Читать книгу Der Mann, der die Mauer öffnete - Gerhard Haase-Hindenberg - Страница 6

Sonnabend, 30. September 1989

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Um 18.58 Uhr tritt der westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon seiner Botschaft in Prag. Im Garten und auf den Fluren warten fast 4.000 DDR-Bürger, die in den letzten Wochen über den Zaun des Botschaftsgeländes gestiegen sind und hier ausgeharrt haben, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Als Genscher ihnen mitteilt, dass die DDR-Regierung diesem Wunsche endlich statt gegeben hat, bricht unbeschreiblicher Jubel aus.

Beleuchtete Fenster in fünfstöckigen Mietshäusern zeugen davon, dass auch dort drüben Leben stattfindet. Die Scheinwerfer eines Streifenwagens, der vor dem Polizeiposten jenseits der Grenzbrücke umherkurvt, streift deren im Dunkel liegendes gewaltiges Stahlgerüst. Oberstleutnant Harald Jäger blickt hinüber zu jener anderen Welt, die für ihn von jeher die des Gegners ist. Feindesland. In den Häusern dort aber lebt nicht der Gegner. Nicht die Bourgeoisie jedenfalls, sondern eher Klassenbrüder, in jenem Stadtbezirk auf der anderen Seite der Brücke, der Wedding heißt. Das weiß er. Früher war das einmal der „Rote Wedding“, wie er es aus dem alten Arbeiterlied kennt, welches man ihm in der Volksschule im sächsischen Bautzen beigebracht hatte. „Roter Wedding, grüßt euch Genossen / haltet die Fäuste bereit / haltet die roten Reihen geschlossen / dann ist der Tag nicht mehr weit …“ Unter ihm donnert die S-Bahn entlang. In den hell beleuchteten Waggons sind die gleichgültigen Gesichter der Passagiere zu erkennen, während sie auf der Grenzlinie zweier Weltsysteme entlang gleiten. Nur wenige Meter entfernt, doch auch sie in jener für ihn unerreichbaren feindlichen Welt.

Der Oberstleutnant war zum Postenhäuschen „Vorkontrolle: Einreise“ herauf gekommen, weil er sicher war, dass der junge Oberleutnant, der hier heute Nacht seinen Dienst versieht, mit ihm würde sprechen wollen. Immer wieder in den letzten Monaten hatte der junge Mann das Gespräch gesucht, mit dem erfahrenen Offizier, der drei Dienstränge über ihm steht. Er hatte Fragen – kritische Fragen, manchmal auch provokante Fragen, gelegentlich sogar Zweifel. Ob sich das sozialistische Wirtschaftssystem auf lange Sicht tatsächlich als leistungsstärker erweisen würde, als das kapitalistische. Schließlich sehe es doch im Moment überhaupt nicht danach aus. Oder warum die westlichen Besucher vielfach einen selbstbewussteren Eindruck machen würden, als die meisten Bürger der DDR. Im Straßenbild der Hauptstadt könne er sie leicht voneinander unterscheiden, an der Art sich umzublicken, an Körperhaltungen und Gesten.

Harald Jäger verstand den jungen Offizier gut. Es waren vielfach die gleichen Fragen und Beobachtungen, die auch ihn beschäftigten. Vielleicht spürte der junge Genosse die geistige Verwandtschaft, auch wenn es der Oberstleutnant sorgsam vermied, ihn in seinem Zweifel zu bestärken. Vielleicht genügte es dem Untergebenen, dass er in dem Vorgesetzten jemanden hatte, der ihn wegen seiner Fragen nicht gleich zum Außenseiter stempelt. Wie die meisten anderen Kollegen hier. Vielleicht gefiel ihm auch, dass der ihn nicht mit parteikonformen Phrasen abspeiste. Wenngleich ihn dessen Antworten kaum befriedigen konnten. Harald Jäger wusste, dass er einen argumentativen Seiltanz vollführte. Wenn er erklärte, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung immerhin einen Erfahrungsvorsprung von mehr als zweihundert Jahren habe. Als ob dies die Frage nach der perspektivischen Überlegenheit beantworten würde. Oder, dass man bei den westlichen Besuchern ja nur deren Fassade sehe, hinter die man nicht blicken könne. Obgleich er doch genau dies seit einem Vierteljahrhundert regelmäßig und nicht ohne Erfolg tut. Dort hinten in der niedrigen Baracke, mittels jener unverfänglich wirkenden Befragungstechnik, die im Fachjargon „Abschöpfen“ heißt.

Der junge Mann neben ihm bleibt heute stumm. Dabei gäbe es gerade an diesem Abend einiges, worüber es sich zu sprechen lohnte. Ab heute nämlich, so glaubt Harald Jäger, würde vieles nicht mehr so sein wie vorher. Der Staat hatte sich erpressen lassen, hatte klein beigegeben vor ein paar tausend Leuten. Immer wieder drängen die Bilder aus der heutigen „Tagesschau“ vor sein geistiges Auge. Das vom westdeutschen Außenminister auf dem Balkon der BRD-Botschaft in Prag. Wie er mit heiserer Stimme und unverkennbaren Hallenser Dialekt verkündet, dass es den Besetzern erlaubt sein würde, in den Westen auszureisen. Die der Botschaftsflüchtlinge, wie sie sich jubelnd und weinend in die Arme fallen. Und er hört wieder und wieder die Stimme seiner Frau, die neben ihm kaum hörbar „Wirtschaftsflüchtlinge“ murmelt. Einer Souffleuse gleich, nur dieses eine Wort. Als ob es so einfach wäre. Wer setzt schon für ein paar amerikanische Jeans oder den Traum von einem schnellen Auto die eigene soziale Sicherheit aufs Spiel? Und die seiner Kinder? Da müssen noch andere Gründe eine Rolle spielen. Aber welche? Der Oberstleutnant ist froh, dass ihn der Oberleutnant diesmal nicht danach fragt.

Der Film „Zu jeder Stunde“, den Harald Jäger im Frühjahr 1960 im Bautzener Central-Kino sieht, wird für den siebzehnjährigen Ofensetzerlehrling zu einer Art Erweckungserlebnis. Die Geschichte einer Grenzpolizeieinheit an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern, war von der DEFA als die einer gut ausgebildeten, bewussten Truppe an der Nahtstelle „zwischen Arbeitermacht und Klassenfeind“ propagandistisch in Szene gesetzt worden. Es ist nicht die erste Begegnung des Jugendlichen mit der Existenz der Grenzpolizei. Schließlich hatte sich sein Vater schon ein Jahrzehnt zuvor für drei Jahre zum Grenzdienst verpflichtet. Nicht ganz freiwillig – in einem Kriegsgefangenenlager östlich des Ural. Vier Jahre nach dem Ende des Krieges. Der kleine Harald war stolz auf dessen Uniform, nachdem er sich erst einmal erschrocken von dem fremden Mann abgewandt hatte, der dürr und abgerissen aus der Weite Sibiriens in die Bautzener Arbeitersiedlung Herrenteich zurückgekehrt war. Und in seiner Schule war ein Waldemar Estel zum Helden hochstilisiert worden.

Die „Heldentat“ des Waldemar Estel hatte darin bestanden, einen todbringenden Fehler zu begehen. Am 3. September 1956 hatte der dreiundzwanzigjährige Grenzpolizist einen Mann festgenommen, der vom Westen aus ins Grenzgebiet eingedrungen war, ohne diesen nach Waffen zu durchsuchen. Das aber war den Bautzener Volksschülern nicht erzählt worden. Harald Jäger wird diesen Hintergrund erst erfahren, wenn es die Grenze, die Waldemar Estel hatte schützen wollen, nicht mehr geben wird.

Letztlich aber seien es Oberleutnant Hermann Höhne und seine Truppe in jenem DEFA-Streifen gewesen, die ihn veranlasst hätten, sich nach Abschluss der Lehre freiwillig zum dreijährigen Grenzpolizeidienst zu melden. So jedenfalls wird er es später seinen Kindern erzählen.

Abend für Abend stellt sie sich ein – diese von ihm als angenehm empfundene Zwischenzeit. Jene fast feierabendliche Ruhe vor dem nächtlichen Sturm. Wenn nur noch einem beschränkten Personenkreis Einlass gewährt wird und die ersten Tagestouristen bereits die Heimreise antreten. Auf halbem Wege zwischen der Vorkontrolle/Einreise und seinem Büro dort unten in der Dienstbaracke bleibt Oberstleutnant Jäger stehen und lässt diese Stimmung auf sich wirken. Vor sich das riesige Areal der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße. Aus dieser Entfernung wirken seine Passkontrolleure selbst dann wie militärisch agierende Marionetten, wenn sie nur wartend herumstehen. Er bekommt eine Ahnung davon, wie diese ihm so vertrauten Menschen auf die Einreisenden aus jener anderen Welt wirken müssen, die dort hinten jenseits der Brücke liegt. In aller Regel dauert das Zusammentreffen nur einen kurzen Augenblick, selten mehr als einige Minuten. Doch wird es von den Beteiligten aus völlig unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen. Sogar aus gegensätzlichen. Der Reisende, der den Grenzübertritt möglichst schnell hinter sich bringen will, trifft auf den Uniformträger, der eine ganze Reihe von dienstlichen Anweisungen zu beachten hat. Eine antagonistische Begegnung, welche die Fremdheit zwischen den Beteiligten eher noch fördert. Dies erklärt auch, weshalb die Einreisenden sich dann oft auskunftsbereit zeigen, wenn sie ein freundlicher Oberstleutnant scheinbar zufällig in ein Gespräch verwickelt. Sie wissen nicht, dass man nur deshalb an ihren Personaldokumenten „eine Unregelmäßigkeit überprüfen“ muss, weil ihr Wohnort in der Nähe eines amerikanischen Raketenstandorts liegt. Oder in der einer bedeutenden Waffenschmiede. Weil sie zufällig den Gehaltsstreifen einer Behörde bei sich tragen. Oder auffallend viele Einreisestempel der USA im Pass haben. Sie ahnen sicher auch nicht, dass in dem gemütlich eingerichteten Büro, in welches sie der Offizier beiläufig bittet, die scheinbar private Unterhaltung aufgezeichnet wird. Würden sie sonst so freimütig erzählen, von Problemen am Arbeitsplatz bis zum letzten Geschlechtsverkehr? Aber auch über Dinge, die vielleicht den noch fehlenden kleinen Stein in einem großen Puzzle bedeuten. Im Nebenraum sind die Ergebnisse dieser Gespräche auf unzähligen Karteikarten festgehalten, deren Existenz selbst nach den Gesetzen der DDR illegal ist – stets zur Verfügung der landesweit operativ tätigen Mitarbeiter. Manch ein Besucher aus Heilbronn oder der Ingolstädter Gegend wurde so unfreiwillig und ahnungslos zum Informanten des Staatssicherheitsdienstes.

In einer halben Stunde wird, zaghaft zunächst noch, der Rückreiseverkehr beginnen, der sich dann bis Mitternacht deutlich steigern wird. Bis dahin nämlich müssen die BRD-Bürger, die hier Stunden zuvor in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik eingereist sind, diese genau hier auch wieder verlassen. Und weil die DDR mit Hinweis auf „Geist und Buchstaben des Vierseitigen Abkommens“ einen völkerrechtlichen Unterschied zwischen BRD-Bürgern und denen aus Berlin-West macht, dürfen sich letztere mit der Heimreise zwei Stunden länger Zeit lassen. In jedem Fall aber werden unter den Rückreisenden auch heute wieder „alte Bekannte“ des Harald Jäger sein. Bürger deren Namen man bei der Einreise in der Fahndungskartei gefunden hat. Nicht jeder der dort registriert ist, muss zurückgewiesen und kaum einer gar festgenommen werden. Oftmals genügt es, zum Telefonhörer zu greifen und die Genossen von der VIII zu informieren. Diese Zivilkräfte übernehmen dann jene Aufgabe, wofür die „Hauptabteilung VIII“ beim Minister für Staatssicherheit nun einmal verantwortlich ist: Observation und Ermittlung. Diese fürsorgliche „Rundum-Betreuung“ endet, wenn das „Beobachtungsobjekt“ schließlich wieder an den Grenzübergang zurückkehrt. Dorthin, wo es irgendwann im Laufe des Tages eingereist war. Vorausgesetzt, es hat in den Stunden dazwischen nicht gegen die Gesetze der DDR verstoßen.

Es hatte einige Sekunden gedauert, ehe der achtzehnjährige Grenzpolizist Harald Jäger die Situation erfassen konnte. Ein lang gestreckter Sirenenton, zwei Sekunden, ebenso lange Pause, dann von vorn. Es war eindeutig das Signal für den Gefechtsalarm, welches ihn und seine Stubenkameraden aus dem Tiefschlaf gerissen hat. Nicht das für den Grenzalarm, der in den Wochen zuvor wieder und wieder als Übung angesetzt worden war. Kurz darauf hallten auch schon die Trillerpfeifen der Unteroffiziere durch die Flure. Dann deren Ruf: „Gefechtsalarm“.

Fast gleichzeitig sprangen die jungen Burschen aus dem Bett, keiner von ihnen älter als zwanzig Jahre. Mechanisch schlüpften sie in ihre Uniformen, griffen zu Stahlhelm und Truppenschutzmaske, ehe sie die Treppe zur Waffenkammer hinunterstürzten, um Maschinenpistole oder Karabiner in Empfang zu nehmen. Das alles hatten sie zuletzt im Frühjahr geübt, während der Grundausbildung. Danach hatte man ihnen gesagt, dass der Gefechtsalarm künftig den Soldaten der NVA vorbehalten bleiben würde – außer im Ernstfall!

Kaum zehn Minuten nach Auslösen des Gefechtsalarms war Harald Jäger Teil einer formierten Hundertschaft auf einem Kasernenhof in Schildow. Hier an der nördlichen Berliner Stadtgrenze war man vom Ost-Berliner Stadtbezirk Pankow ebenso weit entfernt, wie von Frohnau, welches bereits auf West-Berliner Gebiet lag. Wo würden sie wohl eingesetzt werden? Und was würde ihre Aufgabe sein? Das war die Frage, die in jenen Minuten sicher alle hier versammelten Grenzpolizisten beschäftigte. Während vor ihnen der Kompaniechef brüllte: „Genossen, die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos!“ Natürlich war sie das nicht, hatte man doch die Geschichte auf seiner Seite – war mit einer „historischen Mission“ betraut. Das wusste Harald Jäger nicht erst seit es ihm während der Grundausbildung in zahlreichen politisch-ideologischen Schulungen von jenem Polit-Offizier wieder und wieder erklärt worden war, den alle Rekruten liebevoll „Papa“ nannten. Auch sein eigener Vater hatte ihm mit den einfachen Worten eines Schmieds erklärt, dass die Geschichte nach den Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes verlaufe. So wie einst die wirtschaftlich aufstrebende Bourgeoisie die politische Macht des Feudaladels gebrochen habe, so würde sich nun die revolutionäre Arbeiterschaft jener Kapitalistenklasse entgegenstellen, die ja gerade erst im Faschismus ihr wahres Gesicht gezeigt habe. Schon früh war Harald Jäger gleichermaßen davon überzeugt, in einer wahrhaft großen geschichtlichen Epoche zu leben, als auch begeistert, daran mitwirken zu dürfen.

Dabei war sein Vater keineswegs als Kommunist aus dem sowjetischen Kriegsgefangenlager zurückgekehrt. Die Wandlung war am 17. Juni 1953 passiert. Ausgerechnet die aufständischen Berliner Bauarbeiter hatten das bewirkt. Die westlichen Radio-Moderatoren auch. Diese würden lautstark die Freiheit preisen, hatte der Vater damals gesagt, und über die Verbrecher in den höchsten Stellen ihres eigenen Staates schweigen. Über jene Leute, die ihn noch im Mai 1945 an den Endsieg hätten glauben lassen – bis er zwei Tage nach der Kapitulation mit scharfen Waffen in der Tschechoslowakei aufgegriffen worden war. Danach war er an einen Ort gekommen, den zu erreichen sich nicht einmal sein einstiger Führer hatte träumen lassen. Zweitausend Kilometer östlich von Moskau.

Als die Arbeiter in Berlin gegen die Volkspolizisten vorgingen, sie verprügelten und vereinzelt sogar totschlugen, hatte sich der Vater demonstrativ mit der bedrohten Regierung solidarisch erklärt. Fortan wurde der Sohn von den Kindern in der Siedlung als Kommunistenbengel beschimpft. Selbst von seinen bis dahin besten Freunden. Er hätte hadern können mit dem Mann, der ihn in diese Lage gebracht hat, hätte sich gegenüber den Gleichaltrigen distanzieren können vom Vater, der plötzlich ganz anders redete. Aber er wollte stolz sein auf ihn. Was war schon falsch an dem, was er sagte? Warum sollte man nicht gegen den Krieg sein? War es denn nicht richtig, dass die Fabrikbesitzer an diesem Krieg viel Geld verdienten und man ihnen deshalb die Fabriken wegnahm? Das Waggonwerk zum Beispiel, das einst dem Flick-Konzern einverleibt worden war, im gleichen Jahr, als der Angriff auf die Sowjetunion erfolgte. Hier arbeitete der Vater nun wieder als Schmied, nachdem er die Uniform des Grenzpolizisten ausgezogen hatte. An Stalins Todestag hat der Vater ihm erzählt, wie es einst dazu gekommen war. Als sie gegenüber vom Stalin-Denkmal vor dem Haus der Kreisleitung der Partei standen, wo junge Männer mit Luftgewehren die Trauerwache hielten. Man habe ihm im Lager jenseits des Ural die Freilassung angeboten, wenn er sich bereit erkläre, in der Heimat Dienst bei der Grenzpolizei zu tun. Als er zurück war, habe er Wort gehalten.

Der Vater hat noch einiges erzählt an diesem Tag. Vom Obdachlosenheim, das früher in der alten Kaserne war, und dass die Mutter dort die Kindheit habe verleben müssen. Als gesellschaftliche Außenseiterin. In der Schule hätten viele nichts mit ihr zu tun haben wollen. Dann aber hätten die Nazis die Kaserne für ihre Soldaten gebraucht und deshalb die Siedlung „Herrenteich“ gebaut, in der sie ja noch immer wohnten. Für 6000 Reichsmark habe man das kleine Häuschen erwerben können, als sie geheiratet haben. Ein eigenes Heim mit niedrigen Zimmern und einem Plumpsklo, aber in bequemen Raten abzubezahlen. Deshalb sei er auf ihre Parolen herein gefallen und deshalb könne er jetzt nicht hinter der anderen Fahne herlaufen. Dreieinhalb Monate später lief er dann doch hinter dieser Fahne her und der kleine Harald war stolz auf ihn. Und als die Kinder aus der Siedlung ihm „Kommunistenbengel“ hinterher riefen, beschloss er, das als Ehrentitel anzusehen.

Es war kurz vor Mitternacht, als der Kompaniechef seine Ansprache über „die aktuelle militärische Bedrohung durch die imperialistischen Mächte“ beendet hatte. Dann haben die Gruppenführer damit begonnen, die versammelten Grenzpolizisten dafür einzuteilen, die Zufahrtsstraßen nach Berlin für die eigene Bevölkerung aus dem Hinterland zu sperren. Er fieberte dem Moment entgegen, in dem ein Gruppenführer endlich auch seinen Namen aufrufen wird: Harald Jäger.

Endlich würden ihm die jungen Kerle am Straßenkontrollpunkt nicht mehr ins Gesicht lachen können, ehe sie sich auf West-Berliner Arbeitsstellen als Lohndrücker und Streikbrecher betätigen. Sie würden ihre Arbeitskraft der heimischen Volkswirtschaft zur Verfügung stellen müssen. Vorbei die Zeiten, in denen jene in den Dorfkneipen den reichen Max spielen konnten, um diese demonstrativ zu verlassen, wenn uniformierte Grenzpolizisten dort zum Feierabend ein Bier trinken wollen. Die Landfrauen aus der Umgebung würden ihre Blaubeeren und Steinpilze künftig auf dem Pankower Wochenmarkt verkaufen müssen, da ihnen der Weg zu denen auf West-Berliner Gebiet verschlossen sein wird. Er und seine Genossen würden keine Tricks mehr anwenden müssen, um die Schildower Pastorenfamilie am Besuch des West-Berliner Kirchentags zu hindern. Endlich hatte die Partei auf diese unhaltbaren Zustände reagiert, der bewusste Teil der Arbeiterklasse würde in dieser Nacht seine Stärke beweisen. Das also war sie – die historische Mission! Harald Jäger war überzeugt, der 13. August 1961 werde in die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung eingehen, wenn nicht gar in die Annalen der kommunistischen Weltbewegung. Der junge Grenzpolizist bedauerte nur, dass dieser Tag ein Sonntag war. Ein Umstand, der ihn um das Vergnügen bringen würde, jenen Streikbrechern, Schmugglern und Schiebern am Morgen direkt in die verblüfften Gesichter zu blicken.

Der Oberstleutnant hat das dringende Bedürfnis mit jemandem zu sprechen. Darüber, was er eben erfahren hat – in den „Tagesthemen“. Auf dem kleinen Junost-Fernseher im Dienstzimmer des Leiters der Passkontrolleinheit (PKE). Er findet keinen Grund an dieser ungeheuerlichen Nachricht zu zweifeln. Obgleich sie im Sender des Gegners gesendet wurde. Hatte man darüber auch schon in der „Tagesschau“ um 20 Uhr berichtet? Er erinnert sich nicht. Vielleicht war die Meldung untergegangen, angesichts seiner Erschütterung darüber, dass junge DDR-Bürger mit kleinen Kindern, sich jubelnd und weinend in die Arme fielen. Schließlich musste er erstmal verkraften, dass die eigene Partei- und Staatsführung bereit war, diesen tausendfachen Gesetzesbruch zu legitimieren.

Nein, er erinnert sich nicht, schon zuvor an diesem Abend davon gehört zu haben, dass die so genannten Botschaftsflüchtlinge über das Territorium der DDR reisen werden. Welcher realitätsfremde Trottel hat sich das nur ausgedacht? Wollte man durch einen Verfahrenstrick staatliche Souveränität demonstrieren? Doch auch wenn die Entscheidung vom Ministerrat beschlossen und vom Politbüro abgenickt worden sein sollte – sie verstößt eindeutig gegen bestehende Gesetze. Harald Jäger könnte den Gesetzestext des §213 des DDR-Strafgesetzbuches, der den Tatbestand des "ungesetzlichen Grenzübertrittes" benennt, selbst im Schlaf herunterbeten. Schließlich hatte ihn das Ministerium für Staatssicherheit in der hauseigenen Hochschule zum „Diplom-Juristen“ ausbilden lassen. Nie hätte er für möglich gehalten, dass er einmal der eigenen Regierung würde vorwerfen müssen, diesen Straftatbestand zu begünstigen. Aber nichts anderes ist es, wenn man jene Botschaftsflüchtlinge vor deren Ausreise tatsächlich über DDR-Gebiet fährt. Wenn man sich schon habe erpressen lassen, so wäre es juristisch haltbarer, nach geographischen Gegebenheiten einfacher, vor allem aber aus sicherheitsrelevanten Gründen sinnvoller gewesen, man hätte die Züge von Prag aus auf direktem Wege ins benachbarte Bayern geschickt. Aber ganz sicher hat über diese Frage keinerlei Rücksprache mit den operativen Kräften der Staatssicherheit stattgefunden. Die hätten den Entscheidungsträgern schnell klar gemacht, welche Gefahren für die innere Sicherheit es in sich birgt, die Staatsgrenze quasi entlang der eigenen Eisenbahnlinie zu verlegen. Womöglich würden nun auch andere Bürger versuchen, in diesen Zug zu gelangen. Die Passkontrolleure im Vogtland oder wo immer dieser Zug die DDR wieder verlassen wird, könnten solche Grenzverletzter ja nicht mal anhand der fehlenden Dokumente herausfiltern. Schließlich hatte ja nun keiner in diesem Zug ein gültiges Visum zum Verlassen der DDR.

Mit wem kann er über diese sich überstürzenden Gedanken sprechen? Harald Jäger will und kann diese Verunsicherung nicht jenen ihm unterstellten Passkontrolleuren mitteilen, die dort draußen den nun zunehmenden Rückreiseverkehr der Tagestouristen kontrollieren. In wenigen Stunden wird ihn E., der andere Stellvertreter dieser Passkontrolleinheit, ablösen. Dann würde es ein Gespräch unter Oberstleutnanten sein. Und nicht nur das – der für die operativen Aufgaben zuständige Genosse hatte schon in der Vergangenheit immer ein offenes Ohr für Harald Jägers kritische Überlegungen. Und nicht selten hat er diese auch geteilt.

Am achten Tag der neuen Zeitrechnung kam der Grenzpolizist Jäger zum ersten Mal an jenes Bauwerk, dessen Errichtung für ihn diese neue Zeitrechnung eingeleitet hatte. Am Morgen waren ihm und seinen Kameraden in einer Köpenicker Kaserne nagelneue Khaki-Uniformen verpasst worden. Das hatte nach ihrem Eintreffen am „antifaschistischen Schutzwall“ auf westlicher Seite für Verwirrung gesorgt. Dort kannte man offenbar nur die grünen Uniformen der Volkspolizisten und die steingrauen der Nationalen Volksarmee. Jedenfalls hatte man drüben schließlich daraus den Schluss gezogen, bei den neuen Grenzschützern müsse es sich um Russen handeln. Über zwei auf einen Kleinbus montierte Lautsprecherreihen wurden die Schrebergärtner auf der anderen Seite darüber „informiert“, dass die bisherigen Volkspolizeiposten durch sowjetische Kräfte ersetzt worden seien. „Studio am Stacheldraht“ nannte man die mobilen Rundfunkstationen, bei denen es sich um amerikanische Propagandasender handelte, bezahlt aus dem Etat der CIA. Jedenfalls hatte ihnen das jener Feldwebel gesagt, der sie hier zum Grenzdienst eingeteilt hatte – an der vormaligen Stadtteilgrenze zwischen Treptow und Neukölln, die nun zu einer Staatsgrenze geworden war.

Die falsche Annahme hielt sich auf der anderen Seite nur einen einzigen Tag. Zwischen Swing und Rock’n Roll wurden die Grenzpolizisten schon am nächsten Morgen wieder in deutscher Sprache zur Fahnenflucht aufgefordert. Inzwischen hatte sich in der Truppe das Gerücht verbreitet, dass in der letzten Woche viele Volkspolizisten dieser Aufforderung gefolgt seien. Deshalb wären deren Einheiten in die jeweiligen Heimatbezirke zurückgeschickt und durch die zuverlässigeren Grenzpolizisten ersetzt worden. Das Gerücht vermittelte Harald Jäger das Gefühl, einer zuverlässigen und klassenbewussten Elitetruppe anzugehören. Und das war ein gutes Gefühl – eine Mischung aus prinzipienfester Moral, jugendlichem Heldenmut und ganz profanem Stolz.

Tatsächlich gab es aus den eigenen Reihen bisher keine Fahnenfluchten. Jedenfalls nicht an seinem Grenzabschnitt, der sich vom Flughafen Schönefeld bis zum Osthafen erstreckte. Dabei wäre es ganz einfach gewesen. Denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte man hier nur an den vom Westen in den Osten führenden Straßen Betonplatten als Kraftfahrzeug-Sperren übereinander geschichtet. Links und rechts davon waren lediglich Stacheldrahtrollen verlegt, die zu überspringen für gut trainierte Grenzpolizisten kein Problem dargestellt haben würde. Und niemand hätte sie daran hindern können. Denn die Karabiner und Maschinenpistolen der Grenzschützer waren damals noch Attrappen, jedenfalls ohne Munition. Nur auf ausdrücklichen Befehl durfte die versiegelte Patronentasche geöffnet oder vom Postenführer ein MP-Magazin in Empfang genommen werden. Eigentlich war die Truppe bei der Harald Jäger Dienst tat, in diesen ersten Wochen ein zahnloser Tiger – nur wusste das auf der anderen Seite niemand. Und auch er selbst wollte sich dadurch die Überzeugung nicht kaputt machen lassen, in einer wahrhaft heroischen Epoche zu leben.

Die westliche Seite verfolgte ganz offensichtlich eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche. Das Zuckerbrot bestand aus Hershey-Schokolade und Wrigleys-Kaugummi, die von amerikanischen Soldaten und West-Berliner Bürgern über den Stacheldraht geworfen wurden. Der Grenzpolizist Harald Jäger aber strafte das Konfekt des Klassengegners durch Nichtbeachtung. Im äußersten Fall kickte er die Süßigkeiten mit der Stiefelspitze in den Schützengraben, der vor dem Grenzzaun ausgehoben worden war. Andere Streifengänger warfen die Objekte der süßen Verführung auf das gegnerische Gebiet zurück. In jener Zeit wurde im Sprachgebrauch der Grenzschützer das geographische Gegensatzpaar „Ost-West“ durch die ideologische Positionierung „freundwärts-feindwärts“ ersetzt.

Die Peitsche hingegen bestand aus gewagten Wendemanövern, die von amerikanischen Jeeps feindwärts ganz dicht am Grenzzaun veranstaltet wurden. Die Posten freundwärts mussten das als Provokation verstehen. Und Harald Jäger hatte sich provozieren lassen. In einer eigenmächtigen und letztlich unverantwortlichen Aktion hatten er und sein Postenführer Furchtlosigkeit und Entschlossenheit demonstrieren wollen. Als ein amerikanischer Jeep herangerast gekommen war und schließlich die Spitze des aufgepflanzten Maschinengewehrs ein kleines Stück über die Betonplatten und damit auf DDR-Territorium ragte, hatten sich die beiden Grenzschützer nur kurz angesehen und wortlos verstanden. Gleichzeitig setzten sie die Stahlhelme auf, luden ihre Karabiner mit den leeren Magazinen durch und stürmten in Richtung des Klassenfeinds. Im nächsten Moment wurde drüben der Rückwärtsgang eingelegt und der Jeep fuhr mit quietschenden Reifen davon. Erst später war den beiden jungen Grenzpolizisten bewusst geworden, wie schnell ihre unüberlegte Aktion zu einem militärischen Konflikt hätte eskalieren können. „Wenn das damals herausgekommen wäre, hätte das mindestens zwei Wochen Bau, wenn nicht gar die Entlassung aus dem Grenzdienst bedeutet“, wird Harald Jäger später seinen Untergebenen erzählen. Aber auch achselzuckend: „Wir waren eben Hasardeure damals!“

Die kleine Anhöhe kurz hinter der Vorkontrolle/Ausreise ermöglicht Oberstleutnant Harald Jäger einen idealen Überblick über das gesamte Areal, welches die offizielle Bezeichnung „GÜST (Grenzübergangsstelle) Bornholmer Straße“ trägt. Als Feldwebel war er vor einem Vierteljahrhundert hierher gekommen. Nicht erst heute an diesem dramatischen Tag hat sich in der DDR vieles, hier aber fast nichts verändert. Nur der Oberleutnant dort oben an der Vorkontrolle/Einreise bringt mit seinen provokanten Fragen gelegentlich ein wenig von jener Stimmung auf die GÜST, die seit kurzem im Lande um sich greift. Eine Stimmung, die von denen ausgeht, die nicht ins ungarisch-österreichische Grenzgebiet reisen oder über Prager Botschaftszäune steigen. Von Leuten, die die DDR nicht abschaffen, sondern verändern wollen. Deshalb rufen sie auf Leipzigs Straßen und anderswo „Wir bleiben hier!“ und neuerdings „Demokratie jetzt!“. Der Parteisekretär hingegen, der in diesem Moment dort drüben auf der Diplomatenspur mit militärischem Gruß den Wagen irgendeines Botschaftsangehörigen empfängt, steht für die traditionelle DDR. Die der realitätsfernen ideologischen Prinzipien jener alten Männer des Politbüros. Harald Jäger fragt sich in den letzten Tagen immer häufiger, von wem eigentlich die größere Gefahr für sein krisengebeuteltes Land ausgeht. Er ahnt, dass vielen der Leipziger Montagsdemonstranten die Vokabel von den „feindlich-negativen Kräften“ nicht gerecht wird. Und nicht den Umweltschützern in der Berliner Zionskirche. Wahrscheinlich trifft sie noch nicht einmal auf jeden zu, der womöglich gerade im fernen Prag einen Zug besteigt, um sich durch die DDR ins andere Deutschland transportieren zu lassen.

Dort unterhalb der Vorkontrolle/Einreise verläuft die wahrscheinlich am besten gesicherte Grenze der Welt. Doch sie hat ihre Wirkung endgültig verloren, seit ein Prager Gartenzaun zur nahezu ungesicherten Grenzstation zwischen den beiden feindlichen Brüdern „Deutschland“ geworden ist. Mehr als einmal konnten Harald Jägers Leute kriminelle Schlepperbanden ermitteln und festnehmen, die DDR-Bürger ohne gültige Grenzübergangspapiere in den Westen schmuggeln wollten. In präparierten Fahrzeugen oder mit gefälschten Papieren. In dieser Nacht aber werden solch ungesetzliche Grenzübertritte von der Partei- und Staatsführung nicht nur geduldet, sondern auf deren offizielle Weisung hin durchgeführt. Zum ersten Mal fühlte jener Oberstleutnant der in den vergangenen achtundzwanzig Jahren eine beeindruckende Karriere hingelegt hat, an diesem Abend seine berufliche Existenz ad absurdum geführt.

In vierzig Tagen wird er einen Schritt tun, der diese Karriere schließlich beenden und sie auf einen Aktenvorgang mit der Personenkennzahl 270443429732 reduzieren wird. Nicht ganz freiwillig wird Harald Jäger diesen Schritt tun, aber er wird damit Weltgeschichte schreiben.

Der Mann, der die Mauer öffnete

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