Читать книгу Keller-Schiri - Gerd Lamatsch - Страница 7
Warum ich dieses Buch schrieb
ОглавлениеEs ist Frühjahr 2019 und die aktuelle Bundesligasaison neigt sich dem Ende zu. Seit vielen Jahren beobachte ich die Bundesliga, den Weltfußball und die öffentlichen Diskussionen in den Medien wie z. B. der Sendung Doppelpass bei Sport1.
Hierbei ist mir aufgefallen, dass offizielle Vertreter des DFB und insbesondere der Schiedsrichterspitze eher selten zu Gast sind. Da diskutieren Presse- und Vereinsvertreter, Profis, Trainer und ein ehemaliger Bundesligaschiedsrichter ohne offizielles Amt im DFB über Regelauslegungen und den Videobeweis in all seinen Details. Die tatsächlich dafür Verantwortlichen sind hingegen selten anwesend. Das verstehe wer will. Mir ist es ein Rätsel, dass bei so einem wichtigen Thema der DFB-Schiedsrichterbereich nicht stärker eingebunden ist. Es sollte doch ein Interesse bestehen, sich hier möglichst gut zu verkaufen und fachlich Rede und Antwort zu stehen.
Die Diskussionen und unterschiedlichen Meinungen über Schiedsrichterentscheidungen gab es schon immer, aber was sich seit der Einführung des Videobeweises in den letzten drei Jahren abspielt, ist sehr traurig. Gerade jetzt, da ein Großteil der Fehlentscheidungen wirklich positiv korrigiert wird, wird noch mehr Zeit für die Diskussion über Schiedsrichter und deren Entscheidungsfindungsprozess investiert.
Man kann es teilweise schon gar nicht mehr hören, denn es sind immer die gleichen Argumente, die ausgetauscht werden. Die Optimierung beim Handling des Videobeweises scheint mir aktuell ein wenig auf der Stelle zu treten. Das ist sehr schade, denn wir wollen doch über das Spiel und nicht über die Schiedsrichter reden.
Die alte Regel Wer als Schiedsrichter im Spiel nicht auffällt, war meist gut ist heute häufig außer Kraft gesetzt. Es gibt kaum ein Spiel, bei dem nicht mindestens eine Szene zu stundenlangen hitzigen Diskussionen führt. Wohlgemerkt im Profifußball.
Eines der krassesten und intensivsten Beispiele dafür war das Halbfinale im DFB-Pokal am 24. April 2019 zwischen Werder Bremen und Bayern München. In der 80. Minute beim Spielstand von 2:2 und einer beeindruckenden Aufholjagd der Bremer entschied Schiedsrichter Daniel Siebert nach einem leichten Schieber/Rempler des Bremers Gebre Selassie am Münchener Stürmer Coman zweifelhaft und umstritten auf Strafstoß. Es kam zwar zu einer Kommunikation zwischen Schiedsrichter und Videoassistent, aber es gab hier leider und unverständlicherweise keinen On-Field-Review durch Siebert. Der Strafstoß wurde schließlich durchgewinkt und Lewandowski verwandelte eiskalt zum 3:2-Endstand. Dass danach die Bremer Seele kochte und sich verschaukelt fühlte, war nachvollziehbar.
Hier noch mal die fachliche Bewertung durch den DFB im Nachhinein: Die Strafstoßentscheidung wurde final als nicht korrekt bewertet. Der Rempler war unter Bewertung aller nachträglichen Kameraeinstellungen wohl zu schwach, der Ball für den Stürmer eigentlich auch gar nicht mehr spielbar, weil er sich diesen bereits zu weit vorgelegt hatte. Der DFB stellte sogar seinen Top-Schiedsrichter dadurch indirekt an den Pranger.
Kritisiert wurde vor allem, dass der Schiedsrichter nicht von dem On-Field-Review am Spielfeldrand Gebrauch gemacht hatte. Dann hätte er unter Umständen den Strafstoß zurückgenommen und wäre dafür allein verantwortlich gewesen. Begründet wurde diese Panne übrigens mit einem Kommunikationsproblem zwischen Schiedsrichter und Video Assistant Referee (VAR) – die beiden hätten unterschiedliche Kriterien bewertet. Der Schiedsrichter entschied aufgrund eines vermeintlichen Fußkontaktes, den es allerdings so nicht gab. Der VAR hingegen legte den Fokus auf den Rempler. Hier wurde aneinander vorbeigeredet. Auch das ist menschlich und kann passieren.
Aus Sicht eines aktiven Schiedsrichters möchte ich hier auch noch kurz persönlich Stellung beziehen: Aus dem normalen Spielablauf heraus im Originaltempo war diese Entscheidung extrem schwierig. Siebert konnte sich nur für Weiterspielen oder Strafstoß entscheiden. Er hatte nur eine einzige Perspektive zur Beurteilung. Gefühlt war das daher von der Bewertung her zunächst eine 50:50-Situation. Ich persönlich hätte mich aufgrund der Nachanalysen auch gegen den Strafstoß entschieden. Das ist aber wirklich kein Vorwurf an den Kollegen, lediglich der Videobeweisprozess hat hier versagt. Schade!
Und mal ehrlich: Es gibt Grauzonen-Situationen, die man sowohl in die eine als auch in die andere Richtung auslegen kann. Und da hängt es eben immer vom einzelnen Unparteiischen ab, wie er die Szene letztlich bewertet. Genau das ist der Ermessensspielraum, der oft genug im Regelwerk erwähnt wird. Warum muss man immer im Nachhinein so tun, als ob es nur eine richtige Lösung gibt? Das Schwarz-Weiß-Denken müssen wir hier ausblenden. Es ist unrealistisch.
Genau diese erneuten tagelangen Diskussionen und Aufregungen um eine einzelne Szene haben mich letztlich dazu veranlasst, meine schon länger schwelende Idee eines Buches über den Videobeweis und ein paar ergänzende Themen endlich anzugehen. Anscheinend hatte ich einen guten Riecher für den Zeitpunkt, denn an den nächsten beiden Spieltagen gab es gleich wieder extreme Aufregung um diverse Handspielsituationen. Klare absichtliche Handspiele wurden nicht erkannt und klare nicht absichtliche Ball-Hand-Berührungen wurden trotz Videobeweis zu Unrecht geahndet. Sogar Sky-Experte Dr. Markus Merk, den ich als Fachmann schätze, war vollkommen fassungslos. Man fühlte sich mit einem Schlag in die schwierige und umstrittene Phase bei der Einführung des Videobeweises zurückversetzt und hatte das Gefühl vollkommener Orientierungslosigkeit bei der Handspielregel. So eine extreme Verwirrung hatte es bisher noch nicht gegeben. Und das trotz technischer Hilfsmittel!
Doch bevor wir auf den Videobeweis ganz konkret zu sprechen kommen, möchte ich einen kurzen Überblick über diverse Regeländerungen und die allgemeine Entwicklung im Profifußball geben. Gerade Letztere war ein Treiber bei der Forderung nach technischer Unterstützung für die Schiedsrichter und nach der Implementierung des Videobeweises.