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Über den Wolken

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Über den Wolken. Unter uns lag die Nordsee. Meine Frau kram­te in ihrer Tasche und gab mir einen kleinen Novellenband. Irgendwo da unten steht er, sagte sie und blieb trotz Nachfrage bei dieser Andeutung. Sie habe das Büchlein zufällig entdeckt, gab mir einen Kuss auf die Wange und schloss die Augen.

Der Leuchtturmwärter. Unbekannter Autor. Gott sei Dank kein 1000-Seiten-Wälzer, dachte ich. Vor uns lagen noch einige Flug­­stunden. Der Lesestoff würde mir die Flugzeit angenehm ver­kürzen. Und so machte ich mich unverzüglich an die Lektüre.

Womit begann alles?, fragte ich mich. Eigentlich mit dem Streit in der Redaktionskonferenz. Ich hatte einen mir wesentlich erscheinenden Artikel erst im letzten Augenblick abgeliefert, was selten vorkam. Der Chefredakteur vergaß Bildung und Position. Dass ich unfähig sei, war noch das Gelindeste, was er herausschrie. Ich schwieg. Es war nicht das erste Mal. Diesmal aber wollte ich konsequent handeln. Ich stand auf und erklärte vor versammelter Mannschaft, die Kündigung anzunehmen.

Von Kündigung sei keine Rede, bei diesem Satz mäßigte er den Ton.

Ich habe sie aber als solche verstanden, replizierte ich, nahm Block und Bleistift in die Hand und verließ den Raum, ging in mein Büro und steckte die wenigen persönlichen Dinge in meine Aktentasche. Milla, meiner Sekretärin, schenkte ich meinen Ficus benjamina mit der Auflage, ihn regelmäßig zu gießen, und verabschiedete mich.

Bei Josef, dem Wirt, der eigentlich nur von der Redaktion gut lebte, bestellte ich mir ein Glas Bier und erklärte ihm, dass ich mich mit dem Chef angelegt habe und daher meine Tage beim Tagblatt gezählt seien.

Das glaube er nicht, erwiderte Josef, auf mich könne die Redaktion niemals verzichten.

Doch, antwortete ich, jeder sei ersetzbar.

Was ich nun zu tun gedenke, fragte er.

Aussteigen, antwortete ich. Mit 55 könne man doch aussteigen. Schafhirte in der Lüneburger Heide, einen Mal- oder Töpferkurs belegen, oder mit dem Geschichtestudium beginnen, das wollte ich immer schon machen, erklärte ich ihm. Endlich frei zu sein, ohne Termindruck, ohne oberlehrerhafte Kürzungen der von mir verfassten Artikel, frei von unqualifizierten Äußerungen mancher Leserbriefschreiber.

Josef, bitte noch ein Bier.

Das gehe heute aufs Haus, erklärte er mir.

Milla, meine Redaktionsassistentin, stürmte bei der Tür herein, vermutlich hatte sie Josef verständigt.

Wenn ich ginge, gehe sie auch.

Nein, Milla.

Josef mischte sich ein. Er wird Schafhirte, erklärte er ihr mit einem Lächeln und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Ich ignorierte Josefs Geste und versprach Milla, mich jeden Tag zu melden. Und dass ich keine Dummheiten vorhabe.

Am nächsten Tag kaufte ich mir die Wochenendausgaben verschiedener Zeitungen, kochte eine große Kanne Tee und lag den restlichen Vormittag entspannt auf der Couch. Ich las vom Angebot einer Greyhound-Tour von Seattle nach San Diego, vom Indian Summer in Vermont, einer Trekkingtour durch den Kaukasus. Dann stand nicht ganz unerwartet Milla mit einem selbst gebackenen Kuchen vor der Tür. Aus der Handtasche zog sie einen Brief. Ich wusste sofort, Milla war als Botschafterin ausgesandt worden. Ich konnte mir alle Redewendungen des Chefredakteurs vorstellen. Man bedaure zutiefst, stressbedingter Ausrutscher, man kenne sich doch so lange, das ganze Team trauere. Ungelesen gab ich den Brief Milla zurück.

Der Kuchen war besonders gut gelungen, wir tranken schon am Nachmittag eine Flasche Wein aus. Abends bestellten wir uns eine Pizza. Pizza Margherita. Und eine Flasche Rotwein. Im Bett gestand mir dann Milla, dass der Chefredakteur sie gebeten habe, sich für die Sache zu opfern. Es sei aber kein Opfer, erklärte mir Milla lachend.

Am nächsten Tag brachte ich Milla mit dem Taxi nach Hause, besorgte mir noch Sonntagszeitungen und widmete mich ihnen unten im Park. Und ich las: Leuchtturmwärter gesucht. Drei Wochen am Stück, eine Woche Landurlaub. Befristet von September bis Ende Februar. Technisch versierte Personen werden bevorzugt.

Leuchtturmwärter! Leuchtturmwärter auf einer einsamen Insel. Auszeit pur, dachte ich sofort. Ich lief in meine Wohnung, setzte mich an den Computer und schrieb sofort meine Bewerbung. Den akademischen Grad ließ ich weg, dafür verwies ich auf die norddeutschen Wurzeln meines Vaters und auf meinen Segelschein, den ich einmal in den Ferien in der Glücksburger Segelschule erworben hatte. Auch dass ich familiär ungebunden sei, erwähnte ich.

Und ich dachte nach. Für den Fall des Falles würde sich Milla um die Wohnung und meine Post kümmern, um meine Mieter im Haus die Hausverwaltung. Das Auto würde ich mitnehmen und auf dem Festland in einer Garage unterstellen.

Immerhin nahm man mit mir nach einer Woche Kontakt auf. Man mache aufmerksam, dass das Postschiff nur einmal pro Woche anlege. Man sei natürlich per Telefon verbunden und könne jederzeit, aber nur, wenn es die See zulasse, bei Notfällen ein Boot schicken. Neben der Wartung der Technik des Leuchtturms seien zwei Mal pro Tag das Wetter durchzugeben und eine Windmessung vorzunehmen. Zum Erstgespräch möge ich ein Gesundheitszeugnis mitbringen, man wolle schließlich kein Risiko eingehen. Nach dem Auslaufen des Vertrages werde der Leuchtturm umgebaut und mannlos betrieben.

Ham­burg. Die beiden Herren vom Küstenamt waren freundlich, sie wür­den mich zur Besichtigung meiner künftigen Arbeitsstätte kommenden Freitag begleiten. Und ob ich seetauglich sei, wollten sie wissen. Oft könne nämlich die See sehr rau sein.

Ich verwies darauf, dass ich ein Hochseefischen ohne größere Probleme überstanden habe. Beide lachten, Hochseefischen wiederholten sie.

Der scheidende Leuchtturmwärter war, anders als ich es mir vorgestellt hatte, ein gepflegt aussehender älterer Herr. Am Anfang habe er sich einen Bart wachsen lassen. Tun Sie das auch, das verbessert die Eingewöhnung, riet er mir. Und dass zu einem Leuchtturmwärter der Bart dazugehöre, dabei lachte er. Bei der Anlegestelle könne man immer wieder kleinere, aber auch größere Fische fangen, die Angelrute lasse er mir da. Einer der beiden mich begleitenden Herren warf ein, dass ich ja ein Hochseefischer sei. Und jetzt lachten wir alle. Und wenn es einmal ganz fürchterlich stürmen sollte, empfehle er mir Flensburger Rum oder einen Bommerlunder. Ob den einer, der aus dem Rheinland kommt, kennt?, fragte er.

Ich schwieg.

Der Tag sei lang, erklärte er mir, er empfehle mir einen Stapel Bücher mitzunehmen, einige Bände würden sich auf der Stellage im Schlafraum finden. Außerdem werde man genügsam.

Genügsam, das Wort wiederholte ich leise. Das war ja genau das, was ich anstrebte.

An den Wänden des Stiegenaufgangs waren Fischnetze und ein Enterhaken befestigt. 200 Stiegen seien zu bewältigen. Ich sah es als tägliches Training. Sogar bezahlt, dachte ich mir. Der Ausblick von der Turmspitze war großartig, von hier aus sah man nicht nur die in der Ferne kreuzenden Schiffe, sondern konnte auch die gesamte Insel überblicken.

Falls Sie Seeräuber überfallen, sagten fast alle gleichzeitig, sperren Sie sich ein, dabei lachten sie laut. Eine Signalpistole liege unten im Vorraum, ergänzte der Leuchtturmwärter.

Dann wurde ich eingewiesen. Täglich Reinigung der Glasscheiben und Kontrolle der Lampen, Führung des Kontrollbuches und Meldungen von Wetter und Windstärke.

Jetzt könne ich es mir noch überlegen.

Ich schüttelte den Kopf. Ich hätte nur Angst vor der Technik gehabt, aber das müsste zu schaffen sein, ergänzte ich.

Milla war über meinen Entschluss entsetzt. Alle hätten bis zum Schluss gehofft, ich würde mich umbesinnen. Und ob ich regelmäßig nach Hause komme. Ich hätte doch Anspruch auf Freizeit.

Man werde sehen, erklärte ich Milla und bat sie, sich um meine Post zu kümmern, Wichtiges nachzusenden. Dann flossen Tränen.

Mit einem etwas größeren Koffer und einer Flasche Flensburger Rum stand ich pünktlich an der Mole und wartete auf das Postschiff, um mich bei ruhiger See zur Leuchtturminsel fahren zu lassen.

Der Kapitän des Postschiffes war wenig gesprächig. Er rate mir, bei Sturm niemals den Leuchtturm zu verlassen, Essen und Getränke könne man vorbestellen, sonst würde die Zentrale Standardware, wie er sich ausdrückte, liefern. Das meiste sei in Dosen, auch das Bier. Und dass ich den Müll ordentlich sammeln und verpacken solle, schließlich sei das Boot ein Postschiff und kein Müllcontainer.

Nach einem Schluck aus der Rumflasche verflog das Mürrische in seinem Gesichtsausdruck.

Damit war ich allein auf dem Eiland. Noch bevor ich meine Habseligkeiten auspackte, erkundete ich einen Teil meines Refugiums, meines Zufluchtsortes, dabei dachte ich an Robinson Crusoe. Ob ich auch auf einen Freitag treffe?, fragte ich mich gut gelaunt. Und ich stellte mir weiters die Frage, ob man die Insel nicht kaufen oder zumindest pachten könnte, so beeindruckend präsentierte sie sich.

Danach nahm ich meinen Arbeitsplatz in Augenschein. An der Wand hing eine Tafel mit Hinweisen. Dass man nur mit der Zentrale telefonisch verbunden sei, was mich freute, da ich damit vor unerwünschten Anrufen geschützt war. Kein bettelnder Chefredakteur, keine Milla, auch nicht mein Bruder, der mich monatlich einmal um Geld anpumpte. Zumindest war ich ein gutes halbes Jahr von der Landkarte, ich wiederholte das Wort Landkarte und lachte dabei, verschwunden. Ich nahm mir vor, egal was kommen sollte, jeden Augenblick zu genießen, bewusster zu leben, als ich es bisher getan hatte. Und wenn man mir meine Insel nicht verkaufte oder verpachtete, dann würde ich eben ein Haus auf Rügen, Föhr oder Sylt mieten, ein reetgedecktes Haus jedenfalls müsste es sein. Vielleicht gab es aber auch irgendwo einen stillgelegten Leuchtturm zu erwerben.

Ich inspizierte die Vorräte. Einige Dosen Bier, eine halbe Flasche von diesem Bommerlunder, Butter, Honig, Knäckebrot, Fisch- und Fleischdosen, Reis, Öl, ein Haltbarkuchen. In einem Weidenkorb Äpfel und Zitronen. Genug zum Leben, dachte ich in diesem Augenblick. Wer benötigt mehr?

Die erste abendliche Wettermeldung funktionierte problemlos, die Frage des Mitarbeiters der Zentrale, ob ich es schon bereue, löste in mir einen kaum verhüllten Ärger aus. Lediglich ein nächtliches, wiederholtes metallisches Klopfen machte mich besorgt. Nur keine Panne, bat ich, schlief aber dennoch bis zum Morgengrauen. Möwen empfingen mich beim Spaziergang, ich vermutete, dass einige von ihnen hier gebrütet und mich als Eindringling wahrgenommen hatten.

Die Tage vergingen gemächlich, auf die Uhr blickte ich nur morgens und abends, um die Wetter- und Windmeldungen nicht zu versäumen. Donnerstags urgierte die Zentrale meine Bestellung für die kommende Woche.

Ich sei wunschlos. Doch, einen Laib Brot und Milch.

Dann dachte ich darüber nach, dass man mit so wenig leben kann. Mir fiel ein, dass ich noch kein einziges Mal fischen war. Ich saß an der Anlegestelle auf einem Stück Holz und warf immer wieder die Angelhaken aus, so wie es mir der alte Leuchtturmwärter empfohlen hatte. Nach einigen Stunden hatten sich dann endlich einige Sprotten erbarmt. Ich nahm mir aber vor, den Postschiffkapitän um fachmännischen Rat zu fragen.

Der war dann erstaunt, als er mir nur eine Obstkiste mit Brot und Milch sowie einigen Zeitungen übergab. Ich lud ihn auf eine Tasse Kaffee ein und er gab mir tatsächlich wertvolle Tipps. Ich möge die Reuse auslegen, das habe mein Vorgänger erfolgreich gemacht. Was infolge auch erfreulicherweise klappte.

Wie ich schon bei meiner Einstellung kundgetan hatte, nahm ich keine Auszeit, keinen Landgang, sondern tat weiterhin meinen Dienst. Ich stellte dabei für mich fest, dass ich noch nie in meinem Leben zufriedener gewesen war.

Eines Tages kam außerhalb der Routinefahrt das Postschiff. Ich nahm mein Fernglas und stellte fest, dass Personen an Bord waren. Besucher hatte ich ausdrücklich für unerwünscht erklärt. Vielleicht eine außerordentliche Inspektion der Behörde? Die aber wäre angekündigt worden. Einer der Passagiere fotografierte, der andere winkte mir zu.

Es waren zwei ehemalige Kollegen vom Tagblatt.

Wir machen eine Story über dich als Aussteiger, erklärten sie. Mit ausdrücklicher Genehmigung des Chefs. Der kurzzeitige Ärger wich, da ich mich über den Besuch der beiden letztlich doch freute. Von der mitgebrachten Dosenbierpalette blieb an diesem Nachmittag nichts mehr übrig, der Kapitän, das wusste ich, war trinkfest.

Ob sie mir den Artikel vorweg schicken müssten?, fragten sie vor der Abfahrt.

Ich verneinte.

Dann kam der November und die ersten schweren Stürme trieben mich ins Haus. Endlich kam ich dazu, mir die vorhandenen Bücher anzusehen: Härtlings Schubert, Bölls Mann mit den Messern, von Thomas Mann Der Erwählte, eines meiner Lieblingsbücher, eine Autobiografie von Emil Nolde, Biografien von Kokoschka und Anais Nin. Als Erstes nahm ich mir aber den Gedichtband von Joachim Fernau zur Hand. Mir schien, glücklicher könne man nicht sein.

Am nächsten Morgen beschloss ich, mir den Drei-Tage-Bart nicht mehr zu rasieren, ich hatte das Bild von Robinson vor meinem geistigen Auge und fand, dass dadurch mein Aussteiger-Dasein erst richtig Gestalt annahm.

Den Brief der Hausverwaltung, dass ein Mieter größere Probleme mache und man eine Entscheidung erbitte, beantwortete ich nicht. Für Problemlösungen wählt man doch einen Verwalter. Dann kam ein Paket von Milla mit Briefen und Mahnungen. Und einer Karte. Sie vermisse mich.

Ich schrieb ihr zurück und bat sie, einzelne Zahlungen für mich vorzunehmen, und unterschrieb mit Robinson, Leuchtturmwärter.

Da die Stürme immer heftiger wurden, hatte ich mit dem Fischfang keinen Erfolg mehr. An einem Freitag blieb dann das Postschiff aus. Auch der Schiffsverkehr, an den ich mich gewöhnt hatte, wurde schwächer. Störend empfand ich, dass das Tageslicht merklich kürzer wurde. An manchen Tagen benötigte ich dann schon am frühen Nachmittag ein Glas Flensburger Rums.

Da ich mich auf die kalte Jahreszeit und die starken Windböen nicht eingestellt hatte, bat ich die Zentrale, mir auf meine Kosten einen regen- und winddichten Mantel sowie eine Wollmütze zu schicken. Und zwei Flaschen Bommerlunder, ich war auf den Geschmack gekommen.

Tatsächlich kam das Postschiff am Freitag pünktlich. Statt der üblichen Versorgungskiste lud Oskar, Oskar Hansen, wir hatten uns bald angefreundet, zwei Pakete aus. Die beiden Bommerlunderflaschen überreichte er mir gesondert und lachte dabei. Natürlich musste ich gleich zwei Gläser mit ihm trinken.

Zwei Pakete. Ich war neugierig. Auch wenn ich mich an das Robinsonleben gewöhnt hatte, so war doch der Zivilisationssee noch nicht ausgetrocknet und übermäßige Freude kam beim Auspacken auf. Ein gefütterter Regenmantel, Haube, Schal, Handschuhe, passende warme Stiefel. Im zweiten Paket dann Schokolade, Rotwein, Käse, Baguettes und ein Brief. Vermutlich von Milla.

Weit gefehlt. Unterschrift Ilse. Wer zum Teufel ist Ilse?, fragte ich mich. Eine sich erbarmende Frau in der Zentrale? Und ich wiederholte immer und immer den Namen Ilse in der Hoffnung, es würde sich doch ein Gedankenblitz einstellen.

Nach einiger Zeit gab ich auf, öffnete die Rotweinflasche, deckte mir, was selten vorkam, ordentlich den Tisch, zündete eine Kerze an und genoss den Abend als Fastrückkehrer in die Zivilisation. Und ich dachte erstmals seit Langem an meine Freunde zu Hause. An die Redaktion, an Milla, an Weihnachten im Turm. Da kam etwas Wehmut auf. Sicher würde man mir rechtzeitig einen Weihnachtsbraten herüberschicken und vielleicht käme auch wieder ein Paket dieser Ilse. Wie aber sollte ich mich für das Paket von ihr bedanken? Brief an Ilse, Adresse unbekannt? Ich beschloss, einfach abzuwarten.

Zwei Tage vor Weihnachten kam dann das Postschiff mit Oskar. Er lächelte. Wieder zwei Pakete von deiner unbekannten Verehrerin, rief er mir schon beim Anlegen zu. Ich hatte ihm von einer mir unbekannten Ilse erzählt. Natürlich tranken wir wieder Bommerlunder, diesmal drei, wegen Weihnachten, meinte Oskar. Dann umarmte er mich und fuhr los.

Das kleinere Paket kam von Milla. Briefe, Weihnachtskarten, ein Album mit Bildern von der Redaktionsweihnachts­feier, eine kleine Marzipantorte und ein Brief von Milla. Sie würde mich so vermissen. Ob ich sie denn auch vermisse.

Gute Milla, ich bin 55, du 35, dachte ich.

Im größeren Paket fand ich einen schicken Norwegerpullover vor, einen ähnlichen hatte ich als Student in Heidelberg getragen, dann noch ein kleines Modell eines VW-Käfers aus den 80er-Jahren und ein antiquarisches Buch von Hemingway, Der alte Mann und das Meer. Kurz kam Ärger auf. Der alte Mann … Dann schlug ich die erste Seite auf. Weihnachten 1985. Deine Ilse.

Ilse! Dass es mir nicht früher eingefallen war! Damals trug ich einen Norwegerpullover, ich glaube, sie hatte ihn mir auch damals geschenkt. Und der VW-Käfer war ein Fingerzeig auf das Auto, das ich damals besessen hatte.

Wie hatte sie mich entdeckt? Ich las die Karte.

Du warst ein wunderbarer Mann, in den ich mich Hals über Kopf verliebt hatte. Klug und auch romantisch. Mit dir hat es sich das erste Mal richtig angefühlt. Wir waren auf dem Uni-Ball, haben im Regen getanzt und am Ende saßen wir auf einer Parkbank und haben Wein getrunken. Und irgendwann haben wir uns geküsst. Dann waren wir ein Jahr lang ein Paar.

Ob ich es aushalte, wenn du ein Jahr nach Berlin gehst, hast du mich gefragt. Ich habe bejaht.

Dann aber kam Jörg. Er war reifer und älter als wir. Er kaufte mir Kleider mit tiefen Ausschnitten und Schuhe mit hohen Absätzen. Ich fand sie schick, auch wenn sie mir beim Gehen weh taten. Später erinnerte ich mich daran, als du mir ein rotes Kleid gekauft hattest, dass ich enttäuscht war, weil es so bieder ausgesehen hatte. Deine Reaktion? Ein rotes Kleid braucht keinen aufregenden Ausschnitt.

Mir fiel alles wieder ein. Jörg, dieser Angeber, mit seiner Anwaltei in den Konkurs gerutscht. Auch an den Satz mit dem roten Kleid erinnerte ich mich.

Du warst natürlich enttäuscht, bliebst in Berlin. Nicht einmal deine persönlichen Sachen wolltest du nachgeschickt bekommen. Briefe hast du nicht mehr beantwortet und ich habe dich aus den Augen verloren. Ich konnte dir dann auch nicht mehr schreiben, dass ich dich wollte. Es war leider schon zu spät. Dann kamen andere, für kürzere oder längere Zeit.

Ich nickte stumm mit dem Kopf.

Aber dann las ich durch Zufall den Artikel über den letzten Leuchtturmwärter. Ich habe dich nach all der Zeit gleich erkannt – und da war ja auch noch dein Name.

P.S. Das Weihnachtsmenü habe ich in meiner Kochschule in Hamburg gekocht.

PP.S. Darfst du Besucher empfangen?

Ilse

Ich dachte nach. Zwischen damals und heute lagen fast 30 Jahre. Ihren Verrat hatte ich lange nicht verkraftet. Und jetzt lockt sie mich aus meinem Wohlfühlleben. Ilse, störe meine Kreise nicht.

Nein, Ilse darf.

Ich schrieb am Weihnachtsabend einen langen Brief, unter Einfluss des französischen Rotweines, den sie mir mitgeschickt hatte. Eine Woche darauf kam ihre Antwort und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was in meinem Brief gestanden war. Also schrieb ich wieder, wie es mir ging, vom Sturm, dem aufgewühlten Meer und den Möwen. Ich vermied es, das Ende meines Robinsondaseins bekanntzugeben. Ich wollte trotz des Briefwechsels mein restliches Inselleben genießen.

Dann vergingen wieder zwei Wochen, eben ein Briefverkehr wie zu Zeiten der Postkutsche, dachte ich. Und dann wieder zwei. Dann waren die letzten Tage da und Hektik stellte sich ein. Langsam musste ich mich auf das Landleben einstellen. Daher rasierte ich mich so gut es ging und bat Oskar beim nächsten Besuch, mir behelfsweise die Haare zu schneiden, er hatte einmal erwähnte, dass er eine Friseurlehre begonnen, dann aber abgebrochen hatte. Ich blickte in den matten Spiegel. Statt Defoes Robinson erblickte ich wieder mich.

Ich nahm Abschied. Den Inselmöwen versprach ich, wiederzukommen.

Die Mitarbeiter der Küstenbehörde hatten einen kleinen Empfang vorbereitet und auch die Presse dazu eingeladen. Ob ich ein Buch über meine Auszeit schreiben werde, wurde ich gefragt.

Man habe mich auf eine Idee gebracht, antwortete ich. Dabei schien mir, als bewege sich der Boden unter meinen Füßen.

Als ich zum Aufbruch mahnte, kam eine Frau auf mich zu. Unter ihrem Mantel trug sie ein rotes Kleid. Unverkennbar Ilse. Die gleiche Frisur, die gleichen flachen Schuhe, wie ich es immer geliebt hatte.

Es gebe statt der Brötchen ein Rückkehrmenü.

Was sie unter Rückkehrmenü verstehe, fragte ich.

Statt einer Antwort küsste sie mich und zog mich zu ihrem Auto.

Ich schlug das Büchlein zu und sah hinaus auf das vorbeifliegende Wolkenband. Meine Frau öffnete die Augen und lachte mich an.

Gedanklich bei deiner Ilse?, fragte sie.

Man erwarte Turbulenzen, man möge sich anschnallen, tönte es aus dem Cockpit.

Leicht errötend blieb ich meiner Frau eine ehrliche Antwort schuldig.

Sibylle oder Die Zugfahrt

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