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Kapitel 2

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Sebastian Schlichtkohl tauchte aus den Abgründen seines Traumes empor wie ein Schwimmer nach einem Sprung von einer hohen Küstenklippe aus dunkelblauer Meerestiefe. Sein Herz schmerzte und klopfte so rasend, als wolle es zerspringen. Weil etwas rhythmisch an seiner Brust pulsierte, glaubte er einen panischen Augenblick lang, es habe seinen Körper schon verlassen – und wachte erschreckt auf.

Er bemerkte, dass er haltlos schluchzte, und dass sein Kopfkissen völlig durchfeuchtet war. Es dauerte eine zeitlang, bis der Professor verstand, dass Herzeleid und Zähren – wahrscheinlich auch seine Erektion – Nachwirkungen eines Traumes waren. Er versuchte, sich zu erinnern, welche Monster ihn im Schlaf gequält hatten; aber sein Gedächtnis war leergefegt.

Klar war ihm nur, dass er einen Albtraum durchlitten hatte. Es vergingen noch ein paar Sekunden, ehe ihm dämmerte, dass sich Sammi an seiner Brust putzte, der Radiowecker einen Walzer aus dem Kraut-und-Rüben-Programm von Klassik Radio spielte und das Telefon klingelte.

Mutter! Eilig schwang Schlichtkohl seine langen Beine aus dem Bett, rappelte sich hoch, stolperte über seine Pantoffeln und hastete strauchelnd ins Wohnzimmer zum Fernsprecher. Nur seine Mutter rief mitten in der Nacht an, seit sie im Altersheim saß wie im Knast – wofür er sich schuldig fühlte – und wunderlich geworden war. Sie hatte keine Geduld und hängte viel zu rasch wieder ein, statt ein wenig auf die Verbindung zu warten. Wenn sie ihn aber nicht erreichte, machte sie sich die unmöglichsten Sorgen: Sie glaubte, er sei krank, weil er nicht genug esse, liege im Hospital, weil er angefahren worden oder wegen Überarbeitung zusammengebrochen sei.

Er ließ sich mit einer Drehung, die ihm nur teilweise gelang, in den Fernsehsessel fallen, kollidierte bei der Landung unsanft mit der rechten Armlehne, hob aber dennoch den Hörer an sein Ohr. Er erwartete das Pfeifen des Hörgeräts der alten Dame, aber es war Gotthard. Gotthard Hasenklee vom Institut für Organische Chemie, sein einziger echter Freund an der Universität – und erst 6.12 Uhr, wie er auf dem Telefondisplay sah. Er wollte sich melden, aber aus seinem Hals kam nur ein Krächzen.

»Entschuldige, dass ich dich so früh störe, Sebastian«, sagte Hasenklee. Er klang verschnupft und heiser. Hatte er auch einen Albtraum gehabt? fragte sich Schlichtkohl. »Ist schon okay«, antwortete er, und diesmal funktionierten seine Stimmbänder halbwegs normal, »hätte sowieso bald aufstehen müssen.« Das stimmte nicht, aber er mochte den Kollegen und wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte, weil er ihn geweckt hatte. «Was gibt’s Dringendes?«

Hasenklee zog die Nase hoch. »Du, Leo ist tot«, sagte er, und seine Stimme zitterte bedenklich. Schlichtkohl konnte hören, welche Überwindung diese Worte den Kollegen kosteten. »Vergiftet. Als er nicht nach Hause gekommen ist, bin ich heute Morgen um vier los, um ihn zu suchen. Ich musste nicht weit gehen. Er hatte sich noch bis zur Treppe vorn an der Straße geschleppt und war da gestorben – auf der zweiten Stufe.«

Hasenklees Stimme versagte, aber er zwang sich, weiter zu reden. »Ich glaube, ich kenne das Gift – er muss sehr gelitten haben.« Er brach ab, und Schlichtkohl verstand, dass der Schnupen kein Schnupfen war. Es waren Tränen.

Er sah Leo vor sich: ein riesengroßer bildschöner Kater mit Pfoten breit wie Tennisbälle, ein wahrer Herkules unter den Katzen. Main-Coon-Gene hatten sich in ihm besonders vorteilhaft mit den Erbanlagen von ein paar anderen Rassen vermischt und ihm neben seiner massigen Statur auch einen zweifarbigen Körper beschert. Die rechte Hälfte des kleinen Pumas war weiß, die linke schwarz. Weil die Farbverteilung mit Ausnahme der Bauchpartie völlig symmetrisch war und die Trennlinie präzise entlang der Wirbelsäulenmitte verlief, sah er wie gemalt aus. Sein Schwanz war schwarz-weiß geringelt. Leos Kopf war kohlrabenschwarz, hatte schneeweiße Schnurrhaare und Ohren sowie riesige dunkelblaue English blue-Augen.

Leo hatte um seine Schönheit gewusst und gerne ein wenig angegeben und mit Vorliebe für Fotos posiert. Aber sein Aussehen war ihm nicht zu Kopf gestiegen: Obwohl noch im Besitz seiner Hoden, war er, wenn ihn keine Katzenbraut nervös machte, zutraulich und anschmiegsam gewesen, freundlich und friedfertig. Trotz seiner Muskelpakete war er Katzenkämpfen häufig aus dem Weg gegangen, soweit man wusste, oder hatte seine von vornherein hoffnungslos unterlegenen Herausforderer gnädig mit einem zerfetzten Ohr davonkommen lassen. Viel lieber hatte er Hunde vermöbelt – und zu Hasenklees Entsetzen hatte er sich nicht nur mit Dackeln und Terriern angelegt.

Bis auf die Hunde und ein paar eifersüchtige Kater hatten alle Leo geliebt. Selbst Sammi, die andere Katzen verabscheute und mit Utnapischtim nur den Sachzwängen gehorchend eine Art Burgfrieden geschlossen hatte, war bei einem Besuch von Hasenklee in Begleitung seines Katers Leos Charme erlegen.

Aber der schwarz-weiße Herzensbrecher war keine Wohnungskatze gewesen, der ein Balkon als Auslauf genügte; abends gegen acht musste er raus in die gefährliche Freiheit des Barmbeker Straßendschungels und seines Jagd- und Liebesreviers im Hamburger Stadtpark. Zwischen eins und halb zwei war er aber immer durch seine beiden Katzentüren gebollert, hatte sich in der Küche auf sein Trockenfutter gestürzt und war anschließend zu Hasenklee ins Bett gekommen.

Ab und zu hatte er seinem Herrchen von seinen nächtlichen Streifzügen auch ein Geschenk mitgebracht – meist große fette graue oder schwarze Hamburger Kanalratten.

Gotthard hatte Leo geliebt, dachte Schlichtkohl betrübt, so wie er Sammi liebte. Wenn er sich überlegte, wie ihm zumute wäre, wenn er seine Süße tot vor der Haustür gefunden hätte – der arme Kerl musste sich scheußlich fühlen! Man konnte Katzen wie Menschen lieben – oder sogar noch mehr!

»Das ist ja entsetzlich«, sagte er. »Der arme Leo! Tut mir unsagbar leid! Kann ich was für dich tun? Soll ich nach meinem Seminar zu dir kommen – so gegen halb eins? Dir geht’s dreckig, oder?«

»Kann man sagen!«, antwortete Hasenklee. »Danke für das Angebot, aber ich fahre weg. Weit weg. Jetzt sofort. Es muss sein. Habe mich im Institut per E-Mail krank gemeldet.« Er schnupfte ein paar Mal. »Ich rufe dich an, weil ich deine Hilfe brauche. Ich habe seit fünf oder sechs Monaten ein Ferkel, ganz seltene Rasse – ein Mangalitza-Wollschwein. Sie ...« er versuchte zu lachen, aber es klappte nicht, »sie ist knapp ein halbes Jahr alt, ziemlich klein für ihr Alter und heißt Brunhilde. Sie ist stolz auf ihren Namen.«

Er schnäuzte in ein Taschentuch. »Sie ist blitzgescheit, sehr gelehrig und macht kaum Dreck oder Arbeit, und sie ruiniert auch keine Möbel, wenn man sie nicht alleine in ein Zimmer sperrt, aber sie hasst Autofahren. Ich kann sie ohnehin nicht mitnehmen. Sei so nett und kümmere dich um sie. Am besten holst du sie nach dem Seminar ab – mit der U-Bahn, die verträgt sie nämlich. Ich stelle sie solange in ihrer Kiste in meinem Keller unter – du weißt, wo mein Fahrrad steht. Ich habe dir geschrieben, was du wissen musst.« Er schnupfte wieder. »Sie hat sich mit Leo gut vertragen, ist also mit Katzen vertraut.« Noch ein Schnupfenanfall. »Geht das in Ordnung?«

»Na klar!« brachte Schlichtkohl heraus. Er wollte noch etwas Nettes über Leo sagen und etwas Zorniges über die Leute, die Hauskatzen vergifteten, und er wollte seinen Freund fragen, wo er hinfahre und wann er zurückkomme; aber Gotthard fiel ihm ins Wort. »Entschuldige, Sebastian, ich muss sofort los. Habe weit zu fahren. Es geht echt um Minuten. Lies den Brief, da steht alles drin!« Er hängte ein.

Schlichtkohl hielt den tutenden Hörer noch eine Zeit lang ratlos in der Hand. Er verstand zwar, dass Hasenklee nach dem Tod seines geliebten Katers traurig war und die leere Wohnung verlassen wollte, um anderswo über den Schmerz hinwegzukommen; aber wieso diese Hast?

Und: Was hatte Hasenklee mit Leo gemacht? Er würde niemals wegfahren und die Leiche seines Katers zurücklassen! Gotthard würde es sich nicht nehmen lassen, in aller Form von dem toten Gefährten Abschied zu nehmen.

Er sah Gotthard vor sich: Mittelgroß, schlank und südländisch dunkel, durchtrainiert, charmant und freundlich. Hasenklee war ein begnadeter Tänzer und ein erstklassiger Schauspieler, und warum er statt beim Theater bei der Organischen Chemie gelandet war, verstand keiner seiner Freunde, am wenigstens Schlichtkohl, der Gotthard hin und wieder – meist nach einer Enttäuschung mit Mara – um sein gutes Aussehen, sein Bewegungstalent und seine Eleganz beneidet hatte.

Er schüttelte den Kopf. Welch ein Morgen! Erst dieser wirre Traum, der ihn so erschüttert hatte, dann Hasenklees Anruf! Hoffentlich ging der Tag nicht so weiter! Er entleerte seine Blase und suchte Sammi.

Im Schlafzimmer war sie nicht, auch nicht im Wohnzimmer. Plötzlich packte ihn eine wilde Angst, ihr könnte etwas passiert sein, und er hastete ins Gästezimmer. Hier war sie auch nicht. Oder doch? Er knipste das Licht an, kniete sich hin und schaute unters Bett: Utnapischtim lag auf seinem Polster aus Einkaufsbeuteln und funkelte ihn mit zurückgelegten Ohren fluchtbereit an. Die grafitgraue Haube, die den in sein Schädeldach implantierten walnussgroßen »Stecker« bedeckte, sah aus wie eine winzige Chamulka, ein »Judenkäppi«.

»Entschuldigung, Pischti!«, sagte der Professor. »Kein Grund zur Panik. Ich hab nur Sammi gesucht. Schlaf schön weiter! Es ist alles in bester Ordnung!« Aber der Kater stand auf, Angst in seinen riesengroßen braunen Augen, kroch mit eingezogenen Beinen und sich nach ihm umblickend, zur anderen Seite des Betts, und schoss davon, dass die Teppichbodenfasern durch die Luft stoben.

Schlichtkohl wünschte, wie so oft, er könne Pischti helfen. Er hatte den großen dünnen, schwarzbraun gefleckten Kater mit den mühlradgroßen Augen aus einem Institut für Epilepsieforschung gestohlen und ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Versuchstiere wurden nach Abschluss der Experimente routinemäßig eingeschläfert.

Er war bei einem Besuch der Tierlabors und der Versuchstierhaltung eines internationalen Pharmakonzerns, den ihm Gotthard ermöglicht hatte, auf den Kater aufmerksam geworden. Als er von einem Mitarbeiter des Multis, der ihm mit Bedacht nur relativ Unverfängliches zeigte, in den Wohnraum der »Steckerkatzen« geführt worden war, hatte ihn Pischti auf seine Weise begrüßt. Von einer kleinen Plattform an der Spitze eines Kletterbaums hatte er ihm eine Unzahl von Nasenküsschen gegeben.

In der weiß gekachelten Kammer, die von einem kleinen Radio beschallt wurde (»Damit sie sich an menschliche Stimmen gewöhnen können!« hatte sein Führer gesagt), war ein bunter Schwarm von etwa zwanzig Katzen herumstolziert. Alle hatten gesund und wohlernährt ausgesehen, und einige waren ihm sogar maunzend um die Beine gestrichen. Aber sämtliche Tiere trugen auf der Schädeldecke den eigelbgroßen flachen Hügel aus Zement – oder was immer es war – mit einem oder zwei Steckerschlitzen.

Durch diese Schlitze schoben Forscher Minielektroden ins Katzenhirn. Sie reizten bestimmte Areale mit elektrischen Impulsen, sodass die Tiere einen epileptischen Anfall erlitten. Auf diese Weise testeten die Wissenschaftler, ob und wie gut Antiepileptika wirkten – Medikamente gegen die Fallsucht.

Er hatte damals gleich gewusst, dass er den Kater befreien musste. Er hatte vorgegeben, begriffen zu haben, wie unersetzlich die Tierversuche seien und das in einem Artikel zum Ausdruck bringen zu wollen. Für »Recherchen« war er mehrfach in dem Labor aufgetaucht. Er hatte sich die Tastenkombination des Zahlenschlosses gemerkt, das den Katzenraum öffnete. Drei Wochen später hatte er sich unter dem Vorwand, Durchfall zu haben, von seinem Wächter entfernt, den Raum geöffnet, den Kater gepackt, mit Äther betäubt, in eine Reisetasche gesteckt und aus dem Institut getragen, seine blutenden Kratzwunden sorgfältig verbergend.

Die Laborleitung wusste wahrscheinlich, wer der Dieb war; man hatte aber nichts unternommen. Schlichtkohl nahm an, dass man Aufsehen scheute.

Pischti gab weiterhin Dutzende von Küsschen, wenn er auf einem erhöhten Ansitz hockte; aber er ließ sich auch nach zwei Jahren noch nicht anfassen. Die Haube aus weichem Leder, die ihm Schlichtkohl genäht hatte und die von Klettband auf dem Stecker festgehalten wurde, trug er allerdings klaglos.

In der Küche fand der Professor Sammi endlich. Eifrig schleckte sie ihren selbstgemachten Joghurt. Ihr ganzer Körper verriet die Konzentration, mit der sie zu Werke ging. Er schien im Moment der ersten Zungenberührung mit der Dickmilch mitten in der Bewegung eingefroren und war wie eine Sehne gespannt. Sogar der Schwanz stand starr waagerecht in die Luft, halbhoch mit einer Kurve im letzten Drittel – eine trinkende Bronzestatue.

Auf einmal machte Sammi eine Pause. Sie setzte nur ein oder zwei Schlabberschlucke lang aus, aber schon war die »Bremse« gelockert, die Schwanz und Körper hydraulisch arretiert hatte. Der Schwanz sank, seine Linkskurve öffnete sich. Doch da ging das Schlabbern weiter, und wieder setzten Standbild-Starre und Stock-Steife ein. Zwei Zentimeter über dem Boden kam der Schwanz zum Stillstand. Sammi war wieder zu einem Standbild mit wieselflinker Zunge geworden.

Kein Wunder, dachte der Professor. Er hatte seine Mieze oft genug beobachtet und erkannt, dass sie beim Trinken drei- bis viermal pro Sekunde das Mäulchen öffnete, die Zunge herausschnellen ließ, sie krumm wie eine Schöpfkelle in die Milch tauchte, zurückzog, an den Lippen, am Gaumen oder wo auch immer abstreifte und wieder ausfuhr. Das Dreiecksmaul arbeitete so rasch, als stritte sie sich lautlos auf sizilianisch. Da sie auch häufig schluckte, war Trinken eine überaus beeindruckende Koordinationsleistung, die ohne ein Höchstmaß an Konzentration undenkbar war.

Vor ein paar Monaten hatte die Katze damit begonnen, an ihrem Milchschälchen nur zu nippen und den Rest so lange unberührt zu lassen, bis er zu einer Art Joghurt geworden war. Schlichtkohl war überzeugt, dass Absicht dahinter steckte. Auf jeden Fall war das Prinzesschen sehr erbost gewesen, als er zu Anfang – damals hatte er die feline Fermentation noch nicht als gezielte Aktion durchschaut – die Näpfe mit dem vermeintlich ungewollten Überrest weggenommen und ausgespült hatte.

»Schmeckt’s?«, fragte er. Keine Antwort. Beim Essen sprach man nicht, bedeutete das wohl. Also wartete der Professor, bis seine Katze ihr Mahl beendet hatte und ihren Kopf schüttelte, dass er wie ein Flugzeugpropeller zu einem Schemen verschwamm und winzige Dickmilchtropfen in alle Himmelsrichtungen davonstoben. »Hat’s geschmeckt?« wiederholte er seine Frage. Sammi schaute auf und sagte stimmlos und mehr gehaucht als gesprochen, aber mit großer Bestimmtheit: »Ja–a!!!«

Ein Schwall von Zuneigung und Liebe durchströmte Schlichtkohl. Er bückte sich und streichelte ihr zärtlich über Kopf und Rücken, den sie ihm prompt entgegenwölbte.

Das »Ja–a!!!« war eine Variation von Sammi Monopol–Laut »A!!!« und wurde von der Katze meist zur Bestätigung eingesetzt. Er glaubte nicht, dass es auf dem Erdball noch eine Katze gab, die »Ja–a!!!« oder »A!!!« sagen konnte. Auf jeden Fall war ihm auf keiner seiner Reisen und auf keiner Katzenshow dieses offene, gehauchte, beinahe wegwerfende, meist stimmlose A, das Sammi mit Verve vortrug – ja, beinahe ein wenig ausspie – je zu Ohren gekommen.

Bei aller Einmaligkeit war das »A!!!« ein Mehrzwecklaut. Sammi sagte »A!!!«, wenn man sie weckte – hier bedeutete es so etwas wie »Huch!« – und wenn sie zu ihm kam, um Zärtlichkeit zu tanken. Dann war es wohl ein freundliches »Sei mir gegrüßt!« oder »Na endlich bist du wieder da!« »A!!!« war auch angesagt, wenn er ihren Brekkies-Napf vor dem Schlafengehen noch einmal unter ihren kritischen Augen auffüllte – für den kleinen Hunger in der Nacht. Hier war es ein Laut der Zufriedenheit und bedeutete etwa »Na also!«

Je nach Bedeutung war die Aussprache des »A!!!« ganz verschieden. Es konnte staunend, erschreckt, heiter, abwehrend, dankbar, interessiert, ja sogar neutral klingen. Und tadelnd: Wenn er Sammi beispielsweise von ihrer Lieblingsdecke hob, obwohl sie gerade so bequem auf ihr ruhte, war das »A!!!« ein sanfter Protestlaut. Dann bedeutete es wohl »Hee! Was soll das?«

Am liebsten hörte Schlichtkohl die einzige stimmhafte Version des »A!!!« – ein zärtliches, piepsig-helles Stück Katzenbabysprache, das Sammi nur in Momenten großer Zuneigung und heißen Katzenglücks benutzte.

Der Professor füllte die beiden Katzennäpfe nach den Vorlieben der Stubentiger. Sammi fraß neben Thunfisch, den sie sehr liebte, und einer Reihe von Leckerbissen nur exquisites Futter aus kostspieligen kleinen Dosen mit französischer Aufschrift. Sie rührte allein »Mousse« an – eine luftig-lockere Breizubereitung, die der Hersteller »Pastete« nannte. Alle Sorten, die Bröckchen enthielten, verschmähte sie; denn sie leckte ihr Essen auf und ließ alles liegen, was die Zunge nicht ins Maul befördern konnte.

Die Zähne benutzte sie nur in Ausnahmefällen – wenn es warmes Hühnerfleisch, den Fettrand von gekochtem Schinken oder geräucherte Makrele gab. Dann aber brach das Raubtier durch, und Sammi packte und schüttelte die »Beute« wie eine Wildkatze einen frisch gefangenen Vogel.

Aber sie war sehr pflegeleicht. Der Professor musste nur daran denken, »Mousse« und Katzenkuchen vorrätig zu halten – und ihre Mahlzeiten – mit Ausnahme der ersten Portion aus einer neu geöffneten Dose – mit etwas Sonnenblumenöl anzurühren. Darauf bestand Sammi, die ansonsten sehr bescheiden war und pro Portion selten mehr Pastete vertilgte als zwei gehäufte Teelöffel.

Dabei war sie keineswegs dünn. Schlichtkohl führte Sammis Zurückhaltung am Futternapf und ihre Rundlichkeit auf einen überproportionalen Katzenkuchen–Verzehr zurück oder auf ihre altersbedingte Bequemlichkeit. Immerhin war seine Süße schon 14. Wenn er daran dachte, dass sie das zur Hundertjährigen machte, wenn man wie bei Hunden ein Tierjahr sieben Menschenjahren gleichsetzte, fühlte er Wellen panischer Verlustangst, aber auch Hochachtung und Bewunderung. Denn man sah Sammi ihr Alter nicht an. Sie hätte auch fünf sein können. Gab es bei den Menschen Greisinnen, mit einem Jahrhundert auf dem Buckel, die wie fünfunddreißig wirkten?

Pischti war genauso wählerisch wie Sammi, obwohl er kein Feinschmecker war: Er bestand auf der Billigmarke Topic von Aldi, die man ihm möglicherweise im Labor gegeben hatte. Welche Leckerbissen der Kater mochte, wusste der Gelehrte nicht: Utnapischtim schlang sein Futter hastig herunter, wenn er sich alleine glaubte – und verzog sich wieder unters Bett.

Schlichtkohl hatte ihm mehrfach etwas Räucherlachs oder ein Stückchen Hühnerschenkel an sein Versteck gebracht. Das verschreckte Tier hatte zwar einen langen Hals gemacht und interessiert geschnuppert, aber nichts angerührt. Pischtis Misstrauen war unendlich.

Der junge Kater – er war zwischen drei und vier Jahren alt – fraß wie ein Scheunendrescher, war aber mager wie ein äthiopischer Marathonläufer. Der Professor vermutete, dass Sport ihn so schlank erhielt. Pischti war ein Sprinter und Meisterspringer. Er ging nur selten im Schritt durch die Wohnung, sondern rannte meist mit Höchstgeschwindigkeit, und er konnte mit einem Satz aus dem Stand vom Boden auf die Oberkante einer Wohnzimmertür springen.

Der Altorientalist nahm an, dass der Kater vor allem dann »trainierte«, wenn er die Wohnung verlassen hatte. Wahrscheinlich flog er dann wie ein Vogel von der Tür zur Gardinenstange, zum Bücherregal und zurück! Nur gut, dass die Schädelwunde ihn nicht zu behindern schien!

Schlichtkohl füllte die Wasserschälchen und die Brekkies-Näpfe seiner beiden Haustiere auf, fischte Urinknollen aus beiden Toiletten und schaute auf die Küchenuhr: Es war 6.27 Uhr. Es reichte vollkommen, wenn er um kurz vor elf im Institut am Allendeplatz war, überlegte er. Das bedeutete, dass er spätestens um halb elf in der U-Bahn sitzen musste – was wiederum hieß: kurz nach neun Uhr aufstehen.

Er ging ins Bad und blickte in den Spiegel. Ein nettes offenes Gesicht schaute ihn an. Die gerade Nase und die Ohren waren stattlich dimensioniert, aber seiner Größe durchaus angemessen. Die meerblauen Augen blickten freundlich und klug, und obwohl der ein wenig spöttisch geschwungene Mund seine Winkel pessimistisch nach unten bog, sorgten die schönen Lippen, die Lachgrübchen auf beiden Wangen zusammen mit dem wohlgeformten Kinn für einen angenehmen Gesamteindruck. Der Mann sah liebenswürdig aus, kultiviert, sensibel und scharfsinnig. Ein Hauch jungenhafter Schüchternheit sorgte dafür, dass das Gesicht nicht zu gescheit wirkte.

Schlichtkohl schüttelte den kahlen Kopf vor sich selber. Er versuchte zwar, sich objektiv zu betrachten; aber er bewertete stets sein »altes« Aussehen, das er Jahrzehnte lang verinnerlicht hatte, automatisch mit. Jeden anderen würde der Ersteindruck, den sein nackter Schädel erzeugte, daran hindern, sein Gesicht mehr als oberflächlich zu betrachten. Alle würden nur eine Bowlingkugel mit Augen, Mund, Nase und Ohren sehen – und zurückschrecken.

Wem würde auffallen, dass die spiegelnde Glatze, die sich wie die Kugel eines Deorollers wölbte, überhaupt nicht zu dem jugendlich straffen und wohltuend symmetrischen Gesicht passte? Dass es förmlich nach einem Haarschopf, Koteletten und Augenbrauen schrie, nach dem dunklen Schimmer eines unaufhörlich wachsenden Bartes an Wangen und Hals. Und natürlich nach Wimpern.

Der Professor beugte sich vor: Rechts hatte er noch zwei Wimpern, links sprossen drei aus dem Lidrand. Er traute sich nicht, sie zu berühren. Wahrscheinlich waren sie scheintot und würden sofort ausfallen.

Was ein paar tote Keratinfäden – mehr waren Haare ja nicht – ausmachten! Ohne Augenbrauen wirkte seine Stirn viel kantiger, die Augenhöhlen erinnerten an Krater, und die Lider sahen ohne Wimpern entzündet aus.

Mara hatte ihn zwar schon gekannt, als er haariger gewesen war, als man das bei Lehrstuhlinhabern für angemessen hielt; aber sie würde das bald vergessen haben. Oberflächlichkeit war eine der wichtigsten modernen Tugenden. Es war bedeutsamer, gut auszusehen, als intelligent zu sein, und eine gestylte und gepflegte Mähne machte ungleich mehr her als innere Werte. Ein kahler Albert Schweitzer hatte keine Chance gegen einen blond gelockten Brad Pitt.

Mit einem verächtlichen Grunzen wandte sich Schlichtkohl vom Spiegel ab und verließ das Bad. Er griff sich Sammi, die eben aus der Küche in Richtung Wohnzimmer schnürte und ein überraschtes »A!!!« ausstieß, und ging ins Schlafzimmer. Er setzte die Katze auf ihren Platz an seiner Seite und sprang ins Bett. Dann packte er den Wecker und schlug ihn dreimal kräftig auf den Nachttisch.

Das blöde Ding hatte um 6.15 zu Dudeln begonnen, drei Stunden vor der eingestellten Zeit. Wecken zur Unzeit war eine Krankheit, die das kleine 9,90-Euro-Radio in Schüben heimsuchte wie Malaria einen Afrikaner. Bisher hatte jedoch ein wenig sanfte Gewalt immer geholfen, die Mechanik zur Besinnung zu bringen.

Der Altorientalist drehte sich um und nahm seine Katze in den Arm. Er ächzte wohlig. Noch zweieinhalb Stunden Schlaf – welch unerhörter Luxus!

Sammis eisenharte Pfoten, die über ihn hinweg trampelten, rissen ihn aus dem Schlummer. Er schaute auf die roten Digitalziffern: 10.15 Uhr. Der Wecker gab keinen Ton von sich! Entweder war das Ding endgültig kaputt, oder er war an den Lautstärkeregler gekommen, als er es zur Wiederbelebung an dem Nachttisch gehauen hatte. Das gerändelte Plastikrädchen verstellte sich bei der leisesten Berührung, meist auf null.

Mit einem lautlosen Fluch fuhr Schlichtkohl aus dem Bett und in die Kleider. Er klaubte die getragene Wäsche des Vortags – Hemd, Socken und Unterhose – hastig vom Boden auf und scherte sich nicht darum, dass der Slip gleich doppelt falsch saß – links herum und seitenverkehrt. Es ging um Sekunden. Er durfte Mara unter keinen Umständen verpassen!

Mara! Ein Nachgeschmack des Traums fuhr ihm durch die Glieder, verwirrende Erinnerungen an leidenschaftliche Küsse und heißes Glück. Erschreckt drängte er diese Gedanken zurück, versuchte aber, sie auf keinen Fall zu vergessen. Wenn er nicht gerade träumte, war ihm schmerzhaft klar, dass er nicht den Hauch einer Chance bei der schönen Studentin hatte.

Das tat ihm weh und erleichterte ihn zur gleichen Zeit; denn Bemühungen von Universitätslehrern um sexuelle Kontakte mit Studierenden waren zwar alltäglich, aber dennoch schlechter Stil.

Er stopfte das Hemd in die Hose, zog das Jackett über, schlüpfte in die Schuhe und rannte zur Tür. Dort angekommen, drehte er um, galoppierte zur Anrichte zurück, steckte Geldbeutel, Schlüsselbund und Brillenetui ein, schleuderte die Keilschrift-DVD mit den neusumerischen Wirtschaftsurkunden, Prozessdokumenten und Rechtstexten aus den Stadtstaaten Umma und Ur in seine Aktentasche, lief aus der Wohnung, machte nochmals kehrt, grapschte seine Armbanduhr vom Nachttisch, warf sie in die Sakkotasche, hetzte zum Ausgang, knallte die Tür zu, schloss sie ab und hastete polternd die acht Treppen zum Ausgang herunter. Es war 10.24 Uhr.

Er stürzte sich in einer scharfen Rechtskurve auf die Himmelstraße und lief los. Kaum in Fahrt, streifte er schon eine alte Dame, die aus der Naturheilpraxis im Tiefparterre eines Nachbarhauses trat und plötzlich stehen blieb, ein wenig mit der Aktentasche, rief ihr eine Entschuldigung über die Schulter zu, überquerte die Rehmstraße, ohne auf Autos zu achten und bog in einer Schräglage wie ein Skirennfahrer beim Abfahrtslauf der Winterolympiade nach links in die Alsterdorfer Straße ein. Er schlängelte sich durch Auslagen von Obsthändlern und Blumenläden, die den größten Teil des Trottoirs versperrten – ihm war nie aufgefallen, welche Unzahl von Floristen sich auf diesem nur etwa 250 Meter langen Straßenstück konzentrierte! – umkurvte die Tische von Coffeeshops und Kneipen und nahm die Kurve an der runden Sparkasse in die Bebelallee, als wäre es der letzte Schwung vor dem Ziel eines olympischen Wettkampfs.

Er gab sein Letztes, als er die Überführung der Hochbahn wie eine nietenpockige und verrostete Verheißung vor sich erblickte, überholte zwei Jogger in bunten Trainingsklamotten, sprengte die altmodischen Schwingtüren der U-Bahn-Station Hudtwalckerstraße auf und hetzte die Treppen empor, weil er oben einen Zug halten hörte. Mara!

Er schoss durch eine weitere Schwingtür auf den Bahnsteig, aber es war der falsche Zug – Richtung Ohlsdorf. Schwer atmend registrierte Sebastian Schlichtkohl mit Erleichterung, dass die Anzeigetafel die Ankunft seines Zuges in einer Minute ankündigte. Er sah auf die große runde Bahnsteiguhr: 10.28 Uhr. Er würde es wohl schaffen.

Als er in die Bahn Richtung Kellinghusenstraße stieg, fiel ihm ein, dass er sein Handy und seine Baseballmütze vergessen hatte, mit der er seit ein paar Wochen das spiegelnde Rund der Glatze zu tarnen suchte. Und, beim Sonnengott Nanna, er hatte die Zähne nicht geputzt! Bei dem Pesthauch, der manchmal morgens seinem Munde entwich, würde er unbedingt reichlich Abstand zu Mara halten müssen, falls es zu einem persönlichen Gespräch kam – was bei einem Seminar ja immer möglich war!

Rasiert war er ebenfalls nicht. Aber seitdem sein Bart nicht mehr wuchs, war das zeitraubende allmorgendliche Ritual überflüssig geworden – der einzige Vorteil von Alopecia areata!

Schlichtkohl blieb an der Tür stehen, denn es waren nur zwei Stationen bis Hoheluftbrücke, wo er in den Bus umsteigen musste. Dort angekommen, sprang er aus dem Wagen, rannte zur Treppe, stürzte sie in Dreistufensätzen hinab und schoss zur Straße, wobei er seine liebe Not hatte, drei Kindern auszuweichen, die ihm, Pommes Frites aus dem Hamburger-Laden am Fuß der Station kauend, in den Weg liefen.

Die Fußgängerampel war rot, aber obwohl kein Bus in Sicht war, rannte Schlichtkohl zur Haltestelle in der Straßenmitte. Er versuchte, sich zu beruhigen. Es war 10.36 Uhr, und er hatte jede Menge Zeit. Aber nach dem Telefongespräch mit Hasenklee und dem Traum, dessen Bilder und Gefühle sich immer wieder in sein Bewusstsein zu drängen versuchten, war das schwer. In seinem Innern brodelte es weiter.

Die 102 kam um 10.39 Uhr, und Schlichtkohl ließ sich aufatmend in einen Sitz fallen. Als der Gelehrte zusammen mit einer Horde von Studenten und Studentinnen am Grindelhof ausstieg, seiner gewohnten Haltestelle, war es erst 10.47 Uhr. Er überquerte die Grindelallee. Weil es bis zum Allendeplatz nur ein Katzensprung war, schritt er ruhig aus, obwohl ihm das Hemd am Rücken klebte und das schmale Vorderteil seiner Unterhose samt »Eingriff« ganz und gar in den Spalt zwischen seinen Hinterbacken gerutscht war und dort unangenehm scheuerte und zwickte. Dennoch ging er so, wie er glaubte, dass ein Lehrstuhlinhaber ging.

Um 10.52 Uhr passierte er die urtümliche Burgtoreinfahrt des aus grob behauenen Steinquadern errichteten Institutsgebäudes Allendeplatz 1 und stieß die altmodische Tür auf. Gemächlich nahm er den Gruß des Pförtners entgegen, überquerte die düstere Eingangshalle mit ihrem tückisch glitzernden schokoladenbraunen Linoleum und schritt an dem mit Zetteln übersäten Schwarzen Brett, das hier rot war, vorbei nach rechts zur Treppe, die zu den Seminarräumen im ersten Stock führte.

Er wollte gerade die Tür von Raum 107 öffnen, als sein Blick auf einen in Kopfhöhe kleinerer Menschen mit Tesafilm befestigten DIN-A5-Bogen mit dem Briefkopf des Fachbereichs Geschichte fiel. Da stand: »Die Lehrveranstaltung 08.229, HS »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Prof. Dr. S. Schlichtkohl), findet heute aus technischen Gründen ausnahmsweise in Raum Phil 1219 statt«.

Der Professor konnte es nicht glauben. Wer verlegte ohne Rücksprache mit ihm sein Hauptseminar in den Philosophenturm? Automatisch öffnete er die schwere Tür. Die Neonröhren an der Decke brannten, aber der Raum war leer. Irgendwelche technischen Mängel waren nicht erkennbar. Schlichtkohl stieß den allerschlimmsten sumerischen Fluch aus, den er kannte, und der nicht nur den Gott Gatumbu verunglimpfte, sondern zudem noch die Mutter des Königs Gudea von Lagaš als läufige Hündin bezeichnete.

Er rannte den Korridor entlang zur Treppe, schoss grimmig an dem verdutzen Pförtner vorbei (der Idiot hätte ihm ja Bescheid sagen können, dachte Schlichtkohl erzürnt), wendete sich vor der Tür nach rechts und rannte mit flatternden Rockschößen los. Ein paar Studenten lachten hinter ihm her. Der Philosophenturm lag auf der anderen Seite des Universitätskomplexes und war einen guten Kilometer entfernt, und es war – er zerrte seine Uhr aus der Sakkotasche – 10.56 Uhr. Das würde verdammt knapp werden!

Völlig außer Atem und schweißnass erreichte Schlichtkohl den so unphilosophisch aussehenden riesigen rechtwinkligen Kastenbau aus den 60er Jahren. Er schoss durch eine der Drehtüren in die unsinnig hohe Lobby, lief zu den Lifts und stürzte in eine der Kabinen. Es war zehn Minuten nach elf. Unglaublich – er hatte es doch noch geschafft!

Im zwölften Stock eilte der Professor zu Raum 19. Er wollte gerade die Klinke herunterdrücken, als sein Blick auf einen Zettel fiel. »Das aus AP 1 107 verlegte Hauptseminar »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Prof. Dr. S. Schlichtkohl) findet heute ausnahmsweise im Raum Phil 814 statt«, stand da.

Ungläubig öffnete der Professor die Tür. Der Raum war leer. Er drehte sich benommen um, ging zu den Aufzügen, fuhr in den achten Stock und begab sich zu Raum 14. Wie er geahnt hatte, klebte wieder eine Notiz an der Tür: »Die Lehrveranstaltung 08.229, HS »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Dr. S. Schlichtkohl), fällt heute wegen Krankheit des Lehrenden aus«.

Sebastian Schlichtkohl zog mechanisch seine Uhr aus der Jackentasche. Es war 10.17 Uhr. Er hatte keine Kraft mehr, um die Tür aufzustoßen. Er war völlig durchnässt, Schweiß lief ihm in die Augen, und ihm war übel. Sport vor dem Frühstück hatte ihm noch nie gut getan. Er wankte den Korridor entlang bis zum Geschäftszimmer des Fachbereichs Geschichte, den man letztes Jahr in »Historisches Seminar« umgetauft hatte, und ließ sich auf einen der drei Stühle fallen, die vor dem Sekretariat standen.

Er hatte verloren! Wenn Mara geplant hatte, das Seminar zu besuchen, hatte sie aufgegeben und war weggegangen. Seine Kehle brannte, sein Herz klopfte laut, und in seinem Inneren wühlte ein dumpfer Schmerz, aber er war merkwürdig gefasst.

Das Mobbing ging also wieder los, und zwar in verschärfter Form. Bisher hatte man die Titel seiner Vorlesung und seiner Übungen im Vorlesungsverzeichnis geändert und dabei verunstaltet, falsche Zeiten und Räume abgedruckt oder einen Teil seiner Lehrveranstaltungen »vergessen«, seine Aushänge vom Schwarzen Brett entfernt und ihn mit Beschuldigungen überzogen. Ihm war vorgeworfen worden, eine Sekretärin beleidigt, eine Schwangere mit einem Lehrauftrag betraut und den Aushang eines Fachkollegen bekritzelt zu haben.

Er hatte zu den Vorwürfen nie Stellung nehmen können, war weder der Sekretärin gegenübergestellt worden noch hatte er die fragliche Bekanntmachung zu Gesicht bekommen. Es hatte niemanden interessiert, dass nicht er, sondern der Dekan Lehraufträge vergab, und dass er die Sekretärin überhaupt nicht kannte und nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Trotzdem war er auf Sitzungen der Fachkommission und des Fachbereichsrats beschimpft und vom Präsidenten und dem Personalrat gerügt worden.

Seine Einsprachen und Beschwerden hatten alles nur schlimmer gemacht, ebenso eine vorsorgliche Entschuldigung an die Adresse der Sekretärin, die ihm zunächst von der Fachbereichsführung dringend nahe gelegt, dann aber vom exakt gleichen Personenkreis wenig später als Eingeständnis seiner Schuld ausgelegt worden war. Er kannte die Spielregeln des Mobbing und des universitären Intrigenspiels einfach zu wenig, um sich richtig zu wehren.

Mit Aktionen wie der heutigen vergraulte man seine Studenten. Dabei war die Zahl der Studierenden, die seine Vorlesungen und seine Übungen belegt hatten und besuchten, stark zurückgegangen und sank weiter.

Das lag vor allem daran, dass Weberknecht, der einzige Altorientalist neben ihm und dummerweise gleichzeitig Chef des historischen Seminars, ihn gezwungen hatte, seine beiden beliebtesten Vorlesungen einzustellen, angeblich wegen zu geringer Nachfrage – obwohl sie viel besser besucht gewesen waren als Weberknechts eigene. Die erste hatte gelautet: »Die epochalen Erfindungen der Sumerer: das Rad, die Schrift, der Ackerbau und die Domestizierung von Haustieren, und ihr Einfluss auf die globale Menschheitsentwicklung von der vorchristlichen Zeit bis heute«, die zweite »Warum und wie epocheprägende Hochkulturen wie Sumer und Akkad in Vergessenheit geraten konnten und unter welch abenteuerlichen Umständen sie nach Jahrtausenden wiederentdeckt wurden«.

Beide Vorlesungen hatten von ungewöhnlichen Ereignissen und witzigen Anekdoten gestrotzt, die er sich ziemlich mühsam erarbeitet hatte. Die Studenten liebten ein wenig Unterhaltung beim Lernen.

Ein Semester hatten seine Vorlesungen im Vorlesungsverzeichnis gefehlt, dann waren sie wieder angeboten worden – mit unverändertem Titel – nur das Wörtchen »abenteuerlichen« fehlte, und es hieß stattdessen »unter welchen Umständen« – und, wie Schlichtkohl von Mara mitgeteilt worden war, so gut wie identischem Text. Der Referent hatte sich allerdings geändert. Der hatte August Weberknecht geheißen.

Weberknecht und seine Chefsekretärin, Frau Hundt, steckten hinter den Intrigen, da war Schlichtkohl sicher. Sie wollten ihn wegekeln. Gründe gab es aus ihrer Sicht genug: Weberknecht fürchtete sein überlegenes Fachwissen, und er hatte wohl, in tiefen Gedanken versunken wie meist, ihn und Frau Hundt ein paar Mal auf dem Campus übersehen und nicht gegrüßt. Außerdem blieb er den geselligen Veranstaltungen des Seminar-Lehrkörpers fern, nachdem er beim ersten Kneipenabend beobachtet hatte, wie seine Fachkollegen Weberknecht in peinlicher Art und Weise hofiert und angeschleimt hatten. Er war ein Außenseiter, und das wurde durch die Alopecia areata jetzt für jedermann sichtbar.

»Der nächste bitte!« Schlichtkohl schreckte auf. Eine hübsche Studentin mit hüftlangen weißblonden Haaren schwebte graziös aus dem Sprechzimmer, und hinter ihr tauchte Frau Hundt in der Tür auf. Sie war weit jenseits 50, überschminkt und füllig, versuchte aber, sich mit Gewalt und einer platinblond gefärbten Mähne auf »jung« zu trimmen.

Der Versuch war ein Fehlschlag. Die Hundt sah aus wie ein vertrocknetes Alpenveilchen, das jemand mit Lackfarbe und Haarspray aufzumöbeln versucht hatte. Oder schlimmer. Schlichtkohl war zu erschöpft, als dass ihm ein Vergleich eingefallen wäre, der dieser Ungeheuerlichkeit gerecht wurde. Aber er war sicher, der alte Meskiaggascher, der König von Uruk, hätte die Hundt als Hexe steinigen lassen.

Die Chefsekretärin machte große Augen, als sie ihn sah. »Herr Professor Schlichtkohl«, flötete sie wie eine Amsel auf Kokain, »was tun Sie denn hier? Wir haben heute Sprechstunde für Erstsemester.« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge und setzte dann hinzu: »Wollen Sie eine Auskunft für Anfänger?« Ihr Lächeln hätte ausgereicht, um einen Anderthalb-Tonnen-Ochsen zu vergiften.

»Jawohl!« Schlichtkohl sprang zu seiner eigenen Überraschung so heftig auf, dass sein Plastikstuhl an die Wand des Korridors knallte. Erschreckt wich Frau Hundt ein paar Schritte zurück. Er folgte ihr in das Vorzimmer von Weberknechts Allerheiligstem. »Können Sie mir sagen«, begann er, «wieso die Teilnehmer meines heutigen Hauptseminars durch Aushänge mit dem Briefkopf dieser Geschäftsstelle übers ganze Universitätsgelände gehetzt und dann schließlich mit der Mitteilung konfrontiert wurden, ich sei krank?« »Ich bin nicht krank!« setzte er überflüssigerweise hinzu.

»Ja, ist es denn die Möglichkeit?«, säuselte Frau Hundt, die sich schon wieder gefangen hatte, und Schlichtkohl sah in ihren Augen Genugtuung und Schadenfreude aufblitzen. »Ja, das ist es, und Sie wissen genau, wa...« Dem Professor, der zuletzt deutlich lauter geworden war, blieb das Wort in der Kehle stecken. Die rechte Hand des Institutsleiters hatte auf ihrem Schreibtisch eine Ausgabe der Hamburger Morgenpost eben so herumgedreht, dass die Lettern für ihn nicht mehr auf dem Kopf standen.

Auf dem Titelblatt prangten ein Bild von Gotthard Hasenklee, und die fette Schlagzeile: »Professor von Schlepperschraube zerstückelt«. Darunter stand in kleinerer Schrift: »Hamburger Hochschullehrer trieb tot im Hafen. Bluttat oder Selbstmord?«

Der Professor mit dem Katzenfell

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