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Der Koch und die Klavierspielerin

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Der Regen passte mir gar nicht. Die vereinbarte Radtour mit Freunden fiel aus. Was tun? Ein Samstag, den ich verwünschte.

Meine Frau meinte, ich könnte mich doch einmal der Bibliothek widmen. Sortiere doch die Bücher, ordne sie nach Fachgebieten, nach Autoren oder lass dir selbst etwas einfallen.

Kein kurzer Regenschauer, das wird ein Landregen, dachte ich. Also auf zur Bibliothek. 750 Bücher zählte ich, noch zehn im Wohnzimmer, zehn im Schlafzimmer, fünf hergeborgt.

Hast du gewusst, dass wir 775 Bücher unser eigen nennen?, fragte ich meine Frau. Die Antwort blieb aus.

Die Fächer wurden von mir sorgfältig gesäubert. Dann nahm ich ein Buch nach dem anderen zur Hand, las kurz darin, legte manche auf einen Stapel, um sie später noch einmal zu lesen, und begann eher unsystematisch mit dem Einordnen.

Ich nahm einen dünnen Band zur Hand. Grau-blauer Einband, Autor mir unbekannt, der Titel: Der Koch und die Klavierspielerin, ostdeutscher Verlag. Ich schlug das Büchlein auf. Eine Widmung, die mich erstaunte: Für Ida. Dein Wolf.

Wolf. Die Affäre, verleugnet, verjährt zumindest. Aber warum kenne ich das Büchlein nicht, diese kurze Novelle? Versteckt. Vielleicht heimlich wiedergelesen? Ich nahm mir vor, abends nach der Sauna das Werk im Ruheraum zu lesen.

Also, Der Koch und die Klavierspielerin. 1. Auflage, 2000, unbekannter ostdeutscher Verlag. Erstlingswerk eines Deutschen. Geboren in Berlin. Ich begann zu lesen:

Eine kleindeutsche Stadt, ein Mehrparteienhaus, gepflegt, ein Vorgarten mit Rosenstöcken und einer kleinen Gartengarnitur. Wann bin ich eigentlich hergezogen?, fragte sich André, es war eigentlich sein Künstlername, getauft war er auf den Namen Andreas. Vor drei oder doch schon vier Jahren? Übernahme der Genussbar. Olaf, dem Vorbesitzer, ist die Frau davongelaufen und er hat alles hingeschmissen. Der Hauseigentümer war glücklich, so schnell einen Pächter gefunden zu haben. ١٥ Sitzplätze im Inneren, 5 an der Bar, 10 im Freien. Auch ein Glücksfall für André. Geöffnet Dienstag bis Samstag, nur abends. Eine Küchengehilfin und Paola, eine hübsche Italienerin, als umsichtige Servierkraft. Eine Vitrine mit kalten Vorspeisen, eine kleine Tageskarte, italienische Weine, deutsches Bier, Brot vom örtlichen Bäcker.

Es war dann an einem Samstagabend, die letzten Gäste waren gegangen. André saß diesmal auf der anderen Seite der Theke und bat Paola um ein Glas Bier.

Zufrieden?, fragte sie André.

Erschöpft, antwortete er ihr, aber er lachte dabei. Er müsse ihr aber gestehen, dass es ihm zunehmend schwerer falle, die täglichen Menüs zusammenzustellen. Ihm fehle die Kreativität der ersten Zeit. Es habe sich totgelaufen.

Paola warf ein, dass er monatelang keinen Urlaub genommen habe. Sie dachte dabei auch an sich, auch sie war ausgelaugt, die Beziehung mit ihrem George war vermutlich deswegen, auch deswegen, korrigierte sie sich, in Brüche gegangen. Insgeheim hoffte sie, dass sie André für ein paar Tage mitnehmen würde. Man kennt sich, vermeidet Anfangsfehler, die einer neuen Beziehung eigen sind, kein Probelaufen, man könnte gleich zur Sache kommen. Vielleicht würde daraus auch mehr.

Vielleicht hast du recht, antwortete er. Aber der Umsatzverlust, jetzt kämen die umsatzstärksten Wochen, bis Weihnachten müsse er durchhalten. Und was die fehlende Kreativität betreffe, würde er auf seine Kochbücher zurückgreifen.

Das sei nicht authentisch, warnte Paola, die Gäste würden das merken, ein- bis zweimal noch kommen und dann ausbleiben.

Aber er sei ausgebrannt, leer.

Drei, vier Tage London, Paris, Rom, Wien, vielleicht auch nur Triest oder Zürich mit dem Auto, mein Gott, jede Stadt biete doch genügend Spannung oder Entspannung und danach Inspiration.

André versprach darüber nachzudenken.

Paola ergriff seine Hand. Vielleicht fehlt dir auch nur eine große Portion Zuneigung?

Vielleicht, antwortete André.

Paola schenkte den Rest einer geöffneten Champagnerflasche in zwei Gläser. Morgen ist Sonntag, sagte sie, auch ihr fehle eine Portion Zuneigung.

André sah sie an, atmete tief durch, trank das Glas mit einem Zug aus und fragte Paola aus einer augenblicklichen Laune he­raus, worauf sie dann noch warte, und löschte das Licht im Lokal. Plötzlich war seine Müdigkeit verflogen, er drehte sich mehrmals beschwingt auf dem Gehsteig vor Paola und fing zu singen an. Er dachte kurz daran, dass seine letzte Beziehung vor mehr als einem halben Jahr von dieser Silvia beendet worden war.

Die Wohnung war klein, die Puppen auf der Vitrine fielen ihm auf. Paola, eben eine Frau, dachte er.

Als André am Morgen erwachte, hörte er Paola schon in ihrer Küche arbeiten. Er schloss die Augen und schlief wieder ein. Erst als sie laut „Bon giorno“ rief, schlug er wieder die Augen auf. Frühstück bei Paola, rief sie ihm zu und lachte. Frühstück bei Paola, wiederholte er und erinnerte sich dabei, dass sie noch, bevor sie im Bett landeten, Urlaubspläne gewälzt hatten. Der Bäcker habe Sonntag geschlossen, entschuldigte sie sich, aber Knäckebrot mit selbstgemachter Marmelade müsse doch nach so einer schönen Nacht auch genügen. Der Kaffee tat André gut. Wir machen uns einen schönen Tag, sagte er zu Paola, aufräumen könne er das Lokal auch am Abend. Er würde sich nur gerne umziehen und schlug einen Ausflug zum nahen See vor. Man kann dort ein Boot mieten, ergänzte er.

Paola strahlte und er versprach, sie um elf Uhr abzuholen.

Auf der Straße zündete André sich eine Zigarette an und freute sich auf die kommenden Stunden. Ein wenig hatte er sich in den letzten zwölf Stunden in Paola verliebt. Wie Paola gemeint hatte, dass ihm Zuneigung gefehlt habe. Und die Puppen fielen ihm wieder ein.

Aus dem Klein-LKW, der vor seinem Wohnhaus parkte, entluden vier kräftige Männer ein Klavier. Wer bekommt in unserem Haus ein Klavier? Ohne zu fragen, ging er an ihnen vorbei. Er duschte sich und zog sich passend für den geplanten Ausflug an. Im Stiegenhaus traf er wieder auf die Klavierträger. Gott sei Dank nur in den zweiten Stock, meinte einer der Männer, zur Japanerin.

Tatsächlich war vor einigen Tagen eine neue Mieterin eingezogen. Yukiko hatte er auf dem Briefkastenschild im Hausflur gelesen, den Nachnamen vergessen. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen bei ihr anzuläuten und sich vorzustellen, Neugier schwang dabei mit.

Obwohl es ein herrlicher Oktobertag war und sie nur wenigen Booten auf dem See begegneten, war André einerseits mit seinen Gedanken beim Menüplan für die kommenden Abende, andererseits ging ihm die neue, ihm unbekannte Mieterin nicht aus dem Sinn, er wiederholte still ihren Namen, Yukiko.

Du bist abwesend, sagte Paola.

Er entschuldigte sich. In den See springen und einfach untergehen, dachte er, dann ergriff er die beiden Ruder und trieb das Boot so kräftig an, dass sie fast kenterten.

Komm, lass mich, bat Paola und sie tauschten die Plätze, tranken dann noch einen Kaffee bei der Bootsanlegestelle und fuhren anschließend nach Hause. Die Arbeit rufe, damit verabschiedete er sich von Paola. Ja, er rufe sie morgen an. Ciao, rief sie ihm nach. Ciao, wiederholte er.

Statt ins Restaurant fuhr er nach Hause, Sonntagnachmittag könnte er sicher einen Besuch bei seiner neuen Nachbarin machen, dachte er und läutete an ihrer Wohnungstür. Eine hübsche, schwarzhaarige, mittelgroße junge Frau, er schätzte sie auf Anfang ٣٠, öffnete.

Bitte?, fragte sie mit einem ihn fast belustigenden Akzent.

André stellte sich als Mitbewohner des Hauses vor. Unter ihnen, sagte er und deutete dabei mit der Hand auf den Fußboden, First Floor, ergänzte er in der Annahme, sie würde englische Konversation bevorzugen.

Sie lächelte und bat ihn herein. Ob er Tee möge, fragte sie.

André bejahte.

Sind sie Musikerin?, fragte er, während sie ihm Tee in seine Tasse goss.

Ja, sie unterrichte an der örtlichen Musikschule, sie habe in Salzburg studiert. Sie liebe Mozart, ergänzte sie, wie alle Japaner.

Dann schwieg sie, sodass André die Initiative ergriff und das Gespräch fortsetzte. Er sei Koch, habe sein eigenes Restaurant, „Genussbar“, er nannte ihr die Adresse und die Öffnungszeiten, was er kurz darauf bedauerte, es musste für seine Gesprächspartnerin wie eine Einladung zu Besuch und Konsumation aussehen.

Sie komme aus Seto, das liege in der Nähe der Stadt Toyota, Vater und Bruder seien Keramiker, sie dagegen habe die Liebe zur Musik schon früh entdeckt.

Lieben Sie klassische Musik?, fragte sie André.

Er habe sich, gestand er ihr, damit nicht näher beschäftigt, aber Mozart kenne er natürlich. Dann dachte er nach und Ravel fiel ihm ein, und Gershwin, natürlich Beethoven und Tschaikowski. Und Salieri, den Gegenspieler von Mozart, erwähnte er und die Préludes von Debussy.

Seine Gesprächspartnerin applaudierte, setzte sich ans Klavier und spielte eine ihm bekannte Melodie. Ravel, sagte sie und blickte sich zu ihm um, ihre zarten Finger glitten über die Tasten.

André war von dieser ersten Begegnung stark beeindruckt, war es das Fremdländische? Wer hatte in der Stadt schon Kontakt mit einer Japanerin? Jetzt er, dachte er und sah es als Glücksfall. Noch nie hatte er auch nur wenige Worte mit einer Asiatin gewechselt. In Paris gesehen, neben einer Nationalchinesin im Flugzeug gesessen. Ja, natürlich in einem japanischen Restaurant gegessen, aber das kann man nicht mit dem, was er meinte, vergleichen. Spontan sprach er eine Einladung aus und schlug vor, am nächsten Tag, das Restaurant hatte ja Montag geschlossen, für sie zu Hause zu kochen. Da haben Sie es nicht weit nach Hause, sagte er.

Sie dachte kurz nach. Vormittag unterrichte sie, Nachmittag müsse sie sich auf ein Konzert vorbereiten, aber abends habe sie frei. 20 Uhr?

Er nickte. Kaum war er in seine Wohnung zurückgekehrt, nahm er Papier und Bleistift zur Hand und überlegte, was er kochen werde. Es fiel ihm nichts Passendes ein, was seinen Gast begeistern könnte. Dann hörte er plötzlich Klaviermusik. Seine japanische Nachbarin spielte die Préludes von Debussy, vielleicht für ihn?, fragte er sich. Und augenblicklich flog der Bleistift, geführt von seiner Hand, über das leere Papier. Rüben, Karotten, kleine Kartoffeln, Rindfleisch mit Hagebutten-Kürbis-Chutney, Birnen für eine Tarte, leichter Rosé. Ein Ende von Leere und Einfallslosigkeit, Unlust oder Müdigkeit.

Er bedauerte, dass die Klaviermusik abbrach, vielleicht nur eine Pause, hoffte er. Nach zehn Minuten war ihm klar, dass das Privatkonzert beendet war. Er war enttäuscht, der kurze Aufstieg hatte schon sein vorläufiges Ende gefunden.

Am nächsten Morgen war er früh im Lokal, es roch nach Speiseresten und abgestandenen Getränken, um neun kam seine bosnische Putzfrau, erstmals lächelte er sie an, was sie ihrem Gesichtsausdruck nach sichtlich irritierte.

Er eilte auf den kleinen Markt, besorgte die Zutaten für das abendliche Essen, trank wie immer im Marktcafé einen kleinen Espresso und fuhr anschließend nach Hause. Paola rief an und fragte, ob sie sich sehen würden, er war kurz angebunden, was ihm augenblicklich leid tat, nein, morgen, entschuldige, ich habe eine Menge zu tun.


Um vier Uhr Nachmittag begann pünktlich das Klavierspiel. Er legte sich auf die Couch und lauschte. Mozart?, fragte er sich und nahm sich dabei vor, sobald es seine Zeit zuließe, einige CDs mit klassischer Klaviermusik zu erstehen. Dann schlief er ein. In dem Augenblick, in dem die Musik endete, erwachte er, sah auf die Uhr, begab sich in die Küche und begann mit den Speisevorbereitungen.

Kurz vor acht Uhr zog er sich um und deckte den kleinen Tisch. Sein Gast kam pünktlich. Yukiko überreichte ihm ein kleines Geschenk, ein Konzertmitschnitt auf CD, sagte sie. Er bat sie ins Wohnzimmer, ließ sie für einige Minuten allein und kam mit einer größeren Keramikplatte, die er von einem Meister seiner Kunst vor einigen Wochen erstanden hatte, auf der sich nun das kunstvoll arrangierte Essen befand, zurück. Karotten und Rüben hatte er ähnlich einer Klaviertastatur angeordnet, auf dem Fleischstück lagen Blüten, die er noch kurz vorher aus dem Garten geholt hatte. Er entzündete den dreiflammigen Kerzenständer und lächelte. Nur die Musik fehlte, er hatte nicht gewagt, einen seiner Lieblingsinterpreten, Udo Jürgens oder Dean Martin, zu spielen.

Nach dem ersten Glas Wein bot ihm Yukiko, im Übrigen hieße das Schneekind, das Du-Wort an.

Für André waren die Erzählungen Yukikos eine Reise durch ein unbekanntes Land. Sie erzählte von ihrer Jugendzeit, von Religion und Tradition in der japanischen Familie, von ihrer Ankunft in Europa und von ihrer Liebe zur Musik, seitdem sie denken könne.

Und die Liebe?, fragte André.

Yukiko lächelte, Mozart sei ihre Liebe und Ravel. Natürlich habe sie sich schon einmal verliebt, in ihren Musiklehrer, aber diese Liebe sei nur platonisch gewesen.

Und dann fragte sie André: Und du?

Er sah sie an. Sollte er ihr jetzt schon gestehen, dass er sich in sie verliebt hatte? Er wich der Frage aus. Immer habe er so viel zu tun, auch nächste Woche, aber am nächsten Sonntag würde er sie gerne wiedersehen.

Yukiko dachte nach und sagte zu. Dann lobte sie das Abendessen und die Atmosphäre, stand plötzlich auf, sie verneigte sich und verließ André grußlos.

André konnte nach dieser Begegnung nicht einschlafen, Yukiko hatte ihn aufgewühlt. Er beschloss, sich sämtliche Bücher über Japan und die japanische Lebensweise zu besorgen. Ihm war klargeworden, dass er dieser Frau anders begegnen müsse. Sich nicht sogleich auf seine Beute stürzen durfte – eher wie ein Condor, der Vergleich gefiel ihm, der stundenlang ohne Flügelschlag kreisen kann.

Dienstagvormittag ging er wie üblich ins Lokal, gab seine Anweisungen. Chef, sagte die Hilfskraft, so fröhlich habe ich Sie noch nie gesehen.

Er lächelte und dachte dabei an Yukiko. Die Abendgäste lobten die Speisen, er habe sich wieder einmal ausgezeichnet, beschwingt ging er um Mitternacht nach Hause.

Der nächste Tag verlief routinemäßig, nachmittags um vier Uhr lag er auf der Couch, Papier und Bleistift in den Händen, und pünktlich begann das Klavierspiel. Zuerst lauschte er mit geschlossenen Augen und dann notierte er sich eine neue Speisenfolge. Noch nie hatte er davon gelesen, noch nie Ähnliches gekocht oder auch nur gekostet. Fisch mit roter Rübe und Petersilienöl, Artischockenherzen gefüllt mit Tomaten und Sojasauce, als Nachspeise hielt er fest: Feigeneis mit Marzipanflocken. Er sah vor seinem geistigen Auge die Speisen entstehen.

Am nächsten Vormittag setzte sich André ins Auto und fuhr alle ihm bekannten Produzenten der von ihm für das Abendmenü benötigten Lebensmittel ab. Schließlich erstand er in der Buch- und Musikalienhandlung einige Klavierkonzert-CDs, in der Gärtnerei einen Blumenstrauß, ja bunt, sagte er zur Verkäuferin, gab ihn zu Hause in eine Glasvase und stellte ihn vor Yukikos Tür.

Pünktlich um vier Uhr begann wieder das Klavierspiel, wie immer zuerst die Tonleiter. Dann einige Einzeltöne, als ob sie Yukiko zum Spiel riefen, wie eine Mutter, die mit ihren Kindern Fangen spielte, sie ausruhen ließ und sie dann wieder in alle Richtungen davonjagte. André konnte sich vorstellen, wie ihre Finger über die Tastatur glitten, sich ihr Kopf im Takt hin und her bewegte und sie leise mitsummte. Er notierte: Zitronenhuhn mit Salbeiblättern, Kürbis mit Honig-Senf-Dressing, gebeizter Lachs mit Fenchel- und Koriandersamen, getoastetes Weißbrot, Ziegenweichkäse und Quittengelee. Er sprang auf, riss die Arme in die Höhe und stieß ein kräftiges und allzu lautes JA heraus. Dann eilte er ins Restaurant, er hatte die Zeit wieder einmal übersehen, und bereitete das Abendmenü vor.

Paola kam wie immer um Punkt sechs, strahlte und küsste ihn auf die Wangen. George sei wieder zu ihr zurückgekehrt, darauf müsse sie mit ihm, André, ein Glas Prosecco trinken. Dabei sah sie auf die Speisentafel, die André täglich neu beschriftete. Fisch, Artischocken, Marzipan las sie. Chef!, rief sie aus, das gab es noch nie. Es werde jeden Abend kreativ zusammengestellte Speisen geben, sagte er, jeden Abend. Dabei dachte er an Yukiko.

Paola dachte, diese neue Kreativität sei auf sie und ihre Zuneigung, genau genommen auf diese eine stürmische Nacht, die sie mit André verbracht hatte, zurückzuführen. Wie sollte sie nun mit André und dem zu ihr zurückgekehrten George umgehen? Mit André schlafen, damit die zum Leben erwachte Kreativität nicht wieder in sich zusammenfällt?, dachte sie. Gut, für eine gewisse Zeit eine Ménage-à-trois eingehen. Doch bevor sie die eine oder andere gewagte Idee mit André besprechen konnte, hatte er sich bereits in die Küche zurückgezogen.

Um halb neun waren alle Plätze besetzt, Paola empfahl auf Andrés Rat einen französischen Roséwein. Nachdem die letzten Speisen aus der Küche getragen worden waren, band er sich eine saubere Schürze um und betrat den Gastraum. Applaus brandete auf, Gläser wurden auf ihn erhoben, er sei ein begnadeter Koch, morgen würden sie alle wiederkommen, versprachen sie. André dachte dabei an Yukiko und wie er auf Condorart seine Beute erlegen könnte.


Die letzten Gäste hatten das Lokal kurz vor Mitternacht verlassen, Paola noch eine CD von Ennio Morricone eingeschoben, dann setzte sie sich auf den Schoß von André, küsste ihn und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie jetzt lieber mit ihm nach Hause ginge als zu George. Seine Gedanken waren bei Yukiko, er eilte nach Hause.

In Yukikos Schlafzimmer brannte noch Licht. Ob sie Besuch hat?, fragte er sich. Bisher hatte er noch nie einen Besucher registriert. Seine spätnächtlichen Gedanken hatten etwas Besitzergreifendes, morgen würde er sie fragen.

Um 9 Uhr vormittags hörte er Geräusche im Stiegenhaus, er öffnete seine Wohnungstür, vor ihm stand Yukiko. Ob es ihn störe, wenn sie ausnahmsweise vormittags übe.

Nein, antwortete er, und wiederholte, nein. Aber er würde sie gerne auf einen Tee und an einem der kommenden Abende in sein Lokal einladen. Dabei sah er sie erstmals näher an. Sie hatte einen seidenen roten Hausanzug an und er bemerkte, dass sie barfuß vor ihm stand. Das mache sie zu Hause immer, erklärte sie, da sie seine erstaunten Blicke registriert hatte.

Tee nein, sagte sie dann, aber abends würde sie gerne kommen. Fast hätte André einen Freudenschrei ausgestoßen.

20 Uhr?, fragte er.

20 Uhr, antwortete sie.

Dann beschrieb er ihr den Weg. Wenig später lauschte er der Klaviermusik, die aus dem zweiten Stock kam. Die Musik kam ihm bekannt vor, mein Gott, rief er aus, warum bin ich so ungebildet? Dann dachte er an das Abendmenü. Er musste umdisponieren. Er hatte in einem Gastronomiefachmagazin gelesen, auf japanische Teller müsse Gemüse. Und während Yukiko spielte, fielen ihm ein: Okra, Ginkgo, Wasabi, Fushimi, Lotuswurzel, Satoimo-Knolle. Und da er selbst in der Großstadt, in die er augenblicklich aufbrach, Kobe-Beef nicht bekommen würde, dachte er an ein Filet vom Milchlamm. Und zum Abschluss ganz, ganz feine Pralinen. Er lachte. Heute Abend, sagte er immer wieder, heute Abend.

Schon am frühen Nachmittag war er alleine im Lokal, probierte alles, was er erstanden hatte, zuerst roh, dann gekocht, frittiert, mischte einmal Olivenöl, einmal Weißwein darunter, würzte mäßig und fand, dass sich dieses besser als Vorspeise, jenes als Hauptspeise eigne. Seine inzwischen eingetroffene Küchengehilfin sah ihn erstaunt an, die Zutaten kenne sie nicht, die würden die Gäste ablehnen, verschrecken, mein Gott sagte sie, was tun Sie?

Sie möge kosten, schlug er ihr vor.

Vorsichtig nahm sie eine Gabel und kostete von jeder Speise. Ganz wenig. Großartig, rief sie aus, grandios! Sie nehme ihre Kritik zurück. Er sei ein Zauberer. Aber sie habe jetzt ein Problem.

André sah sie an.

Das Problem sei: Kaum habe sie die Distanz zu seiner Kochkunst um einen Meter verkürzt, vergrößere sich der Abstand am nächsten Tag um zwei. Woher er seine Inspiration, sein Feuer nehme?

Zufall, sagte er und zerlegte das Wort in ZU- und FALL. Es sei ihm zugefallen.

Durch wen oder was?, fragte die Küchengehilfin.

Das bleibe zumindest vorerst sein Geheimnis.

Drogen!, rief sie.

Ja, antwortete André. Es sei eine Droge, die er täglich konsumiere.

Paola hatte die letzten Sätze des Gesprächs mitangehört. Sie glaube, und damit gab sie dem Gespräch neuen Schwung, sie glaube, er, André, genieße die Zuneigung einer Frau, die beflügle ihn.

André lachte, sah auf die Uhr und mahnte die weiteren Vorbereitungen ein. Einen Platz an der Theke möge man für einen ausländischen Gast, eine Japanerin, reservieren. Vielleicht werden in Zukunft sogar mehr asiatische Gäste in unsere Stadt kommen, sagte er.

Das Lokal füllte sich, André sah öfter als sonst auf die Uhr. Er hatte Paola gebeten, ihn beim Eintreffen der Japanerin zu rufen. Paola sah ihn an. Eine Japanerin, sagte sie leise und lächelte. Und dann sagte sie noch: Vielleicht eine Geisha.

Zehn Minuten nach acht Uhr betrat Yukiko das Lokal. Als ob André es geahnt hätte, stand er in diesem Augenblick in der geöffneten Schwingtüre, die Küche und Gastraum verband. Er begrüßte Yukiko, er freue sich, und führte sie zu ihrem Platz an der Theke. Sobald es seine Arbeit in der Küche erlaube, werde er ihr Gesellschaft leisten.

Yukiko bestellte bei Paola, die sie, so oft es ihre Arbeit zuließ, ansah, ein Glas Wein. Dann brachte ihr Paola den ersten Gang. Selbst Paola musste schlucken und den Duft der Speise kräftig einatmen. Sie sah André an und verdrehte die Augen. Nach zwanzig Minuten folgte die Hauptspeise. Das Milchkalb und ein buntes Gemüsepotpourri. Die Gäste kosteten, André kam aus der Küche, erläuterte Fleisch und Beilagen und wünschte guten Appetit.

Er habe sich wieder ausgezeichnet, riefen ihm einige Gäste zu. Sie glaubten nicht, dass es weitere Steigerungen gebe. Er winkte ab. Alles sei Zufall, dabei lachte er und setzte sich neben Yukiko.

Natürlich kenne sie die eine oder andere Beilage, aber was es ausmache, sei die Komposition.

Komposition, wiederholte er. Ja, die Komposition, dabei dachte er an Yukikos Klavierstunden.

Sie bitte ihn um einige Blätter Papier und um einen Stift, sagte Yukiko.

Ob sie die Speisen notieren wolle, fragte André, die Komposition?

Yukiko lächelte ihn an. Komposition sei richtig. Dann fing sie an, Noten zu schreiben, die kleine Welt um sie versank. Die anderen Gäste verabschiedeten sich nach und nach, auch Paola meinte mit einem Augenzwinkern, sie würde heute Abend nicht mehr gebraucht werden. Dann waren Yukiko und André allein. André zündete sich eine Zigarette an und beobachtete sie. Sie schrieb und summte, sah zur Zimmerdecke und auf das Blatt vor ihr. Wein, bat sie.

Eine Stunde nach Mitternacht hielt sie mehrere Blätter Papier in die Höhe. Sie habe das noch nie erlebt, sagte sie zu André. Beim Verzehr der Speisen habe sie plötzlich eine Melodie im Kopf gehabt, nicht nur eine Melodie, eigentlich ein ganzes Musikstück, das sei ihr wirklich noch nie passiert, es war wie ein Zwang, als ob jemand ihre Hand, den Bleistift führe. Sie würde sich zu Hause sofort ans Klavier setzen und ihre Arbeit fortsetzen.

André sah sie an. Er müsse ihr etwas gestehen, sagte er. Sobald er ihre Musik höre, ihrem täglichen Klavierspiel lausche, sehe er vor seinem geistigen Auge ihre Hände über das Klavier tanzen, dann greife er zu Papier und Bleistift und kreiere, ja man könnte ohne Weiteres auch sagen, dass er seine neuen Speisen, seine Zutaten komponiere. Er wage sich an neue Produkte, kombiniere viel gewagter als je zuvor und alles, was ihm unter dem Einfluss ihres Klavierspiels einfalle, gelinge fabelhaft, seine Küchengehilfin, eine äußerst begabte Schülerin im Übrigen, habe sogar gemeint, er koche neuerdings wie ein Zauberer.

Yukiko lachte. Dann sieht es ja so aus, als ob ich deine und du meine Muse wärst, sagte sie und küsste ihn.

André mahnte zum Aufbruch. Hand in Hand gingen sie nach Hause.

Vor seiner Wohnungstür sagte Yukiko: Zwei Musen wünschen sich eine Gute Nacht, gab ihm noch einen Kuss und lief die Treppen hoch. Diese Nacht sei der Musik gewidmet, dem Präludium, rief sie ihm zu.

Paola rief am nächsten Tag recht früh an. Und, fragte sie, neue Liebe, neues Glück?

André verneinte.

Schade, antwortete Paola, sie glaube, Yukiko stecke hinter seinen Speisen-Kompositionen, dann beendete sie das Gespräch.

André sah beim Fenster hinaus und beobachtete Tauben beim Turteln. Und dann fiel ihm das Wort Präludium ein. Vorspiel. Er war sich augenblicklich sicher, Yukiko habe dieses Wort nicht nur seiner musikalischen Bedeutung nach erwähnt. Er fühlte sich, als ob Tausende Glückstaler vom Himmel fielen.

André musste unbedingt wieder in die Großstadt, frische Feigen, Ziegenweichkäse, Oliven vom Griechen, auch wenn es verdammt spät für den Großmarkt war, Schalentiere sollten abends auf die Tische der Gäste, beim Sarden Wein, diesen herrlichen Vermentino.

Mit ihm, dem Weinhändler Leonardo, trank er einen Espresso. Bist du verliebt?, fragte er André.

André lächelte und nickte. Schwer, ergänzte er und bestellte für sich und Leonardo zwei Grappa. Sie beflügelt mich, sagte er, ich experimentiere, kreiere Neues, und alles gelingt.

Leonardo legte die Hand auf Andrés Schulter. Dann sagte er, er möge diese Frau das nächste Mal mitbringen, er würde auch gerne Flügel bekommen, dabei lachte er.

Mittags ruhte André sich ein wenig aus. Dann begann er mit den Vorbereitungen für den Abend. Pünktlich um vier Uhr begann die Muse-Stunde. Anders als man es sich nach dem Begriff vorstellt. Kaum hörte er, wie Yukiko die Tonleiter mit elfenhafter Leichtigkeit spielte, schon fielen ihm neue Speisen ein: Rosmarinrisotto, Spaghetti mit Zitrone, Knoblauch und Parmesan, Mark auf geröstetem Schwarzbrot, Gänseleber mit Birnen- und Quittengelee. Er nahm einen Schluck Pastis. Damit könnte man eine Fischsuppe verfeinern, auch mit Safran und Orangenzesten, schrieb er auf den Notizblock. In Schreibpausen lauschte er der Musik. Chopin! Und dabei fragte er sich, ob ihm irgendjemand glauben würde, erzählte er von dieser magischen Verbindung zwischen Yukikos Klavierspiel und seinen Kochkreationen.

Die Vorbestellungen nahmen zu, die Wartefristen für einen Tisch wurden immer länger. Paola fand seine Speisen himmlisch. Und leise flüsterte sie André ins Ohr: und sexuell äußerst anregend.

Tatsächlich?, fragte er.

Sie bejahte. George würde sich schon über ihre Aktivitäten, so nannte sie es, wundern.

Wenn das tatsächlich der Fall ist, sagte sich André, dann müsse er Yukiko öfter zum Abendessen einladen. Dabei musste er wieder laut lachen.

Samstagmittag, er kam gerade vom Markt, traf er Yukiko im Stiegenhaus. Er dachte sofort an eine Essenseinladung. Sie kam ihm aber zuvor. Morgen Nachmittag um vier, sie würde sich über sein Kommen sehr freuen.

Um vier, wiederholte André.

Obwohl er wegen der von Yukiko ausgesprochenen Einladung abends etwas unkonzentriert war, gelangen ihm im Großen und Ganzen wieder alle Gänge. Immer dachte er daran, wie er die Zeit bis vier Uhr totschlagen könnte.

Sonntag um acht Uhr zog er sich die Laufschuhe an und lief hinunter zum Fluss, unterwegs kaufte er noch zwei Tageszeitungen und trank zu Hause eine große Tasse Kaffee, immer wieder blickte er dabei auf die Uhr. Dann las er die Tageszeitung ein zweites Mal und schlief dabei ein. Er träumte von Yukiko. Komm, sagte sie, wir nehmen ein gemeinsames Bad, ein Ritual in Japan, bevor man das erste Mal miteinander schläft. Das Wasser war aber einmal siedend heiß, das andere mal eiskalt. Dann müsse er eben verzichten, sagte Yukiko im Traum. Er erwachte und dachte über den Traum nach. Die japanische Lebensweise war ihm tatsächlich fremd. Und er dachte nach: der japanische Kaiser heißt Akihito, die Währung ist der Yen, es gibt den Shintoismus und den Buddhismus, sie trinken Sake-Reiswein. Aber sonst? Er schämte sich, dass er nicht früher auf die Idee gekommen war, sich mit der japanischen Kultur auseinanderzusetzen. Die Kirschblüte fiel ihm ein und das eine oder andere Schriftzeichen und die japanische Keramik.

André sah auf die Uhr. Dreiviertel vier! Er entnahm seinem Weinregal eine Flasche Wein und ging nach oben.

Yukiko öffnete die Tür, sie stand im Kimono vor ihm. Willkommen zur Premiere, sagte sie.

André sah sie an und ihm fiel der Begriff Präludium ein.

Sie nahm zwei Gläser, schenkte den von André mitgebrachten Wein ein, setzte sich ans Klavier und begann zu spielen. Die Melodie war ihm von den Nachmittagsstunden schon bekannt. Hätte er nur Papier und Bleistift zur Hand, er müsste eine neue Speisenvariation notieren. Er zwang sich zum Zuhören.

Nach einer Weile beendete Yukiko das Spiel. Ob es ihm gefallen habe?

Er applaudierte verspätet.

Sie müsse ihm die näheren Umstände erklären. Beim Verzehr der Speisen in seinem Lokal habe sie spontan die Melodie, ja eigentlich das ganze Werk im Kopf gehabt. Es war eine besondere Inspiration, es war der Ausgangspunkt der künstlerischen Kreativität, die sie in dieser Form noch nie erlebt habe.

André sah sie an. Auch er müsse ihr gestehen, dass seine ganze Kreativität aus den Klavierstücken, die sie täglich spiele, resultiere.

Beide schwiegen.

Sind wir zwei Königskinder?, fragte Yukiko.

André konnte auf diese Frage keine Antwort geben, er verstand ihren Sinn nicht.

Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, sie konnten zusammen nicht kommen, dann stockte Yukiko, das stamme aus einer Ballade, ergänzte sie.

Warum sollten sie nicht zusammenkommen?, fragte André.

Yukiko schwieg, dann sagte sie, dass sie nach Hause zurückkehren müsse, Vater und Bruder würden sie vermissen.

Ich dich auch, sagte André, es war ein weiterer Vorstoß, ein gewagter, wie er meinte.

Yukiko lächelte. Es blieben ja noch einige Wochen, sagte sie und trank das Glas aus.

André sah sie an. Und dann folgt die Vertreibung aus dem Paradies, dachte er.

Stumm saßen sie dann da und tranken den restlichen Wein. Sie sei beschwipst, sagte Yukiko, sie habe den ganzen Tag nichts gegessen.

André bot an, ein kleines Abendessen zu kochen. Einzige Bedingung, sie müsse Klavier spielen.

Yukiko nickte und setzte sich augenblicklich ans Klavier.

André lief in seine Wohnung. Er lauschte und schrieb: Tomatensuppe! Vor dem Servieren in die Mitte des Tellers den Ziegenkäse geben, den er im Kühlschrank wusste, dann die Tomatensuppe und danach das geeiste Olivenöl, einen Spritzer Zitrone, eine Prise Thymianblätter, fertig! Danach die gestern erstandenen Feigen mit Joghurt und Salbeihonig auf Süßwaffeln. Er stieß einen Schrei aus, lief zurück zu Yukiko und versprach, dass er das Essen in einer Stunde servieren werde.

Dann aßen sie. Yukiko sah ihn fast verträumt an, so als sei sie abwesend. Sie erhob sich nach dem Essen, nahm ein Notenblatt und setzte sich ans Klavier. Sie komponierte.

Verzeih, sagte sie, aber ich kann nicht anders, die Speisen hätten sie so inspiriert.

André schenkt sich ein Glas Wein ein und rückte den Stuhl näher ans Klavier. Yukiko war entrückt, in der Parallelwelt der Künstlerin, zwischendurch nahm sie einen Schluck aus Andrés Weinglas, lächelte ihn an und setzte ihre Arbeit fort.

André war fasziniert. Er sah, wie der Kopf die Hände, die Hände die Klaviertasten, die Klaviertasten die Töne befehligten. Und er fiel vom Wach- in einen Traumzustand. Er saß in einem Konzertsaal in der ersten Reihe, Yukiko saß am Klavier, allein auf einer großen Bühne. Die Zuhörer applaudierten, sein Name wurde aufgerufen, er, André, wurde als Komponist begrüßt. Aber man habe von ihm noch nichts gehört, wie das sein könne.

André antwortete, er komponiere nur für seine Frau. Aber da stand kein Klavier mehr auf der Bühne und auch Yukiko war nicht mehr zu sehen. Im Traum rief er sie, immer und immer wieder.

André erwachte. Yukiko beugte sich über ihn und trocknete mit einem Taschentuch seine Stirn. Er möge sich beruhigen, sie sei doch nicht fortgegangen. Nein, sie habe das Stück vollendet. Ein kurzes Stück zwar, aber ein wunderbares. Und sie habe es „Für André“ betitelt. Denn ohne seine Speisen hätte es ihr an Inspiration gefehlt. Sie verglich es mit den großen Malern, mit Picasso, der, wenn er sich in eine neue Bindung begab, in seinem Schaffen beflügelt wurde.

Picasso, beflügelt, wiederholte er. Er befand sich halb im Traum- und halb im Wachzustand. Bedeutete dies nun, fragte er sich, dass sie sich in eine Bindung mit ihm einlasse? Deutete man eine Beziehung in Fernost in Vergleichen an, obwohl man im 20. Jahrhundert lebt? André versagte die Stimme, der Mut fehlte ihm, ihr sein Verlangen zu gestehen. Das Zarte, Fremdländische, Höfliche umgaben sie mit einem unsichtbaren Schutzschild. Er gab auf, erhob sich und verabschiedete sich. Einen Stock tiefer trank er zwei Gläser Kümmelschnaps und fluchte auf die Frauenwelt.

André widmete sich dem Alltag. Markt, Lokal, einige Telefonate, darunter eines mit Paola. Ob es ihm, André gut gehe?

Ja, warum fragst du?

Nachmittag um vier trank er Kaffee und wartete auf das Klavierspiel. Es blieb aus. Im Stiegenhaus hörte er Männerstimmen. Er sah nach. Sie trugen Yukikos Klavier hinunter. Er lief hinauf und da die Türe offen stand, rief er Yukikos Namen.

Die Dame sei schon abgereist, man habe den Auftrag, die Wohnung zu räumen.

Abgereist, wohin?

Nach Hause, habe sie erklärt, nach Japan.

Er stürzte in die Wohnung zurück. Taxi! Zum nächsten Flughafen. Überall Menschen, keine Yukiko. Sie war tatsächlich abgereist. Er fluchte, rief Paola an und teilte ihr mit, dass das Lokal heute geschlossen bleibe. Er fuhr nach Hause und betrank sich mit dem Rest des Kümmelschnapses.

Ein unbefriedigendes Ende, dachte ich, nachdem ich die letzte Zeile gelesen hatte. Ich klappte das Buch zu, dann las ich nochmals den Klappentext und das Kurzporträt des Autors. Wolf A. Dornhai. Wolf!, rief ich halblaut aus. Von ihm! Wie alt war sie damals, als sie das Buch bekommen hatte? 40? Jede Frau hat mit 40 eine Krise, die Worte sind mir noch immer in Erinnerung. Ha, eine Krise, ein Verhältnis, sechs Wochen an der Ostsee, diese Sommerakademie. Ach weißt du, die bringt viel Geld ein, bezahlter Urlaub sozusagen. Und du kommst nach. Vielleicht fahren wir noch ein paar Tage nach Dänemark, Jütland soll so schön sein.

Und dann kam alles ganz anders. Sie habe diese Arbeit mit den Studenten mehr als sonst angestrengt, sie würde lieber ein paar Tage allein drüben auf Rügen verbringen. Drüben auf Rügen! Mit diesem Wolf, das verschwieg sie natürlich. Danach merkwürdige Anrufe, Kollegen der Sommerakademie hieß es. Dann kamen regelmäßig Karten aus Berlin, aus Dresden, aus Prag, Geburtstags- und Weihnachtspakete. Und wenn ich früher schlafen ging, wurde Ravel gespielt.

Nun gut, dachte ich und legte das Büchlein wieder hinter eine Bücherreihe.

Sibylle oder Die Zugfahrt

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