Читать книгу Der Mann, der die Mauer öffnete - Gerhard Haase-Hindenberg - Страница 4
Eine Vorbemerkung
ОглавлениеMehrfach war mir der Name des einstigen Oberstleutnants Harald Jäger im Zusammenhang mit den Ereignissen des 9. November 1989 begegnet. In einer Fernsehdokumentation und im SPIEGEL und auch in der Buchdokumentation „Mein 9. November“ des Historikers Hans-Hermann Hertle und der Journalistin Kathrin Elsner. Aber überall, wo dieser ehemalige Staatssicherheits-Offizier befragt worden ist, war man lediglich am Verlauf jener Nacht interessiert und nicht an dessen Motiv für die folgenreiche Befehlsverweigerung. Dabei lehrt doch die Geschichte, dass deutsche Offiziere niemals aus einer spontanen Laune heraus Befehle verweigern. Vielmehr ging dem immer ein oft lange währender innerer Prozess voraus.
Dies war bei dem Generalstabsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seinen militärischen Mitverschwörern am 20. Juli 1944 ebenso der Fall, wie bei dem preußischen General Johann Friedrich Adolf von der Marwitz. Der hatte sich fast 200 Jahre zuvor geweigert, den Befehl Friedrich II. auszuführen, das sächsische Schloss Hubertusburg zu plündern. Noch heute ist auf seinem Grabstein zu lesen: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“
Hatte also auch jener Befehlsverweigerer des 9. November 1989 eine solch stille Vorgeschichte von Zweifeln und inneren Kämpfen? Immerhin hätte er sich in jener Nacht angesichts der heranströmenden Massen auch ganz anders entscheiden können. Nur wenige Kilometer südlich von seiner Grenzübergangsstelle an der Bornholmer Straße, am Übergang Invalidenstraße, hat der diensthabende Offizier zeitweilig eine gänzlich andere Problemlösung ins Auge gefasst. Nämlich, die Offiziersschüler der Grenztruppen als militärischen Trumpf einzusetzen. Sie hatten am 40. Jahrestag der DDR an der Parade teilgenommen und waren danach wegen der angespannten Lage nicht in ihre Kasernen im sächsischen Plauen zurückgeschickt worden. Diese Entscheidung hätte in der Folge nicht zwingend zu einem Blutvergießen führen müssen. Dennoch wird der damalige DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz fünf Jahre später davon sprechen, dass sein Land in jener Nacht „am Rande eines Bürgerkriegs“ gestanden habe. Angesichts dieser Situation hielt Harald Jäger ein Beharren auf den Befehl, die „Staatsgrenze zuverlässig zu schützen“ durch das Ministerium für Staatssicherheit, für weltfremd. Wie so viele Entscheidungen der politischen Führung in den vergangenen Monaten und Jahren. Das also war sie, die von mir vermutete mentale Vorgeschichte, die ich schon bei den ersten Begegnungen mit dem einstigen Oberstleutnant bestätigt fand. In unseren monatelangen Gesprächen entblätterte er mir gegenüber aber auch eine außergewöhnliche und zeitweilig höchst widerspruchsvolle Lebensgeschichte, die zudem erklärt, warum Harald Jäger das geworden ist, was er am 9. November war. Aus beidem zusammen ergibt sich konsequenterweise, weshalb er in jener Nacht den Befehl seiner Vorgesetzten, „die Grenze weiterhin zuverlässig zu schützen“, verweigerte und damit schließlich Weltgeschichte schrieb.
Gerhard Haase-Hindenberg