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Einleitung Voraussetzungen, Methode und Interesse
ОглавлениеDas vorliegende Buch unterzieht die ältesten Jesustraditionen aus den ersten beiden Jahrhunderten einer Analyse und fragt nach ihrer Echtheit. Es ist aus der Überzeugung heraus geschrieben, daß Christen sich zu Jesus in eine glaubwürdige Beziehung setzen müssen, daß aber auch alle anderen Menschen in dem vom christlichen Abendland geprägten Kulturkreis sich der Wurzeln des Christentums in der Person Jesu von Nazareth historisch vergewissern sollten. Für beide Gruppen ist diese Frage zur Bewältigung der eigenen Geschichte und zur Gestaltung der Zukunft wichtig.
Nun besteht nach allgemein anerkanntem Urteil kein Zweifel daran, daß in der frühen Kirche zahlreiche Worte und Taten Jesus erst nach seinem Tod zugeschrieben wurden. Dafür seien hier vorerst nur zwei Beispiele angeführt:
a) Die Selbstaussagen Jesu, der Sohn Gottes zu sein, der für die Sünden der Welt stirbt, sind mit Sicherheit unecht; die frühen Christen haben sie Jesus in den Mund gelegt.
b) Ebenso verhält es sich mit den meisten Wundern. Daß Jesus tatsächlich auf dem See gegangen sei, einen Sturm gestillt, Brot vermehrt, Wasser in Wein verwandelt und Tote auferweckt habe, trifft nicht zu. Diese Taten hat man Jesus vielmehr erst nach seinem Tod bzw. seiner vermeintlichen Auferstehung angedichtet, um seine Bedeutung zu steigern.
Trotzdem haben die frühen Christen dies alles im Rahmen der Kanonisierung als authentisch angesehen, und fortan waren auch unechte Jesusworte und -taten Kernbestand der Heiligen Schrift. Deshalb muß im Blick auf alle Jesusüberlieferungen des frühen Christentums noch einmal rigoros Klarheit geschaffen und geklärt werden, was Jesus denn nun wirklich gesagt und getan hat, was damals wirklich geschehen ist und was eindeutig später hinzugefügt wurde.
Ein solches Vorgehen ist in der Geistesgeschichte der westlichen Kultur begründet und sollte nicht als europäischer Ethnozentrismus verunglimpft werden. Denn abgesehen davon, daß sich die kritische Methode als experimentelle Vorgehensweise auch in allen Gebieten der Naturwissenschaft durchgesetzt und staunenswerte Erfolge vorzuweisen hat, so führte ihre Schwester in den geisteswissenschaftlichen Fächern als philologisch-historische Methode zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit. Die Frage nach dem, was wirklich war, und dem, was nicht war, sondern nur behauptet wird, ist unwiderruflich zu einem selbstverständlichen Bestandteil unseres eigenen Lebens geworden. Man mag hier sogar von einer Sittlichkeit des Denkens sprechen, das richtig und falsch, Lüge und Wahrheit nicht nur herausarbeitet, sondern die Unterscheidung zwischen beidem zur öffentlichen Aufgabe macht.
Nun lautet gelegentlich der Vorwurf gegen ein solches Unternehmen der Jesusforschung,
a) es überschätze die eigenen Möglichkeiten, zwischen echt und unecht zu unterscheiden; b) es scheitere daran, daß die Urteile über echt und unecht in der Forschung zum Teil weit auseinander gehen; c) es berücksichtige nicht hinreichend, daß in unechten Jesus-Traditionen durchaus der Geist Jesu enthalten sein könne; d) es sehe von der Rezeptionsgeschichte ab, die unabhängig von der Echtheitsfrage eine Wirkung biblischer Jesustraditionen zeige, von der Milliarden von Menschen in Vergangenheit und Gegenwart zehrten; und e) die Frage nach echt und unecht sei für den Glauben irrelevant, da im geschichtlichen Jesus und im auferstandenen Christus des Glaubens ein und derselbe Herr rede.
Zu a): Diesen Einwand verstehe ich nicht, zumal er nicht in Abrede stellen kann, daß unechte Jesusworte in der Bibel enthalten sind. Dann aber kann, ja muß der Versuch gewagt werden, echte Jesusworte und -taten herauszuarbeiten.
Zu b): Die allerdings vorhandenen unterschiedlichen Rekonstruktionen der Worte und Taten des historischen Jesus sind kein Argument gegen ein solches Unternehmen: Meinungsvielfalt entbindet nicht von der Verpflichtung, sich der historischen Wirklichkeit mit dem Ziel größtmöglicher Objektivität zu nähern.
Zu c): Dies ist nicht zu bestreiten. Um aber den Geist Jesu zu identifizieren, muß zunächst eindeutig geklärt werden, wo denn überhaupt echte Jesustraditionen enthalten sind.
Zu d): Soll etwa die Wirkung von Texten ihren Anspruch einlösen? M.E. kommt man so nicht zum Grund der Dinge. Wenn z.B. Jesus historisch nicht auferstand, dann kann man die urchristlichen Aussagen, die solches behaupten, nicht durch rezeptionsgeschichtliche Überlegungen retten, auch wenn die Wirkung dieser Verkündigung noch so mächtig war und noch so vielen Menschen Trost gespendet hat.
Zu e): Mit diesem theologischen Argument läßt sich jegliche historische Arbeit bekämpfen. Eine historische Vorgehensweise muß die Berufung auf den auferstandenen Christus als außerhalb ihrer Kompetenz befindlich ansehen. Wie soll hier mit nachvollziehbaren Argumenten wahrscheinlich gemacht werden, daß der »Auferstandene« dieses oder jenes gesagt oder gar bestimmte Dinge getan hat? Mit anderen Worten, in diesem Bereich ist für die historische Kritik direkt gar nichts zu gewinnen. Wohl aber mag gefragt werden, ob dieses oder jenes Wort des Auferstandenen auf den geschichtlichen Jesus zurückgeht. Und umgekehrt ist zu prüfen, ob nicht Worte des Auferstandenen zu Worten des historischen Jesus gemacht worden sind. Sollte letzteres der Fall sein, wäre automatisch ein negatives Urteil über ihre Echtheit fällig. Wer den Jesus der Geschichte und den Christus des Glaubens vereinerleit, versucht faktisch, das historische Bewußtsein der Moderne umzukrempeln, das aber nach wie vor Geltung hat. Es ist lebensnotwendig und, nachdem die großen Konfessionen und Religionen versagt haben, allein fähig, Frieden zwischen den Menschen und ihren Ideologien oder Religionen anzubahnen. Das historische Bewußtsein bildet überhaupt einen festen Bestandteil unserer heutigen Welt. Ohne diese Errungenschaft menschlicher Kultur wäre ein vernünftiger Dialog weder in der Politik noch in der Wirtschaft, noch im privaten Bereich möglich. Wie kann es da angehen, daß wir, sobald wir den Bereich der Religion betreten, davon ablassen sollen? Das Ergebnis ist bekannt: eine innere Spaltung bzw. ein Auseinandertreten von Wissenschaft und Religion, das zu Lasten von beiden geht.
Im folgenden seien die Grundlagen und Voraussetzungen meiner Arbeit genannt:
Bezüglich des Verhältnisses der drei ältesten neutestamentlichen Evangelien zueinander liegt den Analysen eine modifizierte Zweiquellentheorie zugrunde. Diese besagt: Das MkEv ist das älteste erhaltene Evangelium und stammt ungefähr aus dem Jahre 70. Mt und Lk benutzten etwa zwanzig Jahre später unabhängig voneinander sowohl das MkEv als auch eine Redenquelle (= Q), die etwa genauso alt wie jenes sein dürfte. Darüber hinaus haben sie jeweils ihre eigenen Sonderüberlieferungen verwendet. Eine Kurzeinleitung auf der Grundlage von Gerd Lüdemann / Frank Schleritt: Arbeitsübersetzung des Neuen Testaments, 2008, ist den Einzelanalysen der Synoptiker jeweils vorangestellt.
Das ThEv aus dem Fund bei Nag Hammadi in Oberägypten im Dezember 1945 gehört unbedingt zu den hier zu untersuchenden Quellenschriften, da es, wie immer deutlicher wird, zum Teil eine gegenüber dem Neuen Testament unabhängige Tradition widerspiegelt (vgl. die Einführung zu Kapitel IV).
Vor der Analyse der Traditionen möchte ich die Kriterien für die Urteile über a) Unechtheit und b) Echtheit von Jesusworten und -taten nennen, die sich mir freilich – das sei hier betont – erst nach der Analyse sämtlicher Texte wie von selbst ergeben haben. Methodenreflexion folgt nämlich organisch arbeitender Methode immer erst nach. Allerdings habe ich nicht zu jeder einzelnen Perikope ausdrücklich gesagt, welches Kriterium mich beim abschließenden Urteil über Echtheit bzw. Unechtheit geleitet hat. Das mag sich der Leser jeweils erschließen.
a) Unechtheitskriterien
Erstens sind solche Worte und Taten unecht, in denen der auferstandene Herr redet und handelt bzw. als Sprecher und Akteur vorausgesetzt wird. Denn Jesus redete und handelte nach seinem Tod nicht mehr selbst. Da aber nicht auszuschließen ist, daß dem »Auferstandenen« Worte oder Taten des historischen Jesus zugeschrieben wurden – historischer Jesus und Christus des Glaubens waren für die frühen Christen identisch –, ist jeweils zu prüfen, ob nicht vielleicht den jeweiligen Worten des Erhöhten ein Wort des Irdischen zugrunde liegt.
Zweitens sind diejenigen Taten unhistorisch, die eine Durchbrechung von Naturgesetzen voraussetzen. Dabei ist es unwichtig, daß die Menschen zur Zeit Jesu diese Gesetze nicht kannten bzw. nicht in naturwissenschaftlichen Kategorien gedacht haben.
Drittens besteht bei sämtlichen Worten Jesu, die Antworten auf Gemeindesituationen einer späteren Zeit geben, ein Verdacht auf Unechtheit.
Viertens – eng mit dem zuletzt genannten Kriterium zusammenhängend – unter dem dringenden Verdacht, unecht zu sein, stehen diejenigen Worte und Taten Jesu, die sich der redaktionellen, d.h. schriftstellerischen Arbeit des Endverfassers der jeweiligen Quelle verdanken.
Fünftens sind diejenigen Worte und Taten unecht, die eine heidnische (und nicht jüdische) Zuhörerschaft voraussetzen. Denn es steht fest, daß Jesus ausschließlich im jüdischen Bereich tätig war.
b) Echtheitskriterien
Erstens dürften viele Worte und Taten Jesu auf der Grundlage des Anstößigkeitskriteriums als echt zu erweisen sein.
Bezüglich der Taten Jesu gehört hierher beispielsweise sein Entschluß, sich von Johannes taufen zu lassen. Die Taufe Jesu war den Christen seit der allerältesten Zeit anstößig, und sie wurde von Anfang an auf verschiedene Weise umgedeutet, vollständig verschwiegen oder von »Jesus« selbst zurückgewiesen.
Bezüglich der Worte Jesu gehören hierher Gleichnisse, in denen »unmoralische Helden« (Schramm / Löwenstein) erscheinen: der Mann, der einen Schatz im Acker findet und das Grundstück kauft, ohne seinen Fund zu melden (Mt 13,44), oder der ungerechte Haushalter, der seinen Rechenschaft fordernden Herrn betrügt, um bei den Schuldnern seines Herrn Unterschlupf zu finden (Lk 16,1b-7). Schließlich handelt Jesus oftmals selbst als unmoralischer Held und pflegt geselligen Verkehr mit Prostituierten und Zöllnern. Auch dies wurde in der jüngeren Tradition verändert bzw. »interpretiert«.
Zweitens ist das Differenzkriterium ein plausibler Weg, echtes Jesusgut zu ermitteln. Bei seiner Anwendung geht es um die Frage, ob Jesusworte und -taten aus den nachösterlichen Gemeinden abgeleitet werden können. Im negativen Fall, bei einer Differenz zwischen den Gemeinden und Jesus, kommt letzterer als Sprecher des jeweiligen Wortes bzw. als Urheber der Tat in Betracht.
Drittens bietet das Wachstumskriterium eine gute Chance, authentisches Jesusgut zu identifizieren. Die Endgestalt bestimmter Texte läßt sich mit einer Zwiebel vergleichen, von der sich eine Haut nach der anderen abziehen läßt. Je älter eine Texteinheit ist, desto stärker ist sie überlagert von jüngerer Überlieferung. Beispiele dafür liegen in den ethischen Radikalismen der Bergpredigt vor.
Viertens sei das Seltenheitskriterium genannt, das sich auf diejenigen Taten und Worte Jesu bezieht, die nur wenige Parallelen im jüdischen Bereich haben.
Fünftens bietet das Kriterium der breiten Bezeugung eine gewisse Gewähr, daß Worte und Taten Jesu echt sind, die unabhängig voneinander mehrfach überliefert wurden.
Sechstens läßt sich zur Eruierung echter Worte Jesu das Kohärenzkriterium verwenden, das jeweils die Frage stellt, ob sich eine bestimmte Aussage oder Tat sicherem Jesusgut nahtlos zuordnen läßt.
Aus all dem wird klar: Wer zu Jesus vordringen will – nicht zu dem Jesus, wie ihn die frühen Christen gezeichnet haben, sondern zu dem Mann aus Nazareth, wie er wirklich war –, muß mit der Schärfe des Verstandes zunächst einmal all das abtragen, was sich nachträglich um die Worte Jesu gelegt hat – in der Hoffnung, so das Urgestein der echten Worte Jesu zu erreichen.
Mit dem Ausdruck »Hoffnung« räume ich ein, daß eine solche Rekonstruktion, wie jede wissenschaftliche Arbeit, immer verbesserungsbedürftig bleibt. Das Bild des Urgesteins macht gleichzeitig deutlich: Nur eine hohe Annäherung an die Worte Jesu ist im günstigsten Fall zu erreichen, nicht aber ihre ursprüngliche Form. Wir stoßen auf das Urgestein, die unmittelbare Nähe, nicht aber auf die Worte Jesu selbst. Das ist ja auch deswegen auszuschließen, weil Jesus aramäisch sprach und seine Worte nur in griechischer Übersetzung erhalten sind.
Gleiches gilt für die Taten Jesu: Auch hier kann es sich, wenn gesagt wird, dies oder jenes sei historisch zutreffend, nur um eine große Nähe zu dem handeln, was damals wirklich geschah. Denn mehr noch als die Überlieferung von Worten zieht die erzählende Wiedergabe von Ereignissen immer eine Veränderung des Ursprünglichen nach sich.
Eine weitere Grenze für das vorliegende Unternehmen ergibt sich daraus, daß Jesu Taten und Worte in einem bestimmten Milieu verwurzelt sind und erst von hierher eigentlich verstanden werden können. Ich trage dem zwar regelmäßig Rechnung und lege partiell Rekonstruktionen dieser Welt Jesu vor. Doch bleibt zweifellos ein beträchtlicher Rest. Gleichzeitig ist darauf zu bestehen, daß in jedem Fall mit der Analyse der Jesustraditionen und nicht mit der Rekonstruktion der Umwelt Jesu zu beginnen ist und daß trotz der genannten Einschränkungen von dieser Analyse ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
Alles, was sich über das Gesagte hinausbewegt, betrifft die Frage der religiösen Gewißheit, die nicht Gegenstand dieses Buches ist. Mir ist auch klar, daß die Menschen nicht allein vom Brot der historischen Fakten zu leben vermögen. Wohl aber bin ich der Auffassung, daß die in diesem Werk durchgeführten Analysen und die Rekonstruktionen der historischen Tatsachen wichtige Voraussetzungen für die mit Jesus verbundene religiöse Frage sind.
Dies sei noch kurz angedeutet: Ebenso wie der christliche Glaube in sich zusammenfallen würde, wenn Jesus nie gelebt hätte, so kann er als christlicher Glaube wohl nur weiter existieren, wenn es ihm gelingt, wenigstens in einigen wichtigen Punkten an Jesus anzuknüpfen. Falls dies unmöglich sein sollte, fällt der christliche Glaube zwar nicht automatisch zusammen – kein Glaube wird je durch Argumente widerlegt –, wohl aber müßte er aus Gründen der Redlichkeit auf das Prädikat »christlich« verzichten und sich einen anderen Grund suchen.