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5 No future for food waste!

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Ein Text von David Jans:

Wir schreiben das Jahr 2025… oder 2030… oder 2040… wie auch immer… ich weiß es nicht. Es kommt darauf an was wir so alles gemeinsam schaffen in den kommenden Jahren. Also, wir schreiben dieses Jahr x.

foodsharing gibt es nicht mehr. Zumindest dieses foodsharing, wo Freiwillige Tag für Tag in zig Bäckereien, Supermärkten und Restaurants kistenweise die Lebensmittel retten, die ansonsten in der Tonne gelandet wären. Nicht mehr den Ansprüchen genügend. Überproduziert. Zuviel bestellt. Dieses Foodsharing gibt es nicht mehr, und das ist gut so!

Ich spaziere durch Stuttgart, das Wetter ist angenehm warm und die Sonne strahlt vom Himmel. Ich schnappe mir beim Vorbeigehen eine reife Himbeere, die auf einem Grünstreifen zwischen Fahrrad- und Fußgängerweg gewachsen ist. So wie all die anderen Beerensträucher, Kräuter und Obstbäume, die die Stadt in einen urbanen Garten verwandeln.

Mein Hunger ist geweckt, und ein paar Schritte weiter steht ein Fair-Teiler. Ich nehme eine Brezel, die ein lieber Mensch wohl kurz zuvor dort abgelegt hat. Fair-Teiler, also öffentliche Kühlschränke und Regale, wo Menschen bedingungslos Lebensmittel teilen dürfen, stehen mittlerweile engmaschig über die ganze Stadt verteilt. Sogar im Rathaus und in anderen kommunalen Gebäuden. Selbstverständlich. Wir haben gelernt, die wenigen übrigen Lebensmittel so zu fair-teilen, dass sie noch gegessen werden.

Jetzt habe ich Lust auf einen guten Kaffee. „Raupe Immersatt - das foodsharing-Café“ steht in großen Lettern über einem sympathischen Café und ich setze mich davor in einen bequemen Liegestuhl. Hier darf ich sein, ohne konsumieren zu müssen, gerettete und geteilte Lebensmittel kostenlos essen und für Getränke so viel bezahlen, was sie mir wert sind. Der Kaffee schmeckt köstlich und ist natürlich fair gehandelt und bio.

Fair gehandelt und bio, so wie mittlerweile übrigens alle Lebensmittel die wir konsumieren. Niemand auf der Erde wird mehr ausgebeutet, nur damit wir alle möglichen exotischen Früchte möglichst billig zu jeder Jahreszeit haben können. Genuss ist auch regional und saisonal möglich. Und er fühlt sich verdammt gut an.

Aus meinem Liegestuhl heraus kann ich entspannt eine Gruppe Schüler*innen beobachten, die gerade einen Grünstreifen in ein Gemüsebeet verwandeln. Alle packen mit an und haben Freude am Gärtnern. Selbstverwirklichung. Selbstversorgung. Leben. Das sind die dominierenden Schlagworte beim Lernen. Der Unterricht findet nicht mehr strikt nach Lehrplan und für alle gleich statt, sondern richtet sich nach den Talenten und Bedürfnissen der jungen Menschen mit dem Fokus auf ein erfülltes und gesundes Leben in einer wertschätzenden und solidarischen Gesellschaft im Einklang mit der Natur.

Apropos solidarisch: die solidarische Landwirtschaft hat sich durchgesetzt. Kein Landwirt und keine Landwirtin muss mehr billig und auf Masse produzieren oder mit viel Pestizideinsatz stumpfe Monokulturen anlegen. Gemeinsam nehmen die Menschen die regionale Ernährung in die Hand und übernehmen Verantwortung.

Mein Blick schweift auf eine Infotafel neben dem Eingang; im Café Raupe Immersatt findet wohl heute eine Ausstellung statt: Stuttgart 2019 – ein historischer Rückblick. Das klingt spannend. Ich verlasse meinen Liegestuhl und schaue mir die Ausstellung an:

Stuttgart 2019

313 Kilogramm genießbare Lebensmittel haben wir damals weggeworfen. Pro Sekunde. In Deutschland. Krass. Das waren 18 Millionen Tonnen im Jahr. Was war da los mit uns?

Und nicht nur Gemüse, Obst und Backwaren haben wir weggeworfen, sondern natürlich auch Fleisch und Wurst. Und zwar ne ganze Menge. Zusammengerechnet waren das 230.000 Rinder. Über 4 Millionen Schweine. 45 Millionen Hühner. Und das pro Jahr. Nur in unseren privaten Haushalten. Was war da los mit uns?

Wir haben in großen Supermärkten und Discountern eingekauft, immer auf der Jagd nach billigen Schnäppchen und der großen Menge fürs kleine Geld. Ganz egal woher, ganz egal von wem produziert, ganz egal was drin war. Die Werbung hat uns gezeigt was wir brauchen und was gut schmeckt. Was war da los mit uns?

Wir haben uns blind auf ein Datum verlassen, das auf allen Lebensmitteln gedruckt war. Auch auf Lebensmitteln, die bei richtiger Lagerung niemals schlecht werden wie Honig, Zucker, Reis oder millionen Jahre altes Salz. Und sobald dieses Datum abgelaufen war, haben wir das Lebensmittel einfach so weggeworfen. Was war da los mit uns?

Wir haben unterstützt, dass riesige Flächen Regenwald und anderer wertvoller Lebensraum abgeholzt wurde, nur weil wir jeden Tag Fleisch konsumieren wollten und die Tiere in den Mega-Mast-Ställen ja irgendwie gefüttert werden mussten. Wir haben unterstützt, dass Menschen in Ländern des Globalen Südens gewaltsam ihr seit Jahrhunderten bewirtschaftetes Land weggenommen wurde, nur damit wir ganzjährig alle erdenklichen Früchte und SuperFood genießen konnten. Was war da los mit uns?

Über 800 Millionen Menschen litten im Jahr 2019 an Hunger. Jedes Jahr starben 9 Millionen Menschen an Hunger, also alle 3 Sekunden ein Mensch. Und das, obwohl wir doch damals schon für 12 Milliarden Menschen Lebensmittel produzierten? Was war da los mit uns?

Irgendwann sind wir aufgewacht. Irgendwann haben wir begriffen, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Wir sind aufgestanden und haben uns verändert. Zum Glück – lange wäre das wohl nicht mehr gut gegangen.

Wir haben uns zuallererst an die eigene Nase gefasst.

Wir haben begriffen, dass wir beim Einkaufen und Konsumieren Tag für Tag eine Stimme abgeben und so zeigen können, dass es uns nicht egal ist, woher die Lebensmittel kommen, unter welchen Bedingungen sie angebaut und geerntet wurden und wer daran wie viel verdient.

Wir haben begriffen, wie viel wertvoller es ist, sich mit Lebensmitteln zu beschäftigen, die Natur verstehen zu lernen, selbst anzubauen, selbst zu kochen und dieses Wissen auch an unsere Kinder weiterzugeben. Wir haben begriffen, dass wir das sind, was wir essen.

Wir haben begriffen, dass dieses Datum auf den Lebensmitteln keine Aussagekraft bzgl. der Genießbarkeit hat und wir haben endlich wieder angefangen, die Lebensmittel anzuschauen, zu riechen, zu schmecken und dann so lange zu essen, solange sie eben noch gut sind.

Wir haben begriffen, dass es nicht auf die Menge, sondern auf die Qualität unserer Lebensmittel ankommt. Wir haben es endlich geschafft, nicht mehr auf Sonderangebote und Schnäppchenpreise hereinzufallen, sondern nur das und so viel zu kaufen, was wir auch wirklich brauchen und was uns gut tut.

Wir haben begriffen, dass hinter den Mauern der Mastanlagen und Zuchtbetriebe mitfühlende Wesen sitzen und haben es geschafft, nicht nur die Tiere, sondern auch die Landwirte und Landwirtinnen endlich von dieser Massentierhaltung zu befreien. Wir haben kapiert, dass Empathie nicht bei uns Menschen enden darf.

Aber wir haben nicht nur uns selbst, sondern auch die Politik, den Handel und die Industrie in die Pflicht genommen. Wir haben gefordert, gekämpft und durchgeboxt. Es war nicht einfach, und es war anstrengend. Aber es hat sich gelohnt.

Wir haben uns eine Welt gewünscht, in der es nicht mehr legal ist, Unmengen an genießbaren Lebensmitteln einfach so zu entsorgen, aber Menschen dafür verurteilt werden, wenn sie diese aus dem Container retten. Wir haben es geschafft, dass Strafgesetzbuch so anzupassen, dass Ressourcenschutz nicht mehr als Diebstahl ausgelegt werden kann.

Wir haben uns gewünscht, dass Ehrenamt und Engagement für ein gerechteres und ressourcenschonenderes Miteinander auch geschützt ist und durch Gesetze bestärkt, und nicht verkompliziert wird. Wir haben es geschafft, dass Foodsaver und Fair-Teiler von den Behörden mit Verhältnismäßigkeit und Wertschätzung behandelt, und nicht mit allen Auflagen eines Lebensmittelunternehmens belegt werden.

Wir haben uns eine Welt gewünscht, in der junge engagierte Menschen mit einer tollen Idee auch eine passende und bezahlbare Räumlichkeit dafür bekommen, und nicht mit den horrenden marktüblichen Mieten alleine gelassen werden und mit ungleichen Mitbewerber*innen konkurrieren müssen. Wir haben es geschafft, dass das foodsharing-Café Raupe Immersatt Wirklichkeit wird und die Räumlichkeit von der Stadt Stuttgart gestellt und mitfinanziert wird.

Wir haben uns gewünscht, dass wir auf Preisverleihungen, auf welchen foodsharing und die Raupe Immersatt für ihr Wirken ausgezeichnet wurden, auch die Reste vom Buffett mitnehmen dürfen und es uns nicht untersagt wird. Und wir haben es geschafft.

Berührt und ergriffen gehe ich wieder nach draußen und setze mich in den Liegestuhl. Vögel zwitschern, die Luft ist klar und rein, die Sonne scheint.

Was für ein schönes Jahr. Dieses Jahr x, in dem wir es endlich geschafft haben. Foodsharing gibt es nicht mehr. Und es fühlt sich verdammt gut an.

SOS - Save Our Ship! eine Anthologie zur Klimakatastrophe

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