNicht so jedoch in Nischni Nowgorod im Juni 1994. Nach einem Mittagessen in einer für russische Verhältnisse außergewöhnlich gut gepflegten Gaststätte wurde ich als Fahrer kontrolliert. Nachdem schon fast alles in Ordnung schien, sah jedoch der rechtschaffene Milizionär noch in letzter Sekunde unseren Einkaufsbeutel auf dem Rücksitz des Autos, dass dort einige Wodkaflaschen ihre Hälse rausreckten. Wir hatten sie nicht gut verstaut. Das brachte ihn offensichtlich auf die Idee, mich als Fahrer in seinen Alkoholindikator pusten zu lassen. Das Glas Bier vom Mittagessen drängte sich in den Vordergrund und brachte die rote Diode am Gerät zum Leuchten (auch russische Technik kann sensibel sein). Nun wurde ich mit meinen zwei Mitfahrern von der russischen Polizeibürokratie erfasst. Autoschlüssel und Fahrzeugpapiere wurden gleich einbehalten. Ich wurde belehrt, dass im Gegensatz zu Deutschland hier in Russland nur Null Promille zugelassen sind. In der nahegelegenen Polizeiverwaltung, zu der man uns brachte, musste ich in einem eigens dafür vorgesehenen Zimmer nochmals pusten, um das erste Ergebnis zu bestätigen. Als der Beamte im weißen Arbeitskittel anschließend in einem Test mit einem Kugelschreiber vor meinen Augen hin und her fuchtelte, musste ich derart Lachen, dass ich ihn mit ansteckte und er weitere Komik dieser Art unterließ. Nach einer guten Stunde endlich wurden wir Drei von einem Milizionär irgendwohin gefahren. Die Fahrt ging etwa über 5 km in eine uns unbekannte Gegend in dieser drei Millionen Stadt. Dort wurde unser schöner Bus in einem eingezäunten Ghetto, in dem bereits etwa 100 Fahrzeuge standen, sorgfältig verschlossen und bis zum nächsten Tag bewacht. Unser Polizist fuhr mit dem Polizeiauto, was uns bis dorthin bekleidet hatte, zu seiner Dienststelle zurück und wir standen einsam und verlassen in irgendeinem Planquadrat von Nischni Nowgorod. Nun konnten wir in Ruhe am nächsten Kiosk erst einmal ein Bier trinken und die Strafe verdauen, die über uns hereinbrach, um uns danach mit den etwa 30 Worten die wir zusammen in Russisch auf die Waage brachten nach unserem Hotel „Bolna“ zu erkundigen. Der Heimweg gelang. Nun brauchten wir ja nur noch am nächsten Tag in der Polizeiverwaltung die Strafe zahlen, unsere Papiere und die Autoschlüssel holen, um dann mit der entsprechenden Freigabebescheinigung den Kleinbus aus dem Park-Ghetto auszulösen. Aber genau das war das Hauptproblem, wie uns die folgenden Erlebnisse an diesem heißen Junitag belehrten. Wir nahmen Juri unseren hilfsbereiten Baustellendolmetscher mit und stellten uns an die Tür mit der uns angegebenen Zimmernummer im Polizeigebäude. Obwohl wir bereits 10 Minuten vor Öffnung eintrafen, standen dort schon etwa 20 Leute vor uns. Immer mehr drängten sich mit rechtfertigenden und erklärenden Bemerkungen (in Russisch natürlich) vor uns in das begehrte Abfertigungszimmer. Als ein Beamter aus dem Zimmer trat und auf einen anderen Raum verwies, schwenkte die Hälfte der Leute aus unserer Schlange unschlüssig und zögernd um an die betreffenden Tür. Aber die Verbliebenen, zu denen wir gehörten, waren genau so unsicher an der richtigen Tür zu stehen, wie die diskutierenden Umschwenker. Nach zwei Stunden waren wir, Juri und ich, im Inneren des begehrten Raumes. Nun wurden wir ebenfalls auch noch an die Warteschlange des anderen Raumes verwiesen. Nach weiteren zwei Stunden Wartezeit ohne Frischluft mit schweißtreibenden Temperaturen empfing uns ein höherer Offizier, der weiter keine Aufgabe hatte, als alle Gesetzes- und Ordnungsverletzer über ihre Untaten zu belehren und bei einem entsprechenden Anflug von Reue, das mit einem Stempel auf einem Stück Papier die weitere Prozedur im Haus bis zum Ende zu ermöglichen. Auf die Knie mussten wir uns nicht fallen lassen. Im Gegenteil, von nun an schwenkte das Glück um auf unsere Seite. Der goldgeschmückte Offizier verbot Juri das Dolmetschen, da er selbst, so meinte er, in der früheren DDR stationiert gewesen war. Sein ganzes Sprachwissen erstreckte sich jedoch auf ganze zwei Grußworte. Er fand uns aber so interessant, dass er die hinter uns wartenden Leute unbeachtet weiter warten ließ und den weiteren folgenden Zimmerdurchlauf zum Erhalt unserer Dokumente und Autoschlüssel bis zur Bezahlung der Strafe von 25 DM am Kassenschalter selbst in die Hand nahm. In seinem Windschatten waren wir auch so „schon“ nach knapp fünf Stunden wieder draußen. Nun schlugen wir uns bis zum Park-Ghetto durch, wo wir wieder 30 Minuten warten mussten, um dann die Parkgebühren für diese eine Nacht zu begleichen. Angeblich betrugen diese für Ausländer die dreifache Höhe gegenüber einem russischen Sünder. Ein entsprechendes Dokument wurde zum Beweis vorgelegt, dass dieses rechtens sei. So wurde ich nochmals 90 DM los. Am Ende hat dieses eine Bier zum Mittagessen rund 130 DM (einschließlich Dolmetscherentlohnung und Taxikosten) und sechs Stunden Zeit gekostet. Waren wir doch letztendlich aber froh, wieder „frei“ zu sein und unseren in Russland vorgesehenen Aufgaben nachgehen zu können.
Zappzarapp (lt. Duden: bezeichnet eine rasche, unauffällige Bewegung, mit der etwas weggenommen, entwendet wird) ist ein bekanntes russisches Wort. Selbst in Deutschland kennt es fast jeder. Dieses Wort, was dort so viel wie Klauen bedeutet, ist nicht nur eine üble Nachrede oder aus vergangenen Zeiten überliefert. Solch ein unfreundlicher Vorgang gehört zumindest bei den Männern heutzutage beinahe zum guten Ton. Es ist gegenwärtig fast strafbarer, etwas vielleicht nur aus Vergesslichkeit leichtfertig liegen zu lassen, um den anderen zum Klauen zu verleiten, als dass Diebstahlsdelikt selbst. Auf jedes einzelne Stück seines Werkzeuges z. B. muss man permanent aufpassen, um keine Verluste zu erleiden. Einen Phasenprüfer oder andere Werkzeuge kann man in Russland nicht so einfach nachkaufen. Was weg ist behindert die spätere Arbeit bei der Montage. Man darf nicht denken, dass ist nur so unter Menschen, die einander fremd sind. Auch zwischen befreundeten Arbeitskollegen, die viele Monate gemeinsam auf einer Baustelle arbeiten, gehört dies gelegentlich zum „guten Ton“. So geschehen im Februar 1993. Unser Chefmonteur Elektro arbeitete am Schaltschrank, um die russischen Montagefirmen zu unterstützen. Seinen 600 DM teuren Werkzeugkoffer hatte er stets in Reichweite auf dem Erdboden hinter sich liegen. Trotzdem passierte es, als er sich halb umdrehte, also vom Schaltschrank weg zum hinter ihm liegenden Werkzeugkoffer, um das Werkzeug zu wechseln, dass der gesamte Koffer verschwunden war. Er war die ganze Zeit nicht allein. Die russischen Elektro-Spezialisten guckten ihm die ganze Zeit über die Schulter bzw. arbeiteten in der Nähe selbständig an anderen Ausrüstungen. Auf seine Frage nach dem verschwundenen Koffer guckten ihn alle unschuldig an und die Köpfe versanken zwischen ihren Schultern. Obwohl man schon mehrere Wochen gemeinsam gearbeitet, auch getrunken und gefeiert hatte, schreckte das niemand zurück, dieses verlockende, deutsche, chromblitzende, teilweise elektronische Werkzeug in ihren Besitz zu bringen. Das wird erst richtig verständlich, wenn man eben russisches Werkzeug kennt. Moniereisen sind das Ausgangsprodukt für Schraubendreher, Meißel, Hammer und Brechstangen. Ein besserer Hammer wird dann schon aus ¾ Zoll bis zwei Zoll Gewinderohr hergestellt. Man verschweißt das kleine Rohr mit dem größeren als T-Stück und danach werden die Rohrenden zusammengeklopft damit man so etwas wie eine Finne erhält. Leitern, wenn überhaupt welche benutzt werden, stellt man ebenfalls aus Bewehrungsstahl her. Die Sprossenweite geht bei 60 cm los.
Jedenfalls hatte unser Chefmonteur mit mehreren Mitteln und Methoden versucht, seinen unter den Händen gestohlenen Werkzeugkoffer wiederzubekommen. Nachdem alle Mittel versagten, drohte er mit sofortiger Abreise, da er ja nun nicht mehr arbeiten könne. Dies führte offensichtlich bei einigen russischen Elektrikern zu einer Überforderung, das heißt Fertigstellung der Anlage ohne deutschen Chefmonteur. Sofort erklärten sich 2 Mann bereit, den verschwundenen Koffer zu suchen. Nach maximal zehn Minuten lag er vollständig wieder vor den Füßen unseres Chefelektrikers. Nach ihrer Darstellung wurde dieser bereits über die Mauer des Schlachthofgeländes geworfen, von wo er noch nicht abgeholt worden war.
Diese Anlage in N.N. wurde von einem wirtschaftlich starken und bedeutungsvollen Kunden bei F.K. bestellt. Es war ein modifizierter 5-Tonnen-Betrieb mit der gleichen Schlacht- aber einer etwas höheren Verarbeitungskapazität. Der Kunde hieß GAZ (Горьковский автомобильный завод), also Gorkier Automobilfabrik. Nischni Nowgorod hieß bis Anfang der 90er Jahre Gorki.
Provisorische Heizung im Pausenraum
Ihr Hauptprodukt damals war das russische Oberklassenfahrzeug mit Namen „Wolga“. Die Fachbezeichnung GAZ 21 – GAZ 24. Auch ein leichter LKW mit der Bezeichnung GAZ 56 wurde dort gefertigt. Offensichtlich nahm man es mit der Qualität nicht so genau, was ein kleiner Vorfall an der dem Autowerk nächstliegenden Kreuzung unterstrich. Mitten auf dieser Kreuzung mühte sich ein Wolgafahrer mehrmals vergebens, die Kofferraumklappe zu schließen. Immer wieder sprang sie widerborstig und selbständig auf. Die russischen Dolmetscher machten uns darauf aufmerksam, während sie sich erheiterten. Sie kannten das Problem. Das käme hier öfters vor, dass manche Käufer ihr neues Fahrzeug direkt im Herstellerwerk abholen, die mitunter tausende Kilometer dafür anreisen und schon nach wenigen Metern Fahrbetrieb sich mit einer nicht schließenden Kofferraumklappe herumschlagen müssen. Ironisch meinten sie: „Das ist russische Wertarbeit.“ Das Werk hatte eine Außengrenze von mehr als einem Kilometer im Quadrat. Das erste Know-how stammte aus den USA von Henry Ford. 1929 errichtete er wesentliche Produktionsanlagen. Die Häuser für sein Baustellenpersonal, ebenfalls 1929 errichtet, waren 1993 immer noch gutaussehende und gefragte Wohnungen. Als Technik- und Autointeressierte äußerten wir einen Besichtigungswunsch, welcher auch genehmigt wurde. Im Werk erfolgte nicht nur die Endmontage der Fahrzeuge. Alle Teile, die ein Fahrzeug braucht, wurden ebenfalls innerhalb des Werkes gefertigt. Eine Zulieferung der Teile über das öffentliche Straßennetz war überflüssig, ausgenommen Material. Allerdings hatten wir gerade Pech, um die Anlagen in Produktion zu sehen. Innerhalb der Fertigungshallen drängte sich dicht an dicht eine Menschenschlange von ca. 50 – 60 Metern, um zu einem bestimmten geöffneten Fenster zu gelangen. Heute ist Zahltag, wurde uns mitgeteilt. An dem Schalter wurde gerade der Monatslohn ausgezahlt.
Politisch bekannt war N.N. auch durch die Verbannung von Andree Sacharow. Er war der Vater der sogenannten Zar-Bombe, die größte Wasserstoffbombe, die jemals gezündet wurde. Nachdem bei ihm ein Umdenken einsetzte, wurde er in der Sowjetunion zum Bürgerrechtler und Regimegegner und deshalb in einer Wohnung mitten in N.N. Tag und Nacht bewacht. Diese wollte ich mir anschauen. Bei unserer Exkursion dorthin hatten wir das Glück eine Mitbewohnerin des Hauses zu sprechen, die ihn noch persönlich gekannt hatte und über die Bewachungspraktiken des KGB viel erzählen konnte.
Zu erwähnen ist noch, dass zur Einweihungsfeier unserer Anlage im April 1993 kein geringerer als der zukünftige Ministerpräsidentschaftskandidat Boris Nemzow allen zur Fertigstellung gratulierte. Damals in seiner Eigenschaft als Gouverneur von der Oblast (Region) Nischni Nowgorod. Ein Politiker, der sich nie verbogen hatte und 22 Jahre später am 27 Februar 2015 unweit des Kremls durch 4 Schüsse ermordet wurde.