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Charlotte

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Das Thema Charlottes Leben nach mir beschäftigte mich seit geraumer Zeit. Immer wieder kam ich darauf zurück.

Begonnen hatte alles mit der Visite beim Augenarzt. Hartmut. Während er mir eine Flüssigkeit ins Auge tropfte, sie sei harmlos, richtete er mir Grüße an die charmante Gattin aus. Wie es ihr gehe, wollte er wissen. Fragt er sie bei ihrer Untersuchung, wie es mir gehe? Wie oft ist eine Routinekontrolle eigentlich zu empfehlen? In meinem Alter, so seine Meinung, einmal jährlich. Charlotte klagte regelmäßig darüber, dass sie eine Augenentzündung habe, ein Flimmern bemerke, ihre Tränendrüsen verstopft seien, sie eine neue Lesebrille benötige, ein dringender Termin beim Augenarzt zu vereinbaren sei. Und während er mir das zweite Auge eintropfte, kam mir der Gedanke, ohne Vorwarnung, sozusagen aus heiterem Himmel, dass dieser Hartmut nach meinem Ableben seine Blicke – Augenblicke! Ich lachte über das Wortspiel – auf sie richten würde. Ich habe Ihnen ja schon öfter in die Augen gesehen – ich kann die Sätze dieser Hyäne förmlich von seinen Lippen ablesen. Selber Jahrgang wie ich, aber bereits zweimal geschieden, hatte er mir bei einem meiner Besuche erzählt. Beide Male habe ihn das ein Vermögen gekostet, er habe vielleicht den falschen Anwalt zur Seite gehabt.

Vertreten Sie auch Mandanten in Scheidungsangelegenheiten?, diese Frage stellte er mir, während er meinen Augenhintergrund begutachtete.

Ich verneinte.

Schade, sagte er, mit Ihren Augen, Ihren Sehnerven und der guten Durchblutung müssten Sie mehr sehen als Ihre Kollegen! Dabei lachte er.

Nur die Anwesenheit seiner Assistentin hinderte mich daran, seine Wortspiele fortzusetzen. War er denn blind bei der Wahl seiner Frauen?

Ich bedankte mich für seine Expertise, versprach, die Grüße ausrichten zu wollen, und verabschiedete mich. Kurzerhand hatte ich beschlossen, zu Fuß den Heimweg anzutreten. Dabei ließ mich das Thema Charlottes Leben nach mir nicht los, sodass ich öfter, als ich es sonst tat, Pausen einlegte, mich auf Randsteine und Bänke setzte und grübelte. Mein Ableben, die Zeit nach meinem Ableben, tat sich vor meinem geistigen Auge auf. Die Deutschstunde in der ersten Klasse Gymnasium fiel mir dabei ein. Vorzukunft. Wenn ich gestorben sein werde. Also dann: das Begräbnis. Laut Regieanweisung: Sargträger, die trauernde Witwe, die Schwester, die mir immer fremd war, die Freunde, die einem toten Indianer nur Gutes nachsagen. Nach-sagen, wiederholte ich, während ich in eine Seitengasse einbog. Was würde man mir nach-sagen? Ich lauschte, aber der starke Wind irritierte mich und verblies so die Grabreden. Dafür aber sah ich die Hyänen. Dietmar, der pensionierte Richter und Bergsteiger, Höhlenforscher und Hobbyarchäologe, den seine Frau schon vor Jahren verlassen hatte. Naturbursch durch und durch, das reine Gegenteil von mir. Würde ich Charlotte dann noch fragen können, würde sie mir antworten, dass sie eben auch anderes kennenlernen wollte. Wer immer im Restaurant isst, hat auch Lust auf ein Picknick mit Speckbrot und Schnaps. Vielleicht auch mehr? Rasch im Gebüsch? Ausleben, austoben, auslieben? Charlotte! Zutrauen würde ich es ihr. Soll sie darben? Ich beschloss, die letzten Sätze meiner Gedanken zu löschen.

Was war mit den anderen Männern? Olaf, der Apotheker, mit dem hatte sie etwas vor unserer Zeit. Der würde sich, trotz seiner Hüftoperation, jugendlich geben. Lust auf ein Tennismatch? Wenn nicht gleich, dann vielleicht später? Im Übrigen fahre ich auf ein Tenniscamp, da könntest du mitfahren, auf neue Gedanken kommen. Ja, auf Olaf-Gedanken! Nein, den würde sie nicht reaktivieren. Ich strich ihn von der Liste.

Und dieser Jugendfreund? Mir fiel der Name nicht ein. Der regelmäßige Briefschreiber, Briefe ohne Absender, aber mit schwungvoller Anschrift. Ich lachte. Immer würde er Grüße aus Arkadien senden. Arkadien. Ich nahm mir vor, im Lexikon nachzusehen.

Charlotte musste mich in den letzten Minuten vom Gartentor aus beobachtet haben. Worüber ich nachgedacht und gelacht habe, wollte sie wissen.

An den Mann, den du nach mir nehmen würdest, antwortete ich.

Sie bleibe allein, sie würde sich das nicht wieder antun, außerdem sei ich unersetzbar. Aber es schien mir, dass sie in den Sprechpausen bereits nach einem männlichen Wesen Ausschau hielt. Ich ermunterte Charlotte, mir den einen oder anderen Namen zu nennen.

Dumm wäre ich, sagte sie. Aber der Stachel saß.

Charlotte lenkte dann das Gespräch, wir hatten inzwischen auf der Gartenbank Platz genommen, in eine andere Richtung. Nach dem Motto, dass Angriff immer die beste Verteidigung ist. Und du?, fragte sie, wen würdest du nach mir nehmen? Dabei nannte sie auch gleich einige Frauen, deren Nähe sie ungern ertrug. Ich wurde auch gleich auf deren Fehler aufmerksam gemacht. Mich wunderte, dass Frauen so spontan zu Qualifikationen greifen können. Sozusagen auf Abruf. So, als habe man darüber bereits des Öfteren nachgedacht.

Ich schüttelte den Kopf. Du bist auf der falschen Fährte. Lee Miller, die Fotoreporterin, leider verstorben, oder Audrey Hepburn, Anouk Aimée – sie blieb mir seit ihrer Rolle in Ein Mann und eine Frau – unvergessen, diese blonde Sprecherin bei Arte. Charlotte warf mit einer Zigarettenschachtel nach mir. Ich würde sie bewusst missverstehen.

Meine Ex-Frau schloss ich kategorisch aus, obwohl Charlotte sie mir ans Herz legte. Dann erwähnte sie Anna-Maria, deine Steuerberaterin, 50, ledig, etwas hantig, ergänzte sie und lachte dabei. Lädt sie dich nicht ständig in ihren Reitstall ein? Mit ihr könntest du, wie ein jugendlicher Liebhaber, im gestreckten Galopp über herbstliche Stoppelfelder jagen. Mit mir ginge das nicht, ergänzte sie. Charlotte lehnte den Pferdesport ab, da sie sich die Angst vor diesen großen Tieren eingestand. Und Elli, deine Jugendliebe! Dabei zündete sich Charlotte genussvoll eine Zigarette an. Nichtraucherin, Nichttrinkerin, Esoterikerin. Sie lachte laut. Die Zigarettenschachtel flog zurück. Von Nico, eigentlich hieß sie Nicole, aber sie wollte so gerufen werden, war Gott sei Dank nicht die Rede. Ein heikles Thema für Charlotte. Nico, die Musikliebhaberin. Zugegeben eine hübsche Frau. Ein Abend mit ihr ist nur anfangs angenehm. Solange sie Debussy, Gounod und Berlioz vorspielte. Wenn sie aber anfing, Wagner-Opern zu erklären und man sie dabei nicht unterbrechen durfte, wurde es anstrengend.

Danach vergingen einige Wochen, das Nachfolge-Thema wurde nicht mehr besprochen, insgeheim aber schien mir, dass die Büchse der Pandora geöffnet worden war. Dazu gehörte die mir eines abends gestellte Frage, ob ich denn – nur für den Fall des Falles – alles geregelt habe.

Und du?, fragte ich.

Ja, sie wisse, auch sie müsse Diverses regeln.

Ihre Mahnung nahm ich ernst, ergriff Papier und Füllfeder – Testamente kann man nicht mit einem Reklamekugelschreiber verfassen – und blieb lange vor dem leeren Blatt untätig. Ich vernahm Glockengeläut, das Geräusch von Schritten auf Kieswegen, leises Gemurmel einer Menschenmenge, Ansprachen, wohlgemeinte letzte Worte. Und ich sah die Freier herumstehen. Wie im Palast zu Ithaka, dachte ich, Werber um die Hand der Penelope. Schufte. Und ich schwor mir, mit allen zu brechen, die ich gesehen hatte.

Wie würde eigentlich Elvira reagieren, ließe ich mich auf eine neue Beziehung ein? Papa, noch eine Stiefmutter? Mach das bitte nicht. Denke an dein Alter.

Sie würde mein Alter ins Spiel bringen. 58. Ich würde ihr antworten, mich wie 50 zu fühlen. Würde sie Urlaubsreisen mit mir unternehmen? Gerne, aber Freddy könne sie doch nicht eine Woche allein lassen. Ihren Langzeitfreund. Und Langzeitstudent. Fragen habe ich mir in diesem Zusammenhang abgewöhnt.

Eine Woche später kam Charlotte von einem Opernbesuch kurz vor Mitternacht nach Hause. Man sei noch im Operncafé gewesen. Die Aufführung habe alle aufgewühlt. Sie würde mit mir gerne noch ein Glas Wein trinken. Ich ließ Hitchcock Hitchcock sein und brachte Charlotte ein Glas Wein. Mit wem warst du eigentlich in der Oper?

Mit Eva, ihrem Mann und einem Bekannten. Du hast ja keine Lust, Samstagabend in die Oper zu gehen. Mit einem Bekannten. Noch einer dieser Freier, dachte ich.

Man habe unter anderem über Orpheus und Eurydike gesprochen, Kreneks Oper. Würdest du – wenn wir schon davon sprechen – es auch wagen, mich aus der Unterwelt zurückzuholen? Mit all den Gefahren?

Mir fielen Charon, der Fährmann, der keinen Lebenden in seinem Kahn übersetzen darf, die Styx, der Höllenhund Kerberos und der unendlich lange Abstieg ins Schattenreich ein.

Natürlich, antwortete ich, aber ich sei kein Orpheus und besitze keine göttliche Leier, um Hades gütig zu stimmen.

Ausflüchte, also ein Nein. Charlotte bat um ein zweites Glas Wein. Sie habe Lust, selbst zur späten Stunde, noch einmal Scrabble zu spielen. Um es mir zu erleichtern, schlug sie vor, dass auch Namen aus der griechischen Mythologie erlaubt seien. Mit IO, ION, HYDRA, NIOBE, GORGO, IDA und GAIA hatte ich nach Langem wieder einmal gesiegt.

Ich schlief dennoch schlecht und träumte vom Schattenreich. Hades saß neben seiner Gemahlin Persephone und gestattete mir, Charlotte aus seinem Schattenreich zu entführen. Unter einer Bedingung. Ich müsste die ersten zehn Stellen von Pi hinter dem Komma nennen. In der Ferne sah ich Archimedes, der mir helfen wollte, seine Stimme drang aber nicht bis zu mir vor.

Schade, sagte Hades, du bist an der Aufgabe gescheitert. Da mischte sich Persephone ein. Sie würde an Charlottes Stelle gerne wieder einmal unter Menschen weilen. Als ich näher hinsah, hatte Persephone die Gestalt von Charlotte angenommen. Noch ehe Hades antworten konnte, entflohen wir dem Schattenreich.

Beim Morgenkaffee erzählte ich Charlotte meinen Traum.

Sie sei froh, dem Schattenreich entkommen zu sein, sagte sie. Und ich war mir nicht sicher, wer mir geantwortet hatte.

Sibylle oder Die Zugfahrt

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