Читать книгу Der Professor mit dem Katzenfell - Gerd Schuster - Страница 7

Kapitel 3

Оглавление

Das erste, was Sebastian Schlichtkohl sah, als er in die Tischbeinstraße einbog, war der blitzblanke Polizei-Mercedes, der sich auf der Straße vor Hasenklees Haus breitmachte. Obwohl die Dienstfahrzeuge der Ordnungshüter in ihren neuen Farben silber und blau nicht wie Polizeiautos aussahen – was um Himmels willen war am bewährten Grün der »grünen Minna« falsch gewesen, sodass man es aufgegeben hatte? – und somit verwechselbar geworden waren, war der Benz nicht zu übersehen: Als einziges Auto war er nicht auf dem Randstreifen der Straße geparkt, sondern stand auf deren schmaler Fahrbahn.

Der Professor war vom Bahnhof Hoheluftbrücke die acht Stationen bis nach Barmbek gefahren und dann zu Fuß gegangen, der Einfachheit halber die Fuhlsbütteler Straße herunter.

So war er noch nie zu Gotthard gefahren, denn er hasste es, an überfüllten städtischen Rennpisten Autoabgase zu inhalieren, die stinkenden Fürze der Verbrennungsmotoren anderer Leute. Meistens nahm er die S-Bahn bis Alte Wöhr, von wo man nur fünf oder sechs Minuten gehen musste, oder er machte einen Spaziergang quer durch die grüne Lunge der Hansestadt. Von seiner Wohnung bis zu Gotthards Haus waren es – Luftlinie – ungefähr drei Kilometer. Wenn man nicht gerade auf vögelnde Schwule stieß oder sich in Drachenschnüren verhedderte, war es eine sehr angenehme Lustwandelei.

Aber der Marsch entlang der Fuhlsbütteler Straße, der sich länger hinzog, als er nach dem Studium des Stadtplans erwartet hatte, gab ihm Gelegenheit zum Nachdenken. Trotz der Giftgasinhalation.

Er war aus dem Sekretariat gestürmt, das Kichern der Hundt im Ohr, nachdem er die Schlagzeile der Morgenpost gelesen hatte – nicht, weil er an den Tod Hasenklees glaubte, sondern weil ihm die niederträchtige Falschheit der Vorzimmerziege körperliches Unwohlsein verursachte. Immer noch hallte ihre tückische Frage: »So eine schreckliche Tragödie! Kannten Sie den armen Kerl nicht persönlich, Herr Professor?« in seinem Schädel nach.

Natürlich war Hasenklee nicht tot. Er hatte um Viertel nach sechs mit ihm telefoniert, und die Ausgabe der Morgenpost, mit der Frau Hundt ihn zu schockieren versucht hatte, war zu diesem Zeitpunkt längst gedruckt gewesen. Aber was zum Teufel war passiert? Was hatte das alles zu bedeuten?

Die beiden Insassen des vor Hasenklees Haus geparkten Polizei-Mercedes, ein dicklicher Beamter und eine Beamtin mit schwarzem Zopf, standen vor der Treppe, auf der Leo gestorben war. Die Polizistin telefonierte mit ihrem Handy. Schlichtkohl setzte sein Briefträgergesicht auf, ging auf den Ordnungshüter zu und sagte in breitem Hamburgisch: »Jörn Carstensen vom Tierheim Säbener Straße. Ich soll hier ein ausgesetztes Haustier abholen. Dem armen Geschöpf ist doch nicht etwa was passiert, ich meine, weil Sie hier postiert sind?«

Er versuchte, das missionarische Sendungsbewusstsein an den Tag zu legen, das er bei Tierschützern beobachtet hatte. »Das Elend der Tiere ist riesengroß!« eiferte er. »Wissen Sie, wie viele Hunde und Katzen die Deutschen aussetzen, Jahr für Jahr? Hunderttausende, sag ich Ihnen! Es ist eine Tragödie! Jeder Fall ist ein Vertrauensbruch schlimmster Art, ein Betrug am Tier, eine Grausamkeit ersten Ranges! Hunderttausende Tiere werden fortgejagt, verlieren ihre geliebten Bezugspersonen und erleiden ...«

»Jajaja, ist ja gut!« Der Polizist verzog das Gesicht und hob die rechte Hand, als wolle er sich gegen die Wortflut schützen. »Ihrem Viech ist nichts zugestoßen, soviel ich weiß. Wir haben hier einen Einbruch mit Vandalismus, keine Tierquälerei!« »Bei Schönemann?«, fragte Schlichtkohl, entsetzte Vorahnung schauspielernd. »Neinnein, bei Hasenklee!« beruhigte ihn der Beamte. Er drehte sich um und ging zu seinem Benz. »Wir warten auf die Spurensicherung!«, brummte er dabei. »Nun holen Sie Ihr betrogenes Haustier schon!«

Schlichtkohl drängte die Versuchung zurück, den Ordnungshüter zu fragen, ob er die Morgenpost gelesen habe, erklomm die Treppe, durchquerte den Korridor und stieg in den dritten Stock. Die Tür von Hasenklees Wohnung war nur angelehnt. Niemand hielt Wache. Überall war Chaos. Schubladen waren herausgerissen und ausgeleert, Schranktüren standen offen, das Sofa war aufgeschlitzt und die wertvollen Bücher aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, die Gotthard so schätzte, waren aufgeblättert, ausgeschüttelt und auf den Boden geworfen worden. Die meisten lagen mit zerknüllten Seiten auf dem Gesicht. Sogar der Kühlschrank und der kleine Froster waren ausgeräumt worden, und die aufgetauten Lebensmittel trieften in einer rosafarbenen Plastikwanne vor sich hin.

Die Bilder aus der Gemäldesammlung seines Freundes, fast alles Originale, lagen auf dem Wohnzimmerparkett. Bei den meisten war die Rückseite aufgerissen.

Der PC im Arbeitszimmer, das man wegen der sich auftürmenden Bücherhalden kaum betreten konnte, war eingeschaltet, und seine CD-Schublade ausgefahren. Sämtliche Datenträger fehlten, sogar die Zip-Disketten und die alten Floppies in ihren Plastikboxen. Ihr Stammplatz, eine Plastikbox mit bräunlich-transparentem Kippdeckel, die im Bücherregal am Schreibtisch stand, war leer.

Schlichtkohl kam ein Gedanke. Als er bei seinem letzten Besuch ein wenig über die vergleichsweise winzige Kapazität der Discs und Disketten gemosert hatte, hatte ihn Gotthard am Arm genommen und ins Bad geführt. Er hatte eine dunkelblaue Blechdose vom obersten Regalbrett genommen, die so groß war wie ein Päckchen Zigaretten, nur ein wenig breiter, den Deckel aufspringen lassen und ihm das Kästchen vor die Nase gehalten. Drin hatten dicht an dicht Heftpflasterstreifen gesteckt. »Die leuchten im Dunkeln,« hatte Hasenklee gelacht, «Kitschpflaster aus den USA!« und den Inhalt der Dose auf seine Hand geschüttelt.

Neben den »Band-Aids« war ein schmaler, etwa kleinfingerlanger Gegenstand aus Metall ans Licht gekommen, der wie ein Minifeuerzeug aussah. »USB-Stick mit zwei Gigabyte!«, hatte sein Freund erklärt, »ersetzt rund 1400 Floppies!« Er hebe den Stick immer in der Pflasterdose auf. »Erstens sind verschiedene vertrauliche Dateien da vor meiner Putzfrau sicher, und zweitens verliere ich das winzige Ding nur, wenn es keinen festen Platz hat, der weit weg vom Schreibtisch ist!«

Der Professor ging ins Bad, das direkt neben dem Arbeitszimmer lag. Hier war wenig zerwühlt. Offenbar hatten die Vandalen das, was sie suchten, nicht in Rasierschaumtuben und Flacons mit Männerparfüm und Aftershave vermutet. Auf dem obersten Brett standen nebeneinander drei Pflasterdosen, aber nur eine war dunkelblau und enthielt bunte »Glow in the dark«-Pflaster, laut Aufschrift ¾ Inch mal drei Inch groß. Schlichtkohl stellte sie auf den Kopf und fühlte einen kleinen Gegenstand aus kühlem Metall in der Handfläche – den Stick!

Na also! Er steckte den Datenspeicher ein, verließ die Wohnung und stieg die sieben Treppen in den Keller hinab. Die Tür zu Hasenklees feuchtem kleinem Betonverlies war nicht verschlossen, und als er sie aufstieß, schlug ihm der Geruch von Schweinepisse entgegen. Schlichtkohl schaltete das Licht an und wartete, bis die altersschwache Neonröhre zu blitzen aufhörte und Licht spendete. Vor einem mit Sportschuhen, Inline-Skates, Tennisschlägern, Taucherflossen und Gummistiefeln vollgestopften Regal standen an der linken Wand ein großer Transportkäfig aus hellblauem Kunststoff, in den ein mittlerer Hund gepasst hätte, und ein riesiger IKEA-Plastikbeutel. Daneben lag ein zerknüllter 20-Kilo-Papiersack neben einem kleinen Berg graubraunen Futtergranulats.

Der Professor schaute in die Tüte aus dem Möbelhaus: In ihr steckte das größte Katzenklo, das er je gesehen hatte. Es besaß keine Abdeckung, mit besonders hohen Seitenwänden. Neben ihm lagen eine Bürste und ein Knäuel von Riemen, wohl ein Geschirr für Ausflüge mit dem Rüsseltier. Ein Brief von Gotthard war nirgends zu sehen.

Er schaufelte mit dem Deckel eines Schuhkartons einige Kilo des Granulats in den Futtersack zurück, verschloss ihn notdürftig und trug ihn zusammen mit dem IKEA-Beutel ins Freie. Als er, bepackt wie er war, mit dem Ellenbogen die Haustür von innen aufstieß, katapultierte er sie beinahe ins Gesicht einer attraktiven Brünetten, die in dem gleichen Moment das Haus betreten wollte.

Die Dame war in dem Alter zwischen 30 und 40, das man unmöglich exakt bestimmen kann, und erschien dem Hochschullehrer wie eine Traumfee. Sie trug ein apartes weinrotes Kostüm, das vielversprechende Busenwölbungen und mindestens ebenso wohlgeformte Beine sehen ließ. Ihre Füße steckten in mondänen Schuhen in einem dunkleren Weinrot mit Bleistiftabsätzen und waffenscheinpflichtigen Spitzen. Zudem war sie von einer betörenden Parfümwolke umgeben. Sie bedachte den Gelehrten mit einem Augenaufschlag, für den Meskiaggascher sicherlich fünfhundert Rinder gegeben hätte.

»Oh, äh, Ent-Entschul-schuldigung!« entfuhr es dem Professor, der heftig erschrak. »Ich ... äh ...« Es war eine Schande für einen Lehrstuhlinhaber, aber er wusste nicht weiter. Doch die Dame, die der aufschwingenden Tür mit der Gewandtheit einer Tänzerin ausgewichen war, lächelte ihn huldvoll an und sagte: «Keine Ursache!«

Dann fragte sie, und ihre Stimme hatte etwas Maskulin-Rauchiges und Verworfenes, das Schlichtkohl im Verein mit den wabernden Duftwasserschwaden und seiner Unterzuckerung schwindlig werden ließ: »Wohnen Sie hier? Ich suche Familie Schlichting! Welcher Stock?«

»Tu–tut mir leid,« beschied der Gelehrte atemlos vom Schleppen und einem Blick in das tiefgründige Dekolleté der unbekannten Schönheit, dessen Fülle die Bluse nur mühsam zu bändigen schien, »keine Ahnung – ich hole nur, äh, ein, äh, ein Schwein ab!« »Dennoch herzlichen Dank!«, sagte die Erscheinung völlig unbeeindruckt und stöckelte die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ihr verlängerter Rücken bewegte sich in verführerischen Schlangenkurven.

Schlichtkohl riss sich von dem Anblick los, stellte seine Last vor die Tür und stieg, sich wegen seiner bleischweren Zunge und seines eklatanten Mangels an Charme verwünschend, in den Keller zurück, um den Käfig zu holen. Jetzt war das Ferkel dran. »Hallo Brunhilde«, sagte er. »Bist du okay? Alles in Ordnung?«

War es nicht typisch? Mit Schweinen konnte er reden – mit schönen Frauen nicht!

Als sich in der Plastikbox nichts regte, bückte sich Schlichtkohl, um durch das Gitter an der Vorderseite zu lugen – und fuhr zurück. Er hatte direkt in zwei Menschenaugen geschaut, zwei große tiefdunkle Menschenaugen mit blütenweißer Bindehaut und lang bewimperten pechschwarzen Lidern, die ihn argwöhnisch, klug und nachdenklich gemustert hatten.

Der Professor war dermaßen erschreckt und zugleich von den Augen bezaubert, dass er dem Rest des Schweinehauptes, der hochgereckten Schnauze mit schwarzer Rüsselscheibe, deren große runde Zwillingslöcher feucht glänzten, und die beiden Ohren, die wie Blätter einer dürstenden Sonnenblume herunterhingen, kaum Beachtung schenken konnte.

So fielen ihm nicht einmal die Locken sofort auf. Erst mit Verspätung dämmerte Schlichtkohl, dass der Kopf von Gotthards Pflegling in Gänze mit blonden Borstenkringeln bewachsen war. Oder hatte er sich getäuscht? Er riskierte einen zweiten Blick. Tatsächlich! Das Ferkel hatte eine Frisur, die ein wenig der von Howard Carpendale glich. Oder doch eher der von Marilyn Monroe? Auf seiner Stirn trug das Tier, es gab keinen Zweifel, monroefarbene Dauerwellen. Der dichte blonde Lockenpelz erstreckte sich – der Hochschullehrer beugte sich trotz schmerzender Knie noch weiter vor – über den ganzen Körper des Rüsseltieres. Brunhilde sah aus wie ein Schaf mit Schweinekopf.

»Runz!«, beschwerte sich basstief das Ferkel, dem entweder die Musterung unangenehm wurde oder dem die Gedanken des Lehrstuhlinhabers gegen den Strich gingen. Es warf seinen Kopf hoch und machte den Versuch eines Luftsprungs, wobei sein Rücken kräftig mit der Käfigdecke kollidierte. Es krachte und staubte. Die transportable Ferkelbox, stellte der Professor fest, war ein wenig eng für ihren stattlichen Inhalt.

Sebastian Schlichtkohl richtete sich auf und trat vorsichtshalber einen Meter zurück. Er hatte seit über zwei Dutzend Jahren kein lebendes Schwein zu Gesicht bekommen und überhaupt noch nie ein solches Tier aus derartiger Nähe gesehen. Er war platt. Diese Augen, dieser vernünftige Blick! Gut, dass man Schweine so selten von Angesicht zu Angesicht sah! Wer konnte Tiere essen, die derart intelligente Augen besaßen? Wie konnte man rechtfertigen, dass sie getötet und zerstückelt wurden, damit Menschen Völlerei treiben konnten? Hatte jemals ein seriöser und unabhängiger Gelehrter, der nicht von der Fleischindustrie bezahlt wurde, ihre geistigen und emotionalen Fähigkeiten erforscht?

Auf einmal bereute er jedes Schnitzel und jedes Kotelett, jedes Cordon bleu und jeden Gulasch, die er je verspeist hatte. Sicher lag er weit unter dem deutschen Durchschnittsverzehr, denn er nahm Schweinefleisch nur in der Mensa zu sich und auch nur dann, wenn die Alternativgerichte ungenießbar erschienen. Er machte sich einfach nichts daraus.

Warum hatte er nicht ganz darauf verzichtet? Weil man ihn darüber im Dunkeln gelassen hatte, dass Schweine hochintelligent waren? Aber war das nicht allgemein bekannt, wurde aber nie mit Schnitzel in Zusammenhang gebracht? Und warum nicht? Dienten Redewendungen wie »Dummes Schwein!« oder »Blöde Sau!« am Ende vor allem dazu, das Image der Rüsseltiere in den Schmutz zu ziehen und darüber hinweg zu täuschen, wie viel Klugheit, Bewusstsein und – ja – Seele in den Tieren steckten, die als Eiweißträger gezüchtet wurden, als Haxen- und Rippchenlieferant, als ein »Stück Lebenskraft«?

Schlichtkohl erstarrte, als ihm der Sarkasmus dieses Werbeslogans bewusst wurde. Es war schon ein starkes Stück, durch millionenfachen Tiertod gewonnenes Fleisch als Lebenselixier zu bewerben. Hatten die Menschen den Schweinen gegenüber eine Art Schuldkomplex, den sie mit derartigen Überkompensationen überspielen wollten? Der Spruch war von der Güteklasse wie die Parolen aus »1984«, aber kein Verbraucher merkte es! Beim Barte des Meskiaggascher, wie war das möglich? War das Gehirnwäsche?

Würde der Fleischhunger anhalten, fragte sich der in akademisches Grübeln geratene Gelehrte, wenn Eisbein und Lendchen nicht als anonyme rosige Massenware verkauft würden, sondern an der Fleischtheke ein großes Porträtfoto eines munter in die Welt blickenden Schweins befestigt wäre mit der Unterzeile »Heute im Anschnitt: Elsa«?

Schwere Tritte hallten durch das Treppenhaus. Das musste die Spurensicherung sein, dachte Schlichtkohl, packte den Tragegriff des Schweinekäfigs und hob, um dessen Gewicht zu prüfen. Oha! Das Ferkel war schwer wie Blei, oder der anstrengende Morgen – er hatte immer noch nicht gefrühstückt, weil ihm beim Zusammentreffen mit Frau Hundt der Appetit vergangen war – hatte ihn entkräftet. Oder beides. Aber zwanzig Kilo waren das sicher.

Mit dieser Last würde er es bestenfalls bis zum Bahnhof Alte Wöhr schaffen, und das auch nur mit großer Mühe. Aber wo waren die Instruktionen Gotthards? Ohne Anleitung war er hilflos. Er war Historiker und Altorientalist, kein Bauer.

Er konnte die Keilschrift der Dekrete lesen, die der Babylonische König Marduk-Schapik-Zerimati im Jahre 1079 vor Christus seinen Schreibern diktiert hatte und wusste, dass dieser Herrscher der vierten Dynastie des Mittelbabylonischen Reiches angehörte, die auch als die zweite Dynastie von Isin bekannt war, und sein Amt zweiundzwanzig Jahre nach dem Tod Nebukadnezars angetreten hatte, der im Wirklichkeit Nabu-Kudurri-Usur hieß.

Er wusste, dass 65 Jahre und sieben Könige nach dem Sturz Marduk-Schapik-Zerimatis durch die Aramäer König E-Ulmasch-Schakin-Schumi während der sechsten Dynastie, der von Bassu, den Thron bestiegen hatte, der ihm acht Jahre lang vergönnt gewesen war. Er konnte sich ausführlich über die Nominalmorphologie und die Ergativität der sumerischen Sprache auslassen – aber er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie man Schweine hielt oder verpflegte. Er brauchte die Anweisungen Gotthards, oder es gab eine Katastrophe!

Sebastian Schlichtkohl nahm eine alte Zeitung von einem unordentlichen Stapel, schlug an Hasenklees Fahrradlenker den Staub aus ihr heraus, legte sie auf dem Boden, kniete sich hin und untersuchte den Transportkasten Brunhildes genau. Das einzige, was er fand, war ein etwa fünf Zentimeter langes Stück frischen Tesafilms an der rechten Oberkante des Käfigs. Das freie Ende trug weiße Papierspuren.

Da hatte zweifellos vor Kurzem noch etwas geklebt – sicher Gotthards Brief! Wer immer seine Wohnung auseinandergenommen hatte, hatte das Schreiben kassiert. Aber warum? Was wollten Einbrecher mit Instruktionen über die Fütterung eines Lockenschweins? Und aus welchem Grund hatten sie das Futter ausgekippt?

Der Hochschullehrer fühlte sich hilflos und seiner Aufgabe nicht gewachsen. Er würde einen Bauern anrufen müssen, um zu fragen, wie man Schweine hielt, oder zumindest, wann und welche Mengen man ihnen fütterte. Aber halt! Bauern wussten das heute ja auch nicht mehr! Wenn sie überhaupt noch Schweine hatten, wurden die in gewaltigen Mästfabriken per Bulldozer oder von Automaten gefüttert, und sie mussten auf Stahlrosten stehen, damit ihre Fäkalien in ein Schwemmentmistungssystem trieften, wo sie automatisch weggespült wurden.

Mist war längst ein Ding der Vergangenheit. Bald würde das kot- und uringetränkte Düngestroh Gegenstand von nostalgischen Vorlesungen in Agrargeschichte sein. Er würde nach einem Hobbyschweinehalter suchen müssen. Im Internet gab es sicher eine ganze Anzahl davon.

Er beugte sich noch einmal zu dem Lockenschwein herunter und sagte: »Brunhilde, dann wollen wir mal! Entschuldige, wenn ich etwas falsch mache; aber die Anweisungen Gotthards hat jemand geklaut! Weißt du, wer der Übeltäter war?« »Schnorch!«, antwortete das Ferkel und machte wieder einen Satz, wobei sein Rücken in das Käfigdach knallte. Schlichtkohl hatte keine Ahnung, was »Schnorch!« bedeutete und welche Botschaft die Luftsprünge enthielten.

Brunhilde war im Vergleich zu Sammi tonnenschwer. Er würde ein Taxi rufen müssen. Aber er hatte sein Handy vergessen! Kurz entschlossen wandte er sich, als er wieder an der frischen Luft war, an die Polizistin, die Brunhilde interessiert betrachtete. Ihr Kollege war verschwunden; er schnüffelte wohl mit der Spurensicherung in den Trümmern von Gotthards Wohnung herum.

»Entschuldigen Sie vielmals, Frau Oberwachtmeister«, sagte er unterwürfig. »Mein Name ist Carstensen, und ich bin ehrenamtlicher Helfer im Tierheim Säbener Straße. Wir haben heute so viele Rettungseinsätze, dass für mich kein Fahrzeug mehr zur Verfügung stand und ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen musste. Man hat mich aber nicht darüber informiert, dass hier so viel zu schleppen ist. Könnten Sie mir bitte ein Taxi zum S-Bahnhof Alte Wöhr rufen? Habe mein Handy in der Eile vergessen. Das kleine Schwein muss unbedingt aus dem Käfig raus. Schweine hassen engen Kontakt mit ihren Exkrementen.« »Oink!«, schrie Brunhilde.

Die Beamtin überlegte eine Sekunde lang. »Ach was Taxi!«, sagte sie dann. »Ich fahre Sie schnell zum Bahnhof. Sind ja nur ein paar Hundert Meter!« »Was ist denn das für ein Schwein?« setze sie hinzu. »Das hat ja Locken!« »Weiß ich leider nicht,« gestand Schlichtkohl. »Irgend so ne seltene Rasse!«

Dem Professor brach – er hätte unmöglich sagen können, zum wievielten Male an diesem Tag – der Schweiß aus, als er den Käfig, der im Kofferraum des blau-silbernen Benz neben einer Maschinenpistole, Fesseln, Schutzwesten, Warnleuchten und anderer furchteinflößender polizeilicher Hardware gestanden hatte, vor dem vergammelten Bahnhofsgebäude auslud und mitsamt Plastiktüte und Futtersack an dem aufgegebenen und mit Farbe besprühten Kiosk vorbei zur S-Bahn schleppte. Immer, wenn sich Brunhilde in ihrem Käfig plötzlich bewegte, brach seine mühsam bewahrte Balance zusammen, und er geriet ins Straucheln.

Nach einem heftigen Zappler des Ferkels kam er auf der Treppe zum Bahnsteig ins Stolpern und streifte einen breitschultrigen 18- oder 19-Jährigen in ärmellosem Muskel-T-Shirt, Jeans und Springerstiefeln, der ihn gerade mit einer lärmenden Gruppe Gleichaltriger überholte, mit dem Käfig am Knie. »Oink!«, schrie Brunhilde.

»Scheiße!«, brüllte der Jugendliche in einer Lautstärke, als habe ihm jemand ein Messer ins Bein gestoßen. Er untersuchte seine Hose auf Flecken. »He, du alter Scheißer«, schrie er dann, »Pass’ gefälligst auf, sonst fick’ ich dich!« Er starrte Schlichtkohl, der nur wenig größer, aber kaum halb so breit war, drohend an und ließ die Muskeln seiner prallen Oberarme hüpfen. »In den Mund oder in den Popo?«, fragte einer aus der Clique mit affektierter Mädchenstimme. Alles grölte vor Lachen.

»Tunk’ seine Fresse in die Schweinepisse, Tim«, regte eine der Begleiterinnen an. Sie war groß und massig, hatte schwere Brüste und trug Stahlkugeln in Nase und Unterlippe. Aus dem Bund ihrer Jeans quoll ein runder Wulst rosigen Schweinespecks ins Freie. Er hatte die Form eines Mopedreifens.

»Oder fick sein Ferkel!« ergänzte eine Schwarzhaarige mit türkischem Zungenschlag. »So wie dich – immer nur in den Arsch?«, fragte einer der Jungs, der eine Tour-de-France-Sonnenbrille trug und wie alle einen rasierten Schädel hatte. Auch er hörte sich türkisch an. »Vielleicht muss ja auch das Schwein Jungfrau bleiben, weil Papa es sonst verprügelt!« setzte er hinzu. »Wichser!«, kreischte die Dunkle auf und trat ihm in den Hintern. Dann umschlang sie ihn und gab ihm einen langen Zungenkuss. Wieder Gegröle.

Schlichtkohl holte tief Luft, als sich die Gruppe entfernte. Auf dem Bahnsteig hielt er möglichst großen Abstand. Diese Jugend verstand er nicht. Wie vertrug sich ihre zur Schau gestellte Promiskuität mit den Studien, die den jungen Leuten sexuelle Verklemmtheit bescheinigten? Und was war das für ein Umgangston zwischen Jungs und Mädchen?

Er schleppte seine Last in die S1, zerrte sie bereits in Barmbek, der nächsten Station, wieder ins Freie und mühte sich treppauf, treppab und durch die Halle zur U3. Schweißüberströmt erreichte er den Bahnsteig, wo sein Zug schon wartete. Er stieg ein, lehnte die Plastiktüte an eine Sitzbank, setzte sich so darüber, dass seine langen Beine das Schweineklo festhielten, platzierte den Futtersack daneben und stellte den Käfig möglichst waagerecht auf seinen Schoß. Er hoffte, dass kein Urin herauslaufen würde.

Der Zug stand einige Minuten und wartete auf Fahrgäste. Als das Piepen das Schließen der Türen ankündigte, fiel die Horde Jugendlicher ein. Der Stämmige ließ sich mit provozierendem Gehabe Schlichtkohl gegenüber auf die Sitzbank fallen. Seine Clique drängelte sich auf der anderen Wagenseite zusammen. Ein mittelgroßer dunkelhaariger Mittdreißiger in mittelbrauner Cordhose und dunkelbraunem Sakko wurde an die Waggonwand gedrückt. Sein zügellos wuchernder und für sein Gesicht viel zu großer Schnurrbart hatte die Aufmerksamkeit des Professors erregt, als er dicht vor ihm eingestiegen war,

Der Nickelbrillenträger rangelte sich ärgerlich frei, stand auf, sorgsam jeden Blickkontakt mit dem ihn herausfordernd anstarrenden Bandenchef vermeidend, und suchte sich einen Platz in der anderen Wagenhälfte. Dabei sprang dem Professor eine weitere Auffälligkeit ins Auge: An den Füßen trug der Großschnauzer rote Sandalen – plumpe, hinten, oben und vorn offene Mönchslatschen, aus denen grobe graue Bergsteigersocken schauten! Ein Schauer lief durch Schlichtkohl, der rustikales Schuhwerk dieser Art zutiefst verabscheute.

Johlend rückte die Gang auf. Zu siebt saßen sie jetzt auf den beiden Bänken; die Mädchen hockten auf dem Schoß ihrer Freunde. Der Muskelprotz gab Brunhildes Futtersack einen Tritt. Dann schrie er: »Was stinkt denn hier so? Ist ja ekelhaft!« Er starrte Schlichtkohl an. »Hast du in die Hose gepinkelt, Alter? Inkontinent, was? Tropf, tropf, tropf den ganzen Tag aus dem schlappen Gießkännchen, wie?« Sein Stiefel knallte wieder in den Papiersack.

»Was schleppste überhaupt alles mit? Sehe ich richtig? Ein Schwein? Das hier ist ein Personenzug, kein Viehwaggon! Kein fahrender Saustall! Verpiss dich gefälligst! Raus hier beim nächsten Halt!« Er wartete auf eine Reaktion. Schlichtkohl wurde sich bewusst, dass ihn alle im Waggon beobachteten. Ihm war sehr unwohl, aber er sagte dennoch, was gesagt werden musste: »Mach deine große Klappe zu, du Rotzlöffel! Sonst verkühlt sich dein Spatzenhirn!«

Die Gruppe explodierte vor Lachen. Das Gelächter galt, wie Schlichtkohl mit einiger Erleichterung feststellte, nicht ihm, sondern seinem Kontrahenten. Der kickte wütend nach Schlichtkohls linkem Unterschenkel, doch der Professor wich mit einer Agilität, die ihn selber erstaunte, blitzschnell aus und gab den Tritt zurück, so kräftig er konnte. Er traf das Schienbein. »Oink!«, schrie Brunhilde, die dabei durchgeschüttelt wurde.

Der Treffer zeigte Wirkung. Der Muskelprotz sprang auf, mühsam unterdrückten Schmerz im Gesicht, fuchtelte mit den Fäusten vor Schlichtkohls Gesicht herum und schrie: »Los, komm, wehr dich! Ich mach dich platt!« Als er sah, dass Schlichtkohl keine Anstalten machte, zu einem Kräftemessen anzutreten, lachte er ihn aus. »Solchen feigen Vogelscheuchen wie dir sollten sie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel verbieten«, grölte er. «Du siehst ja aus wie ein Deoroller! Kein einziges Haar hat die Memme! Sieht aus wie tot. Haste Aids?« Er kicherte hysterisch und schüttelte sich. »Igitt! Sowas Ekliges!«

Er trat wieder nach dem Futtersack. Schlichtkohl versuchte vergeblich, seinen Knöchel zu erwischen. »Oink!«, schrie Brunhilde. »Jetzt lass ihn mal, Tim!«, sagte das Mädchen mit dem Speckring tadelnd. »Setz dich hin und halt Ruhe. Seit wann schlägst du dich mit Opas?«

Der Zug hielt im Bahnhof Borgweg. »Raus!«, rief die Türkin. Alle sprangen auf, und auf einmal war die Gruppe weg. Schlichtkohl atmete auf. Seine Hände zitterten vor Anstrengung, Aufregung und Unterzuckerung. Solch einen Tag hielt ja selbst der stärkste Indianer nicht aus!

Die Türen klappten zu und die U-Bahn rollte an. Der Professor lehnte sich entspannt zurück, so gut das mit den 25 Kilo auf seinen Knien möglich war. Da fiel sein Blick auf das Baby. Es schaute, zwei Sitzreihen entfernt, über die Schulter seiner Mutter, die es im Arm hielt, und fixierte ihn mit ängstlich aufgerissenen Augen. Es war so starr, als sei es hypnotisiert. Ihre Blicke trafen sich.

Auch das noch! Schlichtkohl, der wusste, was kam und sich vom Schicksal verfolgt zu fühlen begann, schaute so rasch wie irgend möglich wieder weg. Aber es war zu spät: Langsam verzog sich das Gesicht des Kleinkinds zu einer Grimasse. Es lief rot an, die Augen schlossen sich krampfhaft, der Mund öffnete sich in Zeitlupentempo weit und weiter – und dann ging das Geplärre los.

Die Mutter fuhr herum und barg das Kind in ihren Armen. »Was starren Sie mein Kind so an, Sie Unhold!«, keifte sie. »So, wie Sie aussehen, sollte man Ihnen verbieten, tagsüber die U-Bahn zu benutzen, Sie Kinderschreck! Der junge Mann hatte eben ganz recht!« Sie packte Kind, Kinderwagen und Einkaufstasche, stand auf und marschierte zum anderen Ende des Wagens.

Für den Weg vom Bahnhof Hudtwalckerstraße bis nach Hause benötigte Schlichtkohl eine Viertelstunde. Er musste den Käfig und den Futtersack, der gottseidank heil geblieben war, immer wieder absetzen. Mit letzter Kraft wuchtete er seine Last in den vierten Stock und über die heimische Türschwelle.

Er war emotional angeknackst und physisch total verschlissen. Dazu peinigte ihn der Gedanke, ob Sammi verstehen würde, dass Brunhilde nur Besuch war, kein neues Haustier, und dass ihre Anwesenheit nicht bedeutete, dass er ihr seine Liebe entzogen und sie dem Schwein geschenkt hatte? Nach all den Tiefschlägen des Tages hatte er große Sehnsucht nach ihrer Zärtlichkeit und Zuwendung. Ihn verlangte danach, sich ins Bett zu legen, die Jalousien herunterzulassen, die Augen zu schließen und den weichen schnurrenden, sorglos entspannten Katzenkörper im Arm zu halten, ihn zu streicheln und zu fühlen, wie sich die Samtpfoten genussvoll spreizten.

Aber er wusste, dass ihm kein Katzentrost beschieden sein würde, so dringend er ihn auch brauchte: Stubentiger waren nicht nur im Weltrekordtempo beleidigt; sie schienen es manchmal zu genießen, die Rolle der Gekränkten zu zelebrieren.

Er hatte sich nicht getäuscht. Sammi, durch ihren Geruchssinn alarmiert, kam nicht wie üblich angetrabt, um ihn zu begrüßen und sich auf seine Schuhe zu werfen. Erst nach einer ganzen Weile streckte sie ihren Kopf aus dem Schlafzimmer, schaute argwöhnisch um die Ecke, sagte »Mägg!«, als sie den Transportkäfig sah, starrte Schlichtkohl vorwurfsvoll an, drehte sich um und ging wieder ins Zimmer zurück. Bevor sie unter dem Bett verschwand, löste sich ein klagendes »Mi–au!« aus ihrer Kehle. Sammi war kreuzunglücklich.

Schlichtkohl seufzte, klappte die beiden Drehriegel von Brunhildes Plastikkiste zurück und zog die Tür auf. Das Ferkel verharrte einige Zeit in seinem Verlies, streckte dann den Rüssel ins Freie, sah den Professor mit seinen dunkelblauen Menschenaugen fragend an, während es mit kippelnder Rüsselplatte schnupperte, und schob sich schließlich zögerlich aus dem Käfig hervor.

Schlichtkohl staunte: Es war tatsächlich ein Schwein mit Schafskörper, Ferkelringelschwanz und Schweinehängeohren. Ein Schwaf, dachte der Professor. Es war kräftig, drall, relativ hochbeinig und bis auf den Rüssel lückenlos mit wasserstoffblonden Dauerwellen bewachsen.

»Sei so nett und benimm dich bitte, Brunhilde!«, bat er. »Du bist hier nur zu Besuch! Wenn du was kaputt machst, wird Gotthard fuchsteufelswild!« Das Schwein sah ihn kurz und – wie Schlichtkohl schien – skeptisch an, warf den Kopf hoch wie ein Araberhengst vor der Startmaschine, machte einen Luftsprung, stöckelte dann auf seinen Hufen in die Küche und stürzte sich auf die Brekkies-Schälchen. Im Nu waren beide leer.

Der Professor, bei dem jetzt auch die Beine zu zittern begonnen hatten, zerrte das Ferkelklo aus der Möbelhaustüte, bedeckte, so gut es ging, seinen Boden mit seiner restlichen Katzenstreu, kippte einen Hügel Futtergranulat in einen Suppenteller, füllte einen zweiten mit Wasser, trug alles ins Gästezimmer. In der Küche war kein Platz mehr, und er wollte Streit um Futter vermeiden – und rief das Schwein.

Tatsächlich kam Brunhilde angetrabt, musterte das Arrangement zufrieden und tauchte die Schnauze in ihre Furage. Sofort begann Utnapischtim unter dem Gästebett zu fauchen wie eine Königskobra. Das Schwein überhörte es geflissentlich. Dennoch war es für Schlichtkohl ein Trost, dass Brunhilde zu dick und hoch war, um in das Reich des Katers vorzudringen.

Er schleppte sich in die Küche, knipste den Schnellkocher an, füllte vier gehäufte Messlöffel Kaffee in den Papierfilter und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Er musste sich unbedingt mit Koffein aufputschen und etwas essen, sonst würde er umkippen. Er stützte den Kopf in beide Hände, um ein wenig abzuschalten, als aus dem Flur ein merkwürdig hohles, sich in regelmäßigen Abständen wiederholendes Geräusch ertönte, ein »Plopp! – Plopp!«, das er weder kannte noch einzuordnen vermochte.

Ächzend stand er auf, um nachzusehen. Es war Utnapischtim. Der sonst so scheue Kater sprang von der Hutablage der Garderobe auf Brunhildes leere Plastiksänfte, schnellte von dort scheinbar mühelos wie von einem Trampolin auf den Sicherungskasten an der gegenüberliegenden Wand, drehte sich dort blitzschnell und stürzte sich erneut auf den Schweinekäfig hinab, um sogleich wieder zur Hutablage hinaufzufedern. Es war eine Artisten-Show wie im Zirkus Sarrassani – und ein kleines Wunder, dass die Lederkappe über dem Stecker nicht herunterfiel.

Der Hochschullehrer beobachtete Pischtis enormes Sprungvermögen und seine vogelgleichen Flugeigenschaften einen Augenblick voller Staunen, dann glaubte er zu verstehen: Der Urindunst beleidigte die feinen und vornehmen Katzennasen so gewaltig, dass Pischti sein Exil aufgegeben hatte, um zu demonstrieren. Seine Kundgebung diente dazu, ihn zur Entfernung des Schweinekäfigs aufzufordern.

»Entschuldige bitte«, sagte er. »Das Übel wird sofort beseitigt!« Er packte den Tragegriff und machte sich auf den Weg zum Balkon. Doch dann blieb er stehen. Vor der Balkontür lagen Sammi und Pischti nebeneinander und funkelten ihn an. »Hier kommst du nicht durch!« verhießen die Blicke.

Schlichtkohl wurde schwindlig. Er hatte das Gefühl, nichts mehr zu verstehen. War das alles nur ein nerviger Traum? Seine beiden Katzen einträchtig auf Tuchfühlung? Und als Streikposten vor einer Tür? Unmöglich! Ausgeschlossen! Es konnte nicht sein!

Er stellte Brunhildes Transportbehälter ab, eilte in die Küche, kippte das heiße Wasser in den Filter und machte sich einen großen Becher starken süßen Kaffees. Er setzte sich an den Tisch und überlegte: Was hatte das merkwürdige Verhalten seiner Katzen zu bedeuten? Wieso hatte Pischti plötzlich seine Neurosen verloren oder zumindest vorübergehend überspielt? Was sollte der Sitzstreik vor dem Balkon?

Beim achten Schluck kam ihm die Erleuchtung: Offenbar störten seine Hausgenossen sich an dem Gestank artfremden Urins, wollten aber aus irgendeinem Grund, den nur Katzen verstanden, verhindern, dass er den Käfig auf dem Balkon abstellte – vielleicht, weil der ihnen als Freiluftrevier heilig war.

Diese raffinierten Biester! Na, sie sollten ihren Willen haben! Er rappelte sich hoch, holte einen Müllsack aus der Speisekammer, riss vier oder fünf Stücke Küchenpapier ab, öffnete die Käfigtür, zog die stinkende Einlage aus feuchten Zeitungen hinaus, bugsierte sie in den Plastikbeutel und warf ihn in den Küchenmülleimer.

So, das war’s hoffentlich, dachte er. Im gleichen Moment ging das »Plopp! – Plopp!« wieder los. Beim Barte des alten Meskiaggascher! Das wurde nun wirklich zu viel für seine Nerven! Schlichtkohl nahm einen langen Schluck Kaffee und ging erneut ins Nebenzimmer. Pischti führte seine Flugnummer wieder vor, während Sammi vor der Käfigtür stand und hineinschaute. Ihr Schwanz war aufgeplustert und sah aus wie eine Flaschenbürste.

Schreck durchzuckte den Gelehrten: Was seine Süße da tat, musste für sie hart an Masochismus grenzen; denn aus Brunhildes Reisemobil waberte immer noch dünner Schweinepissedunst.

Eilig kniete sich Schlichtkohl auf den Boden, schob die Katze zur Seite, machte einen Buckel und lugte in die Ferkelsänfte. Bis auf eine Lage Zeitungspapier auf dem Boden war sie leer. Ungeduldig zerrte er das Stück Hamburger Abendblatt aus der Box. Es zerriss, weil es an mehreren Stellen festgeklebt gewesen war, und darunter kam ein Brief zum Vorschein. Er steckte in einer durchsichtigen Plastikhülle und trug die Aufschrift: »Für Sebastian«.

Schlichtkohl nahm den Brief aus dem Käfig, stand auf, fetzte die Klarsichthülle weg und öffnete den Umschlag. »Lieber Sebastian,« stand da in Gotthards regelmäßiger Handschrift. »Hab ich mir’s doch gedacht, dass du diese Botschaft findest! Dem Professör ist eben nichts zu schwör! Aber Scherz beiseite. Es sind sehr unangenehme und gewissenlose Leute hinter mir her, und ich will dich auf keinen Fall da hineinziehen. Es ist schon schlimm genug, dass du in deiner Wohnung auf mein Schwein aufpassen musst. Gib ihr morgens und abends einen Teller Granulat, aber auf keinen Fall Süßigkeiten! Bitte schließe alles weg, was Brunhilde in Versuchung bringen könnte. Schweine lieben das Naschen, und sie würde Schokolade und Bonbons bedenkenlos klauen.

Noch was ganz Wichtiges: Wenn du willst, dass sie deine Möbel und Tapeten in Ruhe lässt und nicht unter dem Teppichboden nach Trüffeln sucht, musst du mit ihr abends und am besten auch morgens ausführlich spazieren gehen. Schweine haben einen enormen Bewegungsdrang und drehen durch, wenn sie den nicht ausleben können. Sie liebt besonders den Spielwiesenweg im Stadtpark und das Wäldchen um das Landhaus. Aber das wird sie dir schon zeigen. Geh ruhig nachts, das kennt sie von mir, aber nimm eine Taschenlampe mit.

Ich kann dir nicht mehr sagen, weil dieser Brief von meinen Verfolgern entdeckt werden könnte. Du wirst der Wahrheit mithilfe der Tiere näherkommen.

Bis bald, und danke für alles.

Dein Sebastian.«

Schlichtkohl ließ den Bogen enttäuscht sinken. Die erwartete Offenbarung war das nicht. Im Grunde verstand er nur, dass er Brunhilde von Zuckerzeug fernhalten und, wenn ihm seine Wohnung lieb war, sie zweimal täglich in den Stadtpark führen musste.

Er suchte das Ferkel. Es lag auf dem Sofa, den Kopf auf dem blauen Seidenkissen, und schnarchte leise. Schlafen! Er war hundemüde! Er suchte Sammi, um sie mit ins Bett zu nehmen, aber sie war verschwunden. Egal! Madame war beleidigt und spielte Versteck. Er zog Jackett und Hose aus und legte sich in Hemd und Socken hin. Ein Stündchen Schlummer würde ihn in die Lage versetzen, zu verstehen, was heute auf ihn eingestürmt war. Sofern es zu verstehen war.

Rippenstöße rissen ihn aus dem Schlaf. Die Knüffe wurden schnell verdammt unsanft und schmerzhaft, und er runzte ärgerlich. Ein Runzen kam als Antwort. Brunhilde, erkannte er, hatte ihre Vorderhufe auf den Bettrand gestützt und schaute ihn mit ihren Menschenaugen ärgerlich an. Draußen, sah Schlichtkohl mit Schrecken, war es dunkel. 21.56 Uhr, sagte der Wecker.

Der Professor sprang mit einem mittelschweren sumerischen Fluch aus dem Bett und zog sich an. Er war halb ohnmächtig vor Hunger, aber bevor Brunhilde seine Wohnung zerlegte, musste er mit ihr spazieren gehen. »Danke fürs Wecken!«, sagte er. »Ich hätte bis morgen früh weiter geschlafen!« Er legte das Geschirr zurecht, streifte es dem Schwein ohne ernste Probleme über, packte die Leine und verließ das Haus.

Brunhilde war überraschend treppenfest, folgsam und gut zu Fuß, und schon nach wenigen Minuten überquerten sie die Hindenburgstraße in Höhe des Gasthauses, dessen Umgebung Hasenklee zu Brunhildes Lieblingsareal erklärt hatte.

Tatsächlich war das kleine Schwein wie verändert. Es zog Schlichtkohl freudig zwischen hohen Bäumen hindurch, die für ihn nur schwarze Schemen waren, schnüffelte hier, schnorchte dort in die Erde, wühlte und pflügte mit seiner Steckdose durch den Waldboden, fraß mit lautem Schmatzen etwas, das der Professor nicht sehen konnte, und zerrte ihn immer weiter.

Sebastian Schlichtkohl stemmte sich vergeblich gegen Brunhildes Zug. Sie hatte unerhörte Kraft und einen Vortrieb wie eine kleine Lokomotive. Äste schlugen ihm ins Gesicht, er geriet mehrfach ins Stolpern und war heilfroh, als sie einen breiten Pfad erreichten, auf dem es etwas heller war. Brunhilde wurde langsamer. Geräuschvoll nach allen Seiten schnüffelnd, stöckelte sie den Weg entlang bis an den Rand der großen Festwiese, für den Professor eine nachtbleiche Ebene ohne Konturen. Das Rüsseltier hielt einige Sekunden an, prüfte schnaufend die Luft, entschied sich dann für die Abzweigung nach rechts und begann am Rand eines undurchdringlich scheinenden Dickichts aus Lorbeer- und Schneebeerensträuchern, der in regelmäßigen Abständen mit Bänken bestückt war, entlang zu trotten.

Urplötzlich wurde Brunhilde ganz aufgeregt, galoppierte los, zog den hilflosen Schlichtkohl ein paar Meter hinter sich her und stoppte so unvermittelt, dass der strauchelnde Gelehrte beinahe über sie gestolpert wäre. Während er noch um sein Gleichgewicht kämpfte, schoss das Ferkel wieder los, kurvte nach rechts, kroch unter eine Bank, wühlte etwas aus dem Laub hervor, das seine Erregung ins Maßlose steigerte und verschlang es geräuschvoll mit einem gierigen Happs. Dann zündete das Wollschwein den Turbo und raste mit dem Professor im Schlepptau mitten in das Gestrüpp hinein.

Der Altorientalist, dem Zweige ins Gesicht peitschten, schloss entsetzt die Augen und krallte sich an die Leine. Er fühlte, wie Lorbeerzweige und -blätter über seine Haut schrammten, an ihm zerrten und Äste ihn knufften. Blind, wie er war, stolperte er über ein kniehohes Hindernis und schlug der Länge nach hin. Im Fallen ließ er das Schwein los.

Er krachte in einen Lorbeerbusch, zerkratzte sich Hände und Gesicht und kollidierte mit seinem rechten Knie heftig mit etwas Steinhartem. Während er in dem Bestreben, wieder auf die Beine zu kommen, mit Zweigen, Strünken und unsichtbaren Hindernissen aller Art rang, hörte er Brunhildes Schmatzen aus nächster Nähe. Gott sei Dank, dachte er, sie ist nicht weg!

Knapp anderthalb Meter zu seiner Linken wühlte das Lockenschwein, dessen blonde Dauerwellen es im Dunkel als fahles Schemen sichtbar machten, mit Vorderhufen und Rüssel am Fuße eines weit ausladenden Schneebeerenbusches, hinter dem sich ein Maschendrahtzaun erhob. Brunhilde war wie von Sinnen. Als Schlichtkohl näher kroch, hebelte sie mit energischen Kopfstößen einen quadratischen Gegenstand aus dem Boden und schubste ihn in dem Bestreben, ihn mit den Zähnen zu packen, vor sich her.

Der Professor rappelte sich hoch, zog die fingerlange Minilampe, die er auf Gotthards Mahnung hin eingesteckt hatte, aus der Tasche und richtete sie auf Brunhildes Fund. Es war eine Gebäckdose aus buntbedrucktem Blech. Sie trug einen neonfarbenen Aufkleber. Schlichtkohl leuchtete ihn an: »Für Sebastian« stand dort, und darunter in kleineren Buchstaben: »Bitte gleich öffnen, wenn unbeobachtet, und Dose wieder verbergen.«

Schlichtkohl schob seinen Kopf unter die kratzigen Zweige und entrang den Blechbehälter dem Schwein, das sich wehrte, ihn mit den Vorderhufen trat und seine Hände mit Strömen warmen Speichels besabberte. Er versuchte, die tobende Brunhilde mit dem Ellenbogen auf Distanz zu halten und die Büchse zu öffnen, aber das misslang. Nach einigem Suchen ertastete er das Ende eines Klebebandes, das um die Dosenmitte führte, zog es ab und hob den Deckel hoch.

Bevor er die Taschenlampe wieder anknipsen konnte, hechtete Brunhilde vor, übersprang Schlichtkohls Ellenbogen, landete auf seinem Unterarm und schnappte sich mit einem Kopfstoß, der einer Kobra Ehre gemacht hätte, etwas aus dem Innern der Schachtel. Es war offenbar ein Leckerbissen, denn das Schwein kaute, mahlte, schmatzte, schlabberte und grunzte sofort begeistert los. Plastik oder Zellophan knisterte. Brunhilde schien die Verpackung gleich mit zu verzehren. Warum, wurde Schlichtkohl schnell klar: Das prägnante Aroma von schokoladeüberzogenen Ingwerstäbchen verbreitete sich im Wald.

Im Licht seiner Lampe sah Schlichtkohl, dass in der Schachtel zwei Couverts lagen, ein normales und ein größeres. Ein Gummiband umschlang beide Briefe. Er steckte sie ein. Er konnte fühlen, dass in dem A5-Umschlag zwei CDs steckten – Gotthards Geheimnis?

Der Professor mit dem Katzenfell

Подняться наверх