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Gesamtentwicklung im Profi-Fußball
ОглавлениеDie schrittweise Forderung nach technischer Unterstützung der Schiedsrichter bis zur Einführung des Videobeweises ist eine logische Folge der Gesamtentwicklung des professionellen Fußballs weltweit.
Die Investitionen der Vereine in Spieler, Trainer und die Infrastruktur sind enorm gestiegen. Vergleicht man Gehälter, Ablösesummen und Vereinsetats der letzten 40 Jahre, liegen hier Lichtjahre dazwischen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Ländern bzw. den dazugehörigen Ligen, aber letztlich sind die Summen nicht linear, sondern exponentiell angewachsen. Ablösesummen zwischen 10 und 50 Millionen sind mittlerweile Standard, da wird nicht mal mit der Wimper gezuckt. In der Spitze war Neymar mit rund 220 Millionen der bis dato teuerste Spielertransfer, doch die Spirale wird sich weiter nach oben drehen. Spieler erliegen dem Lockruf des Geldes und streiken sich ohne Skrupel von Verein zu Verein (siehe Dembelé und Aubameyang).
Dass dies überhaupt möglich ist, verdanken die Vereine vor allem dem stark gestiegenen Interesse von Sponsoren und großen Investoren, die das Premiumprodukt Fußball für sich als Investment entdeckt haben und an den nationalen und internationalen Fleischtöpfen mitverdienen wollen. Die FIFA trägt ihren Teil bei, indem Welt- und Europameisterschaften sowie die Königsklasse Champions League und andere Wettbewerbe als gigantische Geldmaschinerie implementiert werden. Da gibt es letztlich keine große Moral mehr. Financial-Fair-Play muss immer wieder angemahnt und eingefordert werden. Das Einzige, was letztlich zählt, sind Millionen an Einnahmen, damit das Füllhorn über Vereine und Verbände weiter ausgeschüttet werden kann.
Durch finanzstarke Investoren werden mittlerweile komplette Vereine gekauft und beherrscht. Die Schere zwischen den Top-Vereinen (Barcelona, Madrid, Paris, Manchester, München etc.) in Europa und dem Rest geht immer weiter auf.
In Summe steht allen – auch den kleineren Vereinen bis zur 2. und 3. Liga – immer mehr Geld zur Verfügung. Durch die Milliardenverträge mit Pay-TV-Sendern (über eine Milliarde € pro Saison aktuell in der Bundesliga) und den jeweiligen Fernsehrechten wird zusätzlich immer mehr Geld in die Vereine gepumpt. In Deutschland versucht man noch redlich, die 50+1-Regel am Leben zu erhalten. Einige Vereine klagen aber auch schon dagegen und wollen diese unbedingt abschaffen.
All dies zusammen hat dazu geführt, dass die Protagonisten (Trainer, Spieler und Funktionäre) im Laufe der Zeit immer besser bezahlt und motiviert werden konnten. Es entstand ein Fußball-Profitum auf allerhöchstem Niveau. Bezogen auf Technik, Dynamik und körperliche Fitness bis hin zu den taktischen Raffinessen haben wir heute ein unglaubliches Niveau erreicht. Erst kürzlich habe ich z. B. das CL-Halbfinale Barcelona gegen Liverpool mit einem intergalaktischen Messi (600. Tor in 14 Jahren) angesehen. Es war einfach fantastisch. Wenn man hier im Vergleich ein Top-Bundesligaspiel aus den 80er-Jahren hernimmt, glaubt man, das Spiel sei in Zeitlupe aufgenommen worden. Man kann sich andererseits kaum vorstellen, dass das aktuelle Niveau noch nennenswert verbesserungsfähig ist. Na ja, wir werden es sehen. Also ich denke, wir sind uns als Fußballverrückte einig, dass sich das Spielniveau im Profifußball extrem verbessert hat und uns jede Woche viel Freude bereitet. So weit so gut.
Schauen wir uns doch einmal im Vergleich zu den Vereinen und Protagonisten die Entwicklung des Schiedsrichterwesens an. Da muss man schlicht und ergreifend feststellen: Ja, es hat sich sicherlich einiges getan und verbessert, aber im Verhältnis zum Spiel- und Ligabetrieb hinken nahezu alle Schiedsrichterorganisationen eindeutig hinterher. Bis auf ganz wenige Ausnahmen gibt es standardmäßig immer noch keine Vollprofis bei den Schiedsrichtern. Auch nicht in Deutschland!
Beschränken wir uns einfach mal auf den DFB und die Bundesligen: Die heute aktiven DFB-Schiedsrichter in der 1. und 2. Bundesliga können zwar mittlerweile prinzipiell von den jährlichen Einnahmen gut leben und auch eine Familie ernähren, aber sie sind eben keine Vollprofis. Viele von Ihnen üben nebenher noch eine andere Tätigkeit aus, meist in Teilzeit. Sie haben keine mehrjährigen Verträge wie Spieler und Trainer, sondern müssen sich von Saison zu Saison behaupten und immer neu qualifizieren. Bei Verletzung oder Krankheit gibt es keine Absicherung über die laufende Saison hinaus. Jedes Jahr kann der sportliche Traum zu Ende sein. Die jungen Kollegen gehen häufig ein hohes Risiko ein, denn sie vernachlässigen unter Umständen außerhalb des Sports ihre eigentliche berufliche Basisentwicklung.
Kurzum: Es sind letztlich selbstständige Unternehmer, die auf Basis einer Saison jeweils über eine fixe Saisonpauschale pro Spielzeit (je nach Qualifikation und Erfahrung aktuell von 40–80.000 €) und Einsatzprämien (gestaffelt nach Liga und Rolle von 1.250–5.000 € pro Spiel) ein Jahresbruttoeinkommen von 80–250.000 € (Stand 2018) erzielen. Prämien für internationale Spiele sind da auch schon eingerechnet. Das sind Gehälter, über die sich die meisten Fußballprofis kaputtlachen und dafür gar nicht antreten würden. Andererseits liegt es weit über dem deutschen Durchschnittseinkommen, was eine Diskussion natürlich schwierig macht. Im Gegensatz zu den Spielern sind Schiedsrichter außerdem nicht gut vermarktbar und haben langweiligere Frisuren. Aber die Schiedsrichter sind nun mal Teil des Spiels, warum also sollten sie so viel weniger bekommen?
Als ich 1991 das erste Mal in der 2. Bundesliga an der Linie stand, bekam ich pro Spiel (wohlgemerkt für das ganze Wochenende) gerade mal 100 DM an persönlicher Aufwandsentschädigung. Demgegenüber hat sich natürlich viel verbessert. Von den aktuell aktiven Kollegen werden aber – es geht schließlich bei den Vereinen um sehr viel Geld – Woche für Woche möglichst fehlerfreie Topleistungen verlangt. Das finde ich persönlich im relativen Verhältnis zu den Fußballern nicht ganz in Ordnung. Ich bewundere die Kollegen, die sich dem Profizirkus heute zur Verfügung stellen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Topleistungen erbringen und sich dann oft noch Anfeindungen und niveauloser Kritik stellen müssen. Für mich sind das jedenfalls noch weitgehend echte Idealisten. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass die deutschen Schiedsrichter weltweit einen Spitzenruf haben – das ist aller Ehren wert. Tatsache ist jedenfalls ein sehr großes Gefälle bei den arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen von professionellen Fußballspielern, Trainern und semiprofessionellen Fußballschiedsrichtern.
Mit der Professionalisierung, Dynamisierung und Kommerzialisierung des Fußballs sind Spielniveau und Tempo enorm angestiegen. Die körperliche, psychische und wahrnehmungstechnische Belastung der Schiedsrichter (und hier schließe ich die Assistenten immer mit ein) stieg ebenso enorm an.
Die Fernsehzuschauer erhielten zusätzliche Unterstützung in der Wahrnehmung durch heute bis zu über 20 Kamerapositionen bei Topspielen zzgl. Flycam über dem Spielfeld. Da entgeht den Medien keine einzige Regelübertretung – auch nicht abseits vom Spielgeschehen bzw. hinter dem Rücken des Schiedsrichters. Den Schiedsrichtern jedoch verweigerte man dagegen jahrelang die Unterstützung durch geeignete Technik. Einer der Hauptblockierer waren hier die Regelhüter und natürlich die FIFA selbst. Lieber hielt man gebetsmühlenartig am Mythos der Tatsachenentscheidung fest (wie die Kirche seinerzeit verzweifelt versuchte, das moderne heliozentrische Weltbild zu verhindern), obwohl es immer wieder zu vereinzelten extremen Fehlentscheidungen (z. B. diverse Phantomtore) kam. Die Verantwortung wurde dann am Ende natürlich den bedauernswerten Schieds- oder Linienrichtern zugeschoben.
Es gibt mehrere wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema Wie genau kann man ein Abseits feststellen. Das Ergebnis ist ganz einfach und eindeutig: Beim heutigen Tempo im Fußball ist es ohne Hilfsmittel kaum möglich, eine Abseitsstellung hundertprozentig korrekt festzustellen. Zugrunde gelegt wird dabei der Wahrnehmungsprozess des Assistenten, der den abspielenden Spieler sowie alle Abwehr- und Stürmerkollegen auf korrekter Höhe am Spielfeld im Auge haben muss. Der Assistent muss im Moment der Ballabgabe mit schielenden Augen oder einer Kombination aus Gehör- und Sichtwahrnehmung das Geschehen vor ihm im Hirn einfrieren und sofort eine Entscheidung treffen. Wenn man typische optische und akustische Signallaufzeiten am Spielfeld in Relation zu der in diesem Zeitfenster sich bewegenden Spieler (Abwehr/Stürmer in gegenläufigem Vollspurt bei höchstem Tempo) zugrunde legt, kommt man auf eine Unschärfe in der örtlichen Bestimmung der Abseitssituation von locker 10–20 cm (beim Videobeweis diskutiert man inzwischen schon über 2–3 cm). Falls der Assistent aber nur um einen halben Meter zu weit vorne oder hinten steht, wird die örtliche Unschärfe gleich noch viel größer! Wenn man dann sieht, in wie vielen Fällen die Kollegen doch korrekt entscheiden, ist das eine sensationelle Leistung! Jeder, der selber noch nie Linienrichter war, kann sich das gar nicht vorstellen.
Durch die immer größere Belastung der Schiedsrichterteams bei gleichzeitig deutlich schnellerem Spiel und besserer Beobachtungstechnik des Fernsehens musste der DFB aber letztlich doch zu ergänzenden Hilfsmitteln greifen. Auf technische Unterstützung von außen wollte man jedoch erst mal verzichten.
Die erste große Unterstützung war die Einführung von einem unidirektionalen Funkfahnensystem. Damit konnten die Assistenten neben dem sichtbaren Fahnenzeichen durch Drücken eines Knopfes ein akustisches Signal an einem Empfänger auslösen, der am Oberarm des Schiedsrichters unter dem Trikot getragen wurde. Dadurch konnten die Assistenten den Schiedsrichter zu jedem Zeitpunkt erreichen – vorher war dies nur möglich, wenn bewusst Sichtkontakt aufgenommen wurde. Bei Abseits, Foulspiel und vor allem bei Vergehen hinter dem Rücken des Schiedsrichters war das nun sehr hilfreich. Auch bei den Amateurspielen war es den Schiedsrichtern freigestellt, dieses Funksystem einzusetzen. Während es den Bundesligakollegen vom DFB zur Verfügung gestellt wurde, mussten die Amateure sich diese Technik aber auf eigene Kosten zulegen. Immerhin kostete so ein System 500–600 €. Für die Amateurspieler war das zunächst komplett ungewohnt.
Ich erinnere mich an ein Bayernligaspiel, als es nach einer Abseitssituation an meinem Unterarm laut schnurrte. Ein nahestehender Spieler war ganz verdutzt und sagte: »Schiri – hast du dein Handy dabei?« Ich antwortete todernst: »Nein, das ist nur der Alarm von meinem Herzschrittmacher. Der warnt, wenn ich mich zu sehr aufrege oder anstrenge!« Der Spieler schaute mich vollkommen entgeistert an, dann klärte ich ihn lachend auf. Das sind die schönen Momente im Schiedsrichterleben!
Ein weiterer Meilenstein in der Unterstützung war die Einführung des sogenannten vierten Offiziellen in der 1. und 2. Bundesliga. Bis dahin musste der Assistent 1 die Überwachung und das Management der Trainerbänke alleine stemmen. Das war mitunter sehr aufreibend. Woche für Woche erleben wir, wie emotional es da am Spielfeldrand zugeht. Die Hauptaufgabe des Assistenten war die Spielkontrolle – alles andere nebenher lenkte ihn nur ab. Man erkannte aufgrund der zunehmenden Konflikte mit den Trainerbänken an der Außenlinie die Notwendigkeit, hier eine weitere Instanz zu schaffen. Der vierte Offizielle managt also die Personen, die auf der Bank Platz nehmen dürfen, kümmert sich um die Auswechslungen und andere administrative Aufgaben. Der Assistent kann sich damit wieder voll auf das Spiel konzentrieren.
Ich selber war drei Jahre in der 2. Bundesliga an der Linie im Einsatz und da gab es diesen vierten Offiziellen leider noch nicht. Bei gewissen Trainertypen kann das richtig stressig sein. Eines der herausforderndsten Spiele war FC Saarbrücken gegen Carl-Zeiss Jena mit Peter Neururer und Klaus Schlappner an der Seite. Da war man ohne Unterbrechung gefordert.
Die Assistenten bekamen im Laufe der Zeit immer mehr Verantwortung übertragen, was auch vollkommen richtig war. Ganz früher durften sie nur Abstoß/Eckstoß auf ihrer Seite, Einwurf, Foulspiel im sehr eingegrenzten Bereich und Abseits entscheiden. Torerzielung und Strafstoßentscheidungen waren einst tabu. Mittlerweile ist man davon deutlich abgewichen und die Verantwortung hat sich stark erweitert. Im Zuge besserer Kommunikation (bidirektionales Headset) ist eine flexible Handhabung im Team Standard und hat sich auch bewährt. Heute geht es vor allem darum, dass wenigstens einer aus dem Team am Platz ein Vergehen aus seiner Position erkennt und dann anzeigen kann. Unabhängig davon liegt die allerletzte Entscheidung und Verantwortung auch heute noch immer beim Hauptschiedsrichter.
Das bidirektionale Funkheadset mit sprachlicher Kommunikation war dann eine logische Weiterentwicklung und Ergänzung der reinen Funkfahnen. Jetzt konnten sich die Kollegen im Team zu jedem Zeitpunkt – auch während des Spiels – schnell abstimmen, koordinieren und erklären. Die Assistenten konnten den Kollegen auf dem Feld auch schon im Voraus warnen, wenn sie bestimmte Konfliktherde hinter dem Rücken des Schiedsrichters ausmachten. Präventiv eine super Sache.
Anlässlich der EM 2008 wurde darüber ein Dokumentarfilm mit dem Titel Referees at work gedreht und damit exklusive Einblicke hinter die Kulissen der weltbesten Kollegen gewährt. Ein sehr imposantes und interessantes Werk, das man gesehen haben sollte!
Die Tatsache, dass es immer wieder bei der Torerzielung zu krassen Fehlentscheidungen kam, war zunächst der Hauptgrund zur Forderung technischer Hilfsmittel. Die Antwort der FIFA, die die Tatsachenentscheidung mit Leib und Seele verteidigte, war zunächst eine andere: Man erfand die Torrichter, die jedoch nur in internationalen Topwettbewerben und nicht in den nationalen Ligen eingesetzt wurden. Also mehr Menschen und keine Technik. Die Aufgabe der Torrichter konzentrierte sich in erster Linie auf die Überwachung bei der Torerzielung und auf Zweikampf- und Handvergehen im Strafraum. Jetzt waren für den Hauptschiedsrichter schon fünf Assistenten im Einsatz!
Wir alle wissen, dass sich diese Lösung als Trugschluss herausstellte und krasse Fehlentscheidungen nicht verhindern konnte. Bestes Beispiel war bei der EM 2012, beim Spiel Ukraine gegen England, ein ukrainischer Torschuss, der per Fallrückzieher eines Engländers nach knapper Überschreitung der Torlinie durch den Ball zu Unrecht nicht als Tor gewertet wurde. Die Kamera hat das Geschehen und den Fehler gnadenlos aufgezeichnet. Der Ball war weiß, die Torpfosten waren weiß, die Stutzen und Schuhe des Abwehrspielers waren weiß. Und das Ganze ging in Echtzeit so brutal schnell, dass der arme Kollege Torrichter einfach keine Chance hatte. Das war dann gefühlt der letzte verzweifelte Versuch, statt auf unbestechliche Technik auf Manpower zu setzen. Die armen Torrichter taten mir schon immer leid. Es ist ein äußerst undankbarer Job.
Letztlich war man nach 2012 im Weltfußball an einem Punkt angelangt, an dem man mit dem Latein vollkommen am Ende und der Einsatz von technischen Hilfsmitteln zur Unterstützung des Schiedsrichters nur noch eine Frage der Zeit war. Dennoch wurde hier noch sehr lange bei den Topinstanzen gemauert. Aber die Forderungen nach technischer Unterstützung wurden lauter und lauter.