Читать книгу Der Mann, der die Mauer öffnete - Gerhard Haase-Hindenberg - Страница 8

Dienstag, 3. Oktober 1989

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Am Nachmittag trifft Erich Honecker im ZK-Gebäude aus Anlass des bevorstehenden 40. Jahrestages mit „Veteranen der Arbeiterbewegung“ zusammen und erklärt, dass „die Existenz der sozialistischen DDR ein Glück für unser Volk und die Völker Europas“ sei. In den Abendnachrichten gibt die DDR-Regierung bekannt, dass der pass- und visafreie Verkehr zwischen der DDR und der CSSR mit sofortiger Wirkung ausgesetzt worden sei. Damit gibt es kein einziges Land der Erde mehr, in welches DDR-Bürger reisen können, ohne vorher ein Visum zu beantragen.

Die Meldung hatte sofort für Ruhe im Raum gesorgt. Angelika Unterlauf, die bekannte Nachrichtensprecherin des DDR-Fernsehens, hatte sie an zweiter Stelle der Übersicht verlesen. Ohne den Hauch einer Wertung in der Stimme, als pure Verkündung einer amtlichen Verlautbarung. Dennoch war nur selten zuvor hier in der Wirtschaftsbaracke eine Ausgabe der „Aktuellen Kamera“ von allen gleichermaßen aufmerksam verfolgt worden – von einfachen Passkontrolleuren, Mitarbeitern des Zolls und einigen wenigen Offizieren der Grenztruppen. Und vom stellvertretenden Leiter der Passkontrolleinheit Harald Jäger. Seither beschäftigten hier alle die gleichen Fragen, die in diesem Augenblick auch Millionen von DDR-Bürgern vor den Fernsehgeräten halten dürften. Handelte es sich bei dieser Maßnahme um eine auf Dauer angelegte Aussetzung des pass- und visafreien Verkehrs mit dem Nachbarland? Oder nur um eine zeitlich befristete? Was bedeutete das für jene, die bereits einen Winterurlaub in der Hohen Tatra geplant oder sogar fest gebucht hatten?

Harald Jäger sieht seine Vision schlagartig zur Illusion degradiert. Zeigt die eben verkündete Maßnahme doch, dass die Partei- und Staatsführung die Situation im Lande offenbar völlig falsch einschätzt. Wie anders ist es zu erklären, dass man das Land international immer weiter isolierte? Statt mit einer grundlegenden Reform des Reisegesetzes den neuen Erfordernissen Rechnung zu tragen. Niemand hatte dem Oberstleutnant Jäger in den letzten Tagen mehr widersprochen, als er in zahlreichen Gesprächen jene Vorstellung entwickelte, die ihm noch vor wenigen Monaten nicht in den Sinn gekommen wäre. Demnach solle allen Bürgern ein Visum erteilt werden, die ein solches beantragen. Denen, die das Land für immer verlassen und denen, die zurückkehren wollen. So würde man zu einer für jedermann nachvollziehbaren Praxis kommen und sich ganz nebenbei einige Probleme vom Hals schaffen. Wahrscheinlich würde dann nämlich die Zahl der Ausreiseanträge deutlich sinken. Ganz gewiss aber sich der Zulauf zu den Montagsdemonstrationen verringern, die es mittlerweile nicht mehr nur in Leipzig gibt. Vor allem brauche sich der Staat keine solche Blöße mehr zu geben, wie dies bei der Ausweisung der Botschaftsflüchtlinge geschehen war. Außerdem würden viele der übersiedelten DDR-Bürger schon bald wieder zurückkommen. Weil sie im Westen keine ihren Qualifikationen entsprechende Arbeit fänden. Oder keine geeigneten Lehrstellen für ihre Kinder. Natürlich könne dann auch das aufwändige Grenzregime auf das zwischen souveränen Staaten übliche Maß heruntergefahren und dem Staatshaushalt so eine enorme Entlastung ermöglicht werden.

Sogar sein Vorgesetzter, der Leiter dieser Passkontrolleinheit, hatte nachdenklich mit dem Kopf genickt. Ein Mann, der sonst Forderungen nach Veränderungen erstmal ablehnend gegenübersteht. Wahrscheinlich war auch ihm schon zu Ohren gekommen, dass derartige Denkmodelle inzwischen bereits auf den mittleren Ebenen des Ministerrats durchgespielt werden. Selbst von ZK-Referenten. Nicht einmal der linientreue Parteisekretär, brachte mehr die altbekannten Gegenargumente vor. Die, die immer dann heruntergebetet worden waren, wenn eine besonders starke Ausreisewelle Anlass zu Diskussionen gab. Oder nachdem Genossen der GÜST auf einem Kollektivvergnügen in Feierlaune „beschlossen“, im nächsten Jahr auf Bornholm zu feiern. In Anspielung auf die eigene Dienstadresse – wissend, dass die Insel zu Dänemark gehört. Die chronische Devisenschwäche der DDR, so hieß es dann immer, mache die eigenen Bürger im westlichen Ausland zu Bettlern. Außerdem würde die höhere Akademiker-Entlohnung dort zur Abwanderung von Ärzten und Wissenschaftlern führen. Andererseits widerspräche eine Anhebung von deren Lebensstandart im eigenen Land den Prinzipien eines „Arbeiter- und Bauernstaates“.

Als die Gefahr endlich vorbei gewesen ist, war dem blutjungen Grenzpolizisten klar geworden, dass dies einer jener Tage sein würde, die er nie vergessen wird. Jedes Detail dieser dramatischen Stunde wird wohl für immer in seinem Gedächtnis eingegraben sein – die rennende Frau, die schreiende Meute auf westlicher Seite und seine eigene Todesangst in jenem Schützengraben, der ihm kaum hätte Schutz bieten können vor amerikanischen Schnellfeuerwaffen, abgefeuert von einem Hochhaus auf der anderen Seite. Dabei hatte der Tag so angefangen wie fast alle anderen zuvor in den letzten acht Monaten, seit Harald Jäger nun schon hier an der Grenze Dienst tat.

Am Morgen war er als Postenführer eingeteilt worden und hatte mit einem Kollegen dort Stellung bezogen, wo die Wildenbruchstraße auf die inzwischen zwei Meter hohe Mauer trifft. Jenseits davon hatte man ein Holzpodest aufgebaut, auf dem fast immer einige Menschen standen. Die meisten sahen einfach nur herüber, andere brüllten irgendwelche Schimpfwörter und gelegentlich flogen auch mal Steine oder eine Bierflasche. „Nicht provozieren lassen!“ war als Devise ausgegeben worden und Harald Jäger hielt sich daran.

Manchmal während der langweiligen nächtlichen Postengänge zählte er die beleuchteten Fenster in dem achtstöckigen Hochhaus drüben, deren Zahl natürlich immer mehr abnahm, je später es wurde. Vor drei Tagen war an diesem Abschnitt ein Gefreiter abgehauen. Mitten am Tag hatte er seinen Postenführer abgelenkt und war dann blitzschnell über die Mauer geklettert. So wie sie es während ihrer Grundausbildung an der Eskaladierwand immer wieder haben üben müssen.

Harald Jäger entdeckte die Frau zuerst, die sich ganz hinten, noch jenseits der Elsenstraße, hektisch nach allen Seiten umdrehte, ehe sie mit schnellen Schritten ins Grenzgebiet hineinlief. Wo war sie nur so plötzlich hergekommen? Aus einem der Wohnhäuser die dort nahe am Grenzgebiet stehen? Der junge Grenzpolizist fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen. Von einer Sekunde zur anderen war er herausgerissen worden aus der alltäglichen Routine.

„Was hat die Frau vor?“, schrie er seinen Kollegen an.

„Wo sind denn die Posten da hinten?“ brüllte der andere zurück.

Tatsächlich war das schon gar nicht mehr ihr Postengebiet, dort wo diese Frau nun direkt auf die Mauer zu rannte. Sie waren mindestens dreihundert Meter entfernt. Keine der für einen solchen Fall vorgeschriebenen Maßnahmen machte hier einen Sinn. Anrufen, Warnschuss, Nacheile – selbst ein Zielschuss auf die Beine kam aus dieser Entfernung nicht in Frage. Die Flüchtende hatte nur noch wenige Meter bis zur Mauer vor sich. Schüsse in diese Richtung verboten sich schon deshalb, weil Querschläger auf westliches Gebiet driften könnten. Warum aber unternahmen die Posten hinten an der Elsenstraße nichts?

Inzwischen war auch auf dem Holzpodest, nur wenige Meter von Harald Jäger entfernt, der Fluchtversuch bemerkt worden. Die Leute dort brüllten der Frau aufmunternd zu. „Lauf weiter! Du schaffst es!“

Das Blut hämmerte in den Schläfen des jungen Grenzpolizisten. Er musste die Posten vorne auf die flüchtende Person aufmerksam machen. Nur für sie gab es noch die Chance der Nacheile. Schließlich hatte die Grenzverletzerin noch eine zwei Meter hohe Mauer zu überwinden und sicher keine Erfahrung an der Eskaladierwand. Harald Jäger entsicherte seine Maschinenpistole.

„Nicht schießen!“ schrieen nun die unfreiwilligen Beobachter auf der anderen Seite entsetzt.

Im letzten Moment fiel ihm noch ein, dass er den Lauf seiner Waffe nicht feindwärts halten durfte. Dann schickte er eine dröhnende Salve in den östlichen Himmel. Das mussten die Posten an der Elsenstraße doch gehört haben!?

Die Frau hatte inzwischen die Mauer erreicht. Nun erst entdeckte Harald Jäger die Leiter, die dort vorne offenbar von westlicher Seite über die Mauerkrone geschoben worden war. Ein wenig wacklig stieg die Frau die Sprossen hinauf und war im nächsten Moment auf der anderen Seite verschwunden. Auf dem Holzpodest nebenan wurde gejubelt und applaudiert. Harald Jäger empfand diesen Jubel nicht nur als Willkommensgruß für jene unbekannte Frau, sondern auch als feixende Schadenfreude gegenüber den Grenzschützern, die diesmal das Nachsehen hatten. Er habe das Gefühl gehabt, eine schmähliche Niederlage erlitten zu haben, wird er später bei der Auswertung auf der Dienststelle sagen. Und dort erst wird er erfahren, dass die Genossen an der Elsenstraße zuvor vom Westen aus mit Steinen beworfen worden waren und sich deshalb in Sicherheit gebracht hatten. Der Postenführer hatte in jenem winzigen Betonbunker auf dem Grenzstreifen Schutz gesucht, der nur einer Person Platz bot. Durch die schmalen Sehschlitze, so wird er argumentieren, habe sich für ihn nur ein eingeschränkter Blickwinkel ergeben. Sein Kollege sei links davon im Schützengraben abgetaucht. Die Grenzverletzerin habe einfach Glück gehabt, dass sie exakt im toten Winkel auf den „antifaschistischen Schutzwall“ zugelaufen sei. Harald Jäger wird diesen Begriff im vorliegenden Fall völlig unangebracht finden. Schließlich hatte es sich bei der Frau doch sicher nicht um eine Faschistin gehandelt und bei dem Vorfall nicht um einen imperialistischen Militärschlag. Sagen aber wird er das nicht. Denn einem spontanen Entschluss schien die Bürgerin bei dieser Grenzverletzung ganz offensichtlich auch nicht gefolgt zu sein. Die vom Westen herübergereichte Leiter sprach dafür, dass die Flucht von langer Hand vorbereitet worden war. Und warum war sie exakt an dieser Stelle aufgestellt worden? Gab es in diesem Fluchtplan womöglich jemanden, der wusste, wie die Posten auf eine Steinattacke reagieren werden? Und auch, dass sie von dort, wohin sie sich dann zurückziehen, genau auf diesen schmalen Korridor keinen Einblick haben würden?

Vor seinem geistigen Auge wird noch einmal der desertierte Gefreite auftauchen, den er eine halbe Stunde nach dem gelungenen Grenzdurchbruch dieser Frau auf dem Holzpodest drüben erkannt hatte. In einer dunkelbraunen Lederjacke war dort überraschend jener junge Mann erschienen, der noch drei Tage zuvor sein Kollege gewesen war. Ein leichter Westwind hatte Fetzen der Unterhaltung herüber geweht, die dieser mit einem West-Berliner Schutzpolizisten führte. Ganz deutlich konnte er hören, wie der andere seinen Namen nannte: Harald Jäger.

Bald drängten sich immer mehr Schaulustige auf der kleinen Fläche jenes Podestes und blickten zu ihm herüber. Applaus brauste auf und man machte Platz für zwei amerikanische GI’s. Irgendeiner rief plötzlich: „Knallt ihn ab!“, ein anderer: „Kill him!“ Und dann begannen die Leute drüben zu skandieren: „Kill him! – Kill him! …“ Was würde passieren, wenn einer der GI’s tatsächlich die Waffe auf ihn richten würde? Durfte er dann zurückfeuern? Was aber, wenn der andere nur provozieren will, wie der amerikanische Jeep-Fahrer vor einigen Monaten?

Sein Posten rief: „Lass uns in Deckung gehen!“

Blitzschnell sprangen die beiden jungen Grenzpolizisten in die nebeneinander liegenden Schützengräben. Hier hinter aufgestapelten Betonplatten waren sie in Sicherheit. So schien es zunächst jedenfalls. Bis drüben plötzlich jemand aufgeregt schrie: „Von dort oben könnt ihr ihn abknallen!“.

Der Blick des jungen Grenzpolizisten ging hinauf zu dem Flachdach des achtstöckigen Hochhauses. Für einen geübten Schützen würde er hier wie auf dem Präsentierteller liegen.

Als es auf der anderen Seite ruhig wurde, hätte er sich mit seinem Posten zurückziehen müssen. Das aber war ihm erst klar geworden, als es nach ängstlichem Ausharren im Schützengraben zu spät dafür war. Tatsächlich tauchten schließlich dort oben die beiden GI’s mit dem Schupo auf. Hatte der eine Amerikaner auch vorhin schon die Maschinenpistole bei sich? Harald Jäger begann plötzlich zu zittern, konnte am eigenen Körper spüren, was es bedeutete, wenn eiskalter Schweiß den Rücken hinunterläuft. In diesem Moment musste er an seine Mutter denken, die dagegen war, dass der Sohn sich zum Grenzdienst meldete. Aus Angst, wie ihm die ältere Schwester erst vor kurzem erzählt hatte. Plötzlich tauchten Bilder auf – von der Bautzener Arbeitersiedlung Herrenteich, in der die Bewohner bei Sonnenuntergang hinter ihren Häuschen sitzen, von der Pestalozzischule, wo er acht Jahre die Schulbank drückte und die nur durch den Schiller-Park von jener Oberschule getrennt lag, welche die Kinder der „Intelligenzija“ besuchten. Er sah vor sich die glasklaren Seen in den ehemaligen Steinbrüchen südlich von Bautzen, in denen er als Kind gebadet, und den Humboldthain, wo er stundenlang das Training der Hundeführer der Grenzpolizei beobachtet hatte. Und dann sah der junge Grenzpolizist seinen Vater, wie er ihn einst auf dem Heimweg vom Fußballstadion auf der Müllerwiese in den Arm genommen und ihm gesagt hatte, er solle seine Zukunft in politischen Aufgaben suchen. Harald Jäger hoffte in diesen dramatischen Minuten inständig, dass er diesem Vater irgendwann würde erzählen können, in welch gefährlicher Situation er sich befunden hatte. Denn er verspürte überhaupt keine Lust, in einem Nachruf des Neuen Deutschland zum Helden erklärt zu werden, wie einst jener Waldemar Estel, nach dem man inzwischen Straßen und Schulen benennt.

„Wenn der die Waffe hebt, putze ich sie alle drei vom Dach!“ hörte er den Posten neben sich rufen.

„Lass den Mist!“ schrie Harald Jäger aufgeregt zurück.

Er musste unbedingt verhindern, dass sein Kollege mit einer unbedachten Handlung jenem amerikanischen Soldaten dort oben überhaupt erst die Handhabe dafür lieferte, das Feuer zu eröffnen. Immer wieder hat er ihm deshalb zugerufen, er dürfe sich nicht provozieren lassen, hat geradezu gefleht, auf gar keinen Fall seine Waffe dorthin zu richten. Nach einer als schier endlos empfundenen Viertelstunde, verließ der Gegner drüben das Dach. Und auch die Stimmen auf der anderen Seite waren nun verstummt. Erleichtert ließ sich der neunzehnjährige Grenzpolizist im Schützengraben nach hinten fallen. Langsam löste sich die Anspannung im Körper. Er schob den Stahlhelm zurück und wischte mit dem Ärmel seiner Uniform den Schweiß von der Stirn. Jetzt wusste Harald Jäger, dass er nicht dazu geboren war, ein Held zu sein.

Wie alle anderen wartet Oberstleutnant Jäger vor dem Fernseher in der Wirtschaftsbaracke. Auf weitere Details zu jener kurzen Meldung, die Angelika Unterlauf zu Beginn der „Aktuellen Kamera“ verlesen hatte. Zunächst aber strapaziert man die Geduld der Zuschauer mit einem ziemlich ausführlichen Beitrag über ein Veteranentreffen. Im Haus des Zentralkomitees und aus Anlass des 40. Republik-Geburtstages. Alte Menschen küssen und umarmen einander, ehe Erich Honecker – laut Off-Kommentar „Kommunist und Staatsmann“ – mit Applaus begrüßt wird. Man erhebt sich zur Nationalhymne, die in voller Länge übertragen wird. Dann wendet sich der SED-Generalsekretär an die „Kameraden, Aktivisten der ersten Stunde, Weggefährten und Genossen“. Der Oberstleutnant Harald Jäger empfindet in diesem Moment eine große Sympathie für diese alten Menschen. Viele von denen kämpften schon für die Ziele der Arbeiterklasse, als es noch gefährlich war Kommunist zu sein, hatten für ihre Ideale in Zuchthäusern und Konzentrationslagern gesessen. Auch Erich Honecker selbst war einer von ihnen. Andere waren in den Anfangsjahren der DDR zur Bewegung gestoßen. Wie sein Vater und Schwiegervater, denen die krisenhafte Entwicklung der letzten Jahre erspart geblieben war. Damals hatte sich Erich Honecker am großen Aufbauwerk als Vorsitzender der „Freien Deutschen Jugend“ beteiligt. Er befindet sich also unter alten Kampfgefährten, spricht von Gleichem zu Gleichen. Wird der „Kommunist und Staatsmann“ die Gelegenheit wahrnehmen, gegenüber seinen jahrzehntelangen Weggefährten nicht nur die Erfolge zu benennen, sondern auch Fehler einzuräumen? Wird er nach dem leninschen Prinzip von Kritik und Selbstkritik die Probleme im Land aus parteilicher Sicht unter die Lupe nehmen? Ist es nicht das, was die alten Kämpfer in einer solchen Zeit von einem Parteiführer erwarten, dessen historische Verdienste niemand in Abrede stellt?

Zunächst aber zieht es der Generalsekretär vor, darauf zu verweisen, dass die Existenz der DDR „ein Glück für unser Volk und die Völker Europas“ sei, was die Veteranen zu spontanem Applaus, einige in der Kantine der GÜST Bornholmer Straße jedoch zum Lachen veranlasst.

In endlosen Passagen verliest Erich Honecker, was jene Veteranen doch ohnehin wissen – dass „die Befreiung vom Hitlerfaschismus einen neuen Anfang für unser Volk“ und die Gründung „der Deutschen Demokratischen Republik den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ bedeutet habe. An deren Spitze hätten einst „solche Persönlichkeiten gestanden wie Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht, Max Fechter, Otto Nuschke …“. Starker Applaus folgt der Aufzählung einer ganzen Reihe weiterer Namen der Gründungsväter der Republik. Schließlich feiert er das Sozial- und Wohnungsbauprogramm als sozialistische Errungenschaft. Wieder Applaus. Fast unmerklich schüttelt Oberstleutnant Harald Jäger den Kopf. Sollte tatsächlich keiner dieser Zuschauer im ZK-Gebäude, unter denen sich doch sicher auch ehemalige Kombinatsdirektoren und Ökonomen befinden, wissen, dass die zu geringe Produktivität der DDR-Wirtschaft diese gewaltigen Programme gar nicht finanzieren kann? Immerhin weiß er es doch auch. Er hatte es nicht erst von jenem kritischen Geist erfahren, der vor einiger Zeit in die Familie gekommen war – dem Schwiegervater seines Sohnes Carsten. Während der Gespräche mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Ökonomie-Professor an einer thüringischen Universität. Das war einer, der wusste, wovon er sprach. Und weil er wusste, wovon er sprach, war er auch ein zorniger Mensch. Er konnte sich erregen über die Unfähigkeit des für wirtschaftliche Fragen zuständigen Politbüro-Mitglieds Günter Mittag, den er regelmäßig mit wüsten Beschimpfungen belegte. Es sei eine Katastrophe, dass „eine solche Null“ ein staatliches Imperium von 22 Ministerien, 224 Kombinaten und 3.526 volkseigenen Industriebetrieben dirigiere und überwache. Seine Flüche wurden sogar noch deftiger, als Harald Jäger vorsichtig hatte durchblicken lassen, was er von den operativ tätigen Mitarbeitern seiner „Firma“ erfahren hatte, die einst seine Kommilitonen an der „Juristischen Hochschule“ in Potsdam gewesen waren. Demnach würden die Berichte ihrer „Informellen Mitarbeiter“ (IM) aus den Volkseigenen Betrieben, mit deren Hilfe sie die Kombinatsdirektoren kontrollierten, niemals an Honecker weitergereicht. Schon gar nicht, wenn sie über oftmals verheerende Zustände berichteten. Das könne man „dem Generalsekretär nicht zumuten“ habe der Minister für Staatssicherheit erklärt, weshalb Honecker mit beschönigenden Zahlen versorgt werde.

„Die man uns anschließend im Neuen Deutschland als real verkaufen will“, schrie daraufhin der Wirtschaftswissenschaftler und warf gerade erst publizierte Statistiken auf den Tisch.

„Das sind die Planvorgaben von vor zehn Jahren. Die hat man jetzt als aktuelle Produktionszahlen veröffentlicht und dann auch noch als Erfolg gefeiert“, ereiferte er sich.

Und dann: „In diesem Artikel hier im ND wird damit angegeben, wie viele Computer in unseren volkseigenen Betrieben vorhanden seien. Weißt du Harald, die Bowling-Maschine, die gestern Abend unsere Kegel wieder aufgestellt hat und oben elektronisch die Punkte anzeigte, die ist auch ein Computer. So was zählen die alles mit! Und Erich hat davon keine Ahnung, sagst du, weil eure Leute ihm die falschen Zahlen vorlegen? Also entweder ist er ein Idiot oder ein Ignorant – aber wahrscheinlich ist er beides!“

Bei einer Familienfeier hat Harald Jäger dann den Schwiegervater seines Sohnes einmal zur Seite genommen und ihn gebeten, eine Überlegung zu kommentieren, die ihn seit längerem beschäftigte. Etwas umständlich holte er aus:

„Manche DDR-Rentner, wenn sie bei uns an der Bornholmer Straße aus dem Westen zurückkommen, zeigen den Genossen vom Zoll zum Beispiel stolz einen ‚schönen Toaster’, den sie drüben für ihre daheim gebliebenen Kinder bei Quelle gekauft haben ...“

„… ohne zu wissen, was der Aufkleber ‚Made in GDR’ auf der Unterseite des Geräts aussagt“, ergänzt sein Gegenüber.

Er kenne noch viele derartige Geschichten, bestätigte Harald Jäger. Auch aus der eigenen Familie. Seine Tochter Kerstin ziehe als Gärtnerin in der Grünpflanzengenossenschaft „Weiße Taube“ Pflanzen auf, die nie eine hiesige Gärtnerei und nur selten ein Gartenbauamt der DDR zu sehen bekämen. „Stattdessen werden diese Zierpflanzen auf westlichen Gartenmärkten verkauft…“

„… zu Schleuderpreisen weit unter den Produktionskosten!“ wurde seine Ausführung von dem Wirtschaftsprofessor abermals ergänzt.

Nun wusste Harald Jäger, dass er bei diesem Mann kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte und plauderte los:

„Am 13. August haben wir damals dicht gemacht, damit unsere Arbeitskräfte für dieses Land produzieren und die Bauern ihre Blaubeeren und Steinpilze in Pankow und nicht im Westen verkaufen. Heute verschiebt unser Staat Konsumgüter in großem Stil!“

Als Carstens Schwiegervater nachdenklich schwieg, hatte Harald Jäger nachgesetzt:

„Unsere Werktätigen produzieren also Waren, die sie niemals oder nur sehr selten selbst kaufen können …“

Sachlich stellte der Wirtschaftswissenschaftler fest:

„Die so erzielten Devisen stehen immerhin dem Staatshaushalt zur Verfügung.“

Doch nach einer kurzen Weile:

„Die Frage ist allerdings, ob sie dort wirklich sinnvoll verwendet werden.“

War dies wirklich eine Frage für den Experten oder wusste er mehr, als er sagte? Schließlich gingen auch Harald Jäger Gedanken durch den Kopf, die er niemals laut äußern würde. Wird nicht die Arbeitskraft der Gärtner von der ‚Weißen Taube’ dem Profit westlicher Kapitalisten zur Verfügung gestellt? Oder die der Arbeiter in dem Kombinat, das für Quelle die Toaster womöglich auch unter dem Herstellungspreis liefert? War also die einstmals abgeschaffte „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ in der DDR längst durch die Hintertür wieder eingeführt worden? Der Oberstleutnant erschrak über seine provokante These. Sie erschien ihm nicht angebracht für einen, dessen Dienstherr für die Sicherheit des Staates zu sorgen hatte. Für die Existenz eines Arbeiter- und Bauernstaates. Und als ob der Wirtschaftswissenschaftler seine unerhörten Gedanken erraten hatte, sagte er in die entstandene Stille hinein scheinbar zusammenhanglos:

„Das kann man so sehen!“

Die Arbeiterveteranen im Haus des Zentralkomitees hatten sich zwischenzeitlich zum gemeinsamen Gesang der „Internationale“ erhoben. Nun lauschen sie ergriffen einem Chor, der ihnen die Lieder ihrer Jugend vorsingt. „Bau auf, bau auf / Freie Deutsche Jugend bau auf!“ Auf die krisenhafte Lage im Lande war Erich Honecker zuvor nur indirekt eingegangen. Und auch nur, um sie dem Klassengegner in die Schuhe zu schieben:

„Gerade jetzt glaubt man in der Bundesrepublik, die DDR mit einem passenden Angriff aus den Angeln heben zu können. Daraus, liebe Kameraden wird nichts!“

Spätestens jetzt müssen doch alle hier in der Wirtschaftsbaracke anwesenden Offiziere den Generalsekretär ihrer Partei als jemanden erkennen, der die Realitäten nicht mehr begreift. Oder sie bewusst falsch darstellt. Gerade hier auf der Dienststelle kann das niemandem verborgen bleiben. Hatte man doch bereits in der vergangenen Woche die erhöhte Einsatzbereitschaft und vor drei Tagen die doppelte Mannschaftsstärke angeordnet. Ganz sicher nicht, weil man einen Angriff aus dem Westen erwartete. Sämtliche seit langem existierenden operativen Alarmpläne sind schließlich gegen Teile der eigenen Bevölkerung gerichtet. Oberstleutnant Harald Jäger, der für den Fall der Konterrevolution vier seiner Leute für die „Festnahmegruppe“ benannt hatte, hofft inständig, dass diese nicht zum Einsatz kommt.

Nach exakt 22 Minuten und 41 Sekunden, ist endlich Angelika Unterlauf wieder auf dem Bildschirm zu sehen. Nach Verlesen der amtlichen Verlautbarung, die nicht eine einzige Frage der besorgten DDR-Bürger beantwortet, bekommt der ADN-Journalist Olaf Dietze das Wort für einen Kommentar. Sicherlich hat keiner der hier anwesenden Uniformträger von jenem Propagandisten der staatlichen Nachrichtenagentur eine systemkritische Kommentierung erwartet. Aber einige Hintergründe darüber, was die Aussetzung des pass- und visafreien Verkehrs nun konkret bedeutet, schon. Stattdessen setzt er die Schuldzuweisung des Generalsekretärs fort. Und auch er verliest monoton seine ellenlange Erklärung. Die westdeutschen Botschaften in Prag und Warschau hätten ihren Status „unter Bruch der Wiener Konvention über die diplomatischen Missionen zur Durchsetzung einer völkerrechtswidrigen, revanchistischen Anmaßung einer Obhutspflicht für alle Deutschen“ missbraucht.

„Haben doch diese bösen BRD-Diplomaten tatsächlich unsere braven Bürger in ihre Botschaften entführt“, ruft ein Hauptmann der Grenztruppen in den Raum. Einige lachen. Viele nicht.

Immerhin war diesmal nicht wieder von „feindlich-negativen Kräften“ in der eigenen Bevölkerung die Rede, versucht Oberstleutnant Harald Jäger der Sache für sich noch einen positiven Aspekt abzugewinnen. Gibt es auch feindlich-positive Kräfte? Einmal hatte er diese Frage gestellt. Einem der drei Dienstgrade unter ihm stand, aber der Parteisekretär war. Der Funktionär war mit dieser simplen Frage restlos überfordert und rettete sich in die Sprechblase. Nicht erst da hatte Harald Jäger erkannt – Phrasen bedeuten Defensive. Immer. Schließlich waren sie auch für ihn oft der rhetorische Notnagel, wenn er nicht mehr weiter wusste. In Diskussionen mit seinem Sohn, bei Gesprächen mit Untergebenen und nicht selten sich selbst gegenüber. Nun hat sich auch der Generalsekretär seinen alten Kampfgefährten gegenüber der Phrase bedient. Und Harald Jäger ahnte, dass dies kein gutes Omen war.

Natürlich wusste er, dass dieser Hansen eigentlich Alfred Müller hieß und alle anderen im Saal wussten es auch. Vielleicht hatte er etwas früher als die junge Frau neben ihm mitbekommen, dass Hansen vom Ministerium für Staatssicherheit dorthin in die Würzburger Handelsgesellschaft „Concordia“ geschickt worden war, hinter der sich der amerikanische Militär-Geheimdienst versteckte. An einen Einsatzort also, tief im Feindesland, den man in Fachkreisen „unsichtbare Front“ nannte. Harald Jäger der Grenzpolizist, seit kurzem im Range eines Unteroffiziers, fand diesen Hansen toll – wie er sich das Vertrauen des MID-Stabes erworben hatte, einen Lügendetektor-Test überstand und trotz Beschattung die Verbindung zu seinem Führungsoffizier in der Heimat hielt. Vor allem aber, wie er in einer spektakulären Aktion jene amerikanischen Angriffspläne stahl, welche die DDR schließlich der Weltöffentlichkeit präsentierte. Und dann war dem politischen auch noch das private Happy End gefolgt. Die junge Frau in Harald Jägers Arm ist fast vor Rührung zerflossen, als der heimgekehrte Kundschafter (wie sich sozialistische Geheimagenten selbst titulieren) endlich wieder seinem halbwüchsigen Sohn gegenübertreten durfte. Drei lange Jahre hatte der Junge den Vater für einen „Verräter an der Sache der Arbeiterklasse“ gehalten.

Unteroffizier Harald Jäger und seine junge Freundin Marga, waren begeistert von Alfred Müller. Beide hatten den Schauspieler zuvor auch schon in anderen Filmen gesehen, aber die darstellerische Leistung die er in „For eyes only“, dem erfolgreichen Agententhriller der DEFA gezeigt hatte, hielten sie übereinstimmend für seine bislang beste.

Auf dem Heimweg hatte Marga dann darüber geredet, wie schwer es einem Genossen wie diesem Hansen wohl fallen müsse, seine Frau in der DDR zurückzulassen. Womöglich sei sie noch nicht mal in die Aktion eingeweiht gewesen. Vielleicht sogar hatte auch sie ihn als Verräter verachtet und konnte ihn schließlich, von diesem bösen Verdacht befreit, überglücklich in ihre Arme schließen. Anerkennend hatte Marga festgestellt, in welche Gefahren der Genosse sich im Feindesland begeben hatte. Das Ziel, die Erhaltung des Friedens, immer vor Augen. Für Marga waren solche Männer wie Hansen Helden. Der Unteroffizier aber, in dessen Arm sie dahin schlenderte, hing ganz anderen Gedanken nach. Plötzlich schien es ihm, als ob er die Geschichte jenes Major Hansen schon lange kennen würde. Nicht aus einem Spielfilm und auch nicht aus einem der zahlreichen Bücher, die er einst in der Bautzener Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Er war mit Marga schon fast vor jenem Haus, in dem sie bei ihren Eltern wohnte, als es ihm einfiel. Vor einigen Jahren, er war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, hatte er in der DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ exakt eine solche Geschichte dargestellt gesehen. Das aber war eben kein mit Schauspielern inszenierter Film, sondern die Realität. Und nun fiel ihm auch der Name jenes Kundschafters wieder ein, der offenbar für die von Alfred Müller verkörperte Filmfigur Pate gestanden hatte: Horst Hesse.

Zur Premiere des Films „For eyes only“ am 19. Juli 1963 im Ost-Berliner Filmpalast “Kosmos“ war Horst Hesse – zu seiner eigenen Enttäuschung, wie er später erzählen wird – nicht eingeladen worden. Hatte er nicht unter Einsatz seines Lebens die Vorlage zu jenem Agententhriller geliefert? Tatsächlich hatte sich der einstige Dispatcher aus dem Magdeburger Ernst-Thälmann-Werk mit Zustimmung des MfS vom amerikanischen Geheimdienst anwerben lassen. Aus seinem Einsatzgebiet in der Bundesrepublik war er schließlich mit einem Panzerschrank des MID in die DDR zurückgekehrt. Doch seine Dienststelle zog ihn nicht darüber ins Vertrauen, dass sich darin zwar Ausweise, Meldestempel und diverse Dokumente, jedoch keinerlei Angriffspläne befanden. Im Gegenteil! Auf zahlreichen Foren vor Arbeitern und Schülern hielt er Vorträge nach Texten, die man für ihn geschrieben hatte und ließ sich als Held feiern. Und noch etwas wusste der Ex-Kundschafter Hesse zum Zeitpunkt der Filmpremiere nicht. Während er einst an der „unsichtbaren Front“ seinem gefährlichen Job nachgegangen war, hatte seine Frau ausgerechnet mit jenem Führungsoffizier eine Affäre, der in dem DEFA-Streifen als väterlicher Freund dargestellt wurde.

Es hat den Unteroffizier Harald Jäger nicht gestört, dass man die Handlung des Films von der Mitte der fünfziger Jahre in den Sommer des Jahres 1961 verlegt hat. Soviel verstand auch er schon von Agitation und Propaganda, um zu wissen, was damit beabsichtigt war. Schließlich war noch immer nicht allen Bürgern der DDR klar, dass nur die Schließung der Grenze vor zwei Jahren den Frieden erhalten hatte. Dieser Film aber würde selbst hartnäckige Zweifler überzeugen. Wurde den Zuschauern doch eindringlich vor Augen geführt, wie raffiniert der amerikanische Geheimdienst gemeinsam mit dem Bundesnachrichtendienst nicht nur psychologische Kriegsvorbereitungen getroffen, sondern tatsächlich auch ganz reale Angriffspläne erarbeitet hatte. Zu Beginn des Films war sogar ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass „etwaige Ähnlichkeiten … beabsichtigt“ seien.

Natürlich freute es Harald Jäger, als ihm seine Freundin schließlich mit leuchtenden Augen erklärte, dass auch er einen wichtigen Beitrag zu dieser Friedensmission leisten würde – durch seinen freiwilligen Dienst an der Grenze. Aber er sagte ihr nicht, dass er viel lieber als Kundschafter die Wühltätigkeit des Gegners gegen den Sozialismus aufdecken und vereiteln würde. Wie aber sollte er in eine solche Position kommen? Schließlich konnte man sich bei der Staatssicherheit nicht einfach bewerben wie bei der Grenzpolizei. Das wusste er von jungen Genossen, die wie er im vergangenen Jahr der SED beigetreten waren und die nach der aktiven Zeit an der Grenze ihren Dienst gern dort fortsetzen würden. Man musste angesprochen werden. Aber vom MfS würde wohl kaum jemand auf einen Ofensetzer zugehen, der gerade mal acht Jahre lang eine sächsische Volksschule besucht hat.

Vor dem dreigeschossigen Wohnhaus in Köpenick nahm Harald Jäger zum Abschied jenes Mädchen in den Arm, das er vor einigen Wochen bei einem Tanzvergnügen in der Kaserne kennen gelernt hatte. Der Politoffizier seiner Einheit hatte deren Patenbrigade eingeladen, die praktischerweise ausschließlich aus jungen Mädchen des „VEB Berliner Damenmode“ bestand, wo Marga als Schneiderin arbeitete. Der junge Unteroffizier ahnte längst, dass dies eine schicksalhafte Begegnung war. Aber er wusste nicht, dass auch jene Begegnung sich als schicksalhaft erweisen würde, die am Nachmittag stattgefunden hatte – exakt vor diesem Haus hier, mit jenem zufällig heimkehrenden Jägersmann, der ihn in ein Gespräch verwickelte. Er war einer jener Männer, die man in der DDR als die „der ersten Stunde“ bezeichnete – und er war Margas Vater.

Dieser Jägersmann hatte eine Karriere gemacht, wie sie auch in der DDR nicht alltäglich war – der gelernte Zimmermann war über ein juristisches Schnellstudium Richter geworden. Dann hatte ihn das Zentralkomitee der SED als Referenten für Rechtsfragen nach Berlin geholt. Leute mit einer solchen Biografie achteten auch im Arbeiter- und Bauernstaat darauf, dass die Töchter in „gute Hände“ kamen und damit waren nicht unbedingt Arbeiter und Bauern gemeint. Und so zeigte sich der ZK-Referent nicht gerade von seiner euphorischen Seite, als ihm der künftige Schwiegersohn mitteilte, er wolle nach Ablauf seiner Dienstzeit in wenigen Wochen in den erlernten Beruf als Ofensetzer zurückkehren. Er schlug ihm vor, sich doch bei der Volkspolizei zu bewerben, verwies auf die Aufstiegschancen dort. Er war enttäuscht, als ihm Harald Jäger mitteilte, keine Uniform mehr tragen zu wollen. Positiv überrascht hingegen hatte er reagiert, als der junge Mann an Margas Seite überraschend erklärte, dass er sich das Ministerium für Staatssicherheit als Arbeitgeber vorstellen könne. Allerdings hatte Margas Vater, als er schließlich ein Treffen zwischen Harald Jäger und einem Oberst der Staatssicherheit arrangierte, nicht geahnt, dass der junge Mann dabei an einen Kundschafterauftrag an der unsichtbaren Front dachte, wie der es Monate zuvor in „For eyes only“ gesehen hatte. Vielmehr hatte er für den scheidenden Grenzpolizisten zunächst einen Einsatz bei einer der Passkontrolleinheiten im Auge, die in jener Zeit gerade bei der Staatssicherheit eingegliedert wurden. Durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen würden seinem Schwiegersohn auch hier vielfältige Karrierewege offen stehen. Denn, dass er Karriere machen würde, davon ging der ZK-Mitarbeiter offenbar ungefragt aus.

Schon bald nach der Entlassung aus der Grenzpolizei heiratete Harald Jäger seine Freundin Marga. Und er zog nun doch wieder eine Uniform an – wieder die der DDR-Grenztruppen. Nur diesmal zur Tarnung, denn sein Arbeitgeber werden für das nächste Vierteljahrhundert nicht die Grenztruppen sein, sondern jene Institution, bei der man sich nicht bewerben, bei der man aber auch nicht kündigen konnte.

Der morgendliche Berufsverkehr ist schon in vollem Gange, als Oberstleutnant Harald Jäger sich mit dem Wagen auf den Heimweg macht. Zuvor hatte er sich in seinem Dienstzimmer noch einen starken Kaffee aufgebrüht. Die 24-Stunden-Schicht, die für ihn und den anderen Stellvertreter seit der „erhöhten Einsatzbereitschaft“ gilt, steckt ihm in den Gliedern. Auf der Clement-Gottwald-Allee zuckelt ein Trabant vor ihm her. Dessen Fahrer gibt sich durch ein weißes Stück Stoff an der Antenne zu erkennen. Als jemand, der das Land für immer zu verlassen wünscht. Wenn der Antrag abgelehnt worden ist, wird der weiße Stoff durch schwarzen ersetzt. Als Mitarbeiter der Staatssicherheit hat er seiner „Firma“ eigentlich Meldung über den Wagen da vorn zu machen. Fahrzeugtyp, Kennzeichen, Fahrtrichtung sind zu notieren und der Dienststelle zu melden. Harald Jäger aber hat diese Maßnahme nie befolgt. Weil ihm nicht einleuchten wollte, weshalb dem Ministerium für Staatssicherheit jemanden zu melden sei, der sich zuvor selbst durch die Antragstellung hatte registrieren lassen. Und nun macht es schon gar keinen Sinn mehr, da man zur gleichen Zeit Tausende mit dem Zug in den Westen fuhr. Warum also sollte er mithelfen jene Bürger zu kriminalisieren, die nicht den illegalen, wenngleich erfolgreichen Weg über eine Botschaftsbesetzung suchen?

Erich Mielke würde dafür eine simple Erklärung parat haben. Harald Jägers oberster Dienstherr, hatte vor einiger Zeit auf einer Veranstaltung gebrüllt: „Wer nicht für uns ist, ist automatisch unser Feind!“. Es wurde geklatscht. Weil es der Minister war. Auch Harald Jäger hatte geklatscht. Obwohl er im privaten Kreis widerspricht. So einfach könne man es sich nicht machen, sagt er dann zu seiner Frau, die ständig von mittleren Parteifunktionären umgeben ist. In der Kreisleitung, in deren Archiv sie arbeitet, und wo es auf jede Frage eine konfektionierte Antwort gab. Deshalb kann er sich ihr nur schwer verständlich machen. Seine Gedanken kommen ungeordnet daher, sperren sich immer öfter gegen die ideologischen Vorgaben. Es kommt zum Streit. Man müsse sich fragen, warum diese Menschen sich von uns abwenden, argumentiert er. Das provoziert ihren Widerspruch – „Wirtschaftsflüchtlinge!“. Auf Tagungen aber schenkt er dem Minister Beifall, wenn der die Faust hebt und mit martialischem Tonfall ins Mikrophon brüllt: „Wer nicht für uns ist, ist automatisch unser Feind!“ Und dessen engste Mitarbeiter nicken mit dem Kopf. Manche lachen zustimmend. Oder sie schauen betreten zu Boden, wenn der Minister im gleichen Tonfall einen soeben in den Generalsrang beförderten Offizier zurechtweist:

„Nimm mal die Knie zusammen, du kannst doch als Generalleutnant nicht breitbeinig dasitzen wie ’ne Hafennutte!“

Sie verhalten sich wie kleine Jungen am Esstisch ihres Vaters, denkt Harald Jäger dann über alle diese akademischen Herren in den ersten Reihen. Die ihre Doktortitel nicht neben dem Dienstrang nennen dürfen, wie ihre Offizierskollegen von der Nationalen Volksarmee. Wegen einer persönlichen Anordnung des Ministers, der selbst keinen solchen Titel hat.

Die jungen Leute im Trabant vor ihm berufen sich mit ihrer Antragstellung immerhin auf eine Verpflichtung die Erich Honecker vor mehr als einem Jahrzehnt eingegangen war. Als Staatsoberhaupt dieses Landes hatte er sie auf der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ in Helsinki mit seiner Unterschrift besiegelt. Die Verpflichtung, seinem Volk die Möglichkeit einzuräumen, das Land zu verlassen – auch für immer.

Zu Beginn der achtziger Jahre waren die Mitarbeiter der Staatssicherheit von ihrem Ministerium noch über die exakte Zahl der Ausreiseanträge informiert worden. Als diese Zahl dann aber alarmierend angestiegen war, wurde seitens des Ministeriums nur mehr über den prozentualen Anstieg dieser Anträge informiert. Wer aber die realen Zahlen zuvor noch in Erinnerung oder in seinen Unterlagen hatte, konnte natürlich auch aus dem prozentualen Anstieg eine reale Zahl ermitteln. Schließlich bekamen die Leitungsgremien der Staatssicherheit nur noch mitgeteilt, wie hoch prozentual „die Zurückdrängung der Antragstellungen“ gelungen sei. Damit hatte man schließlich auf jene Aufgabe hingewiesen, die als eine „gesamtgesellschaftliche“ definiert worden war und zudem noch als Erfolg gewertet werden konnte. Jedenfalls war unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass die Zahl der Antragstellungen „zurückgedrängt“ werde. Schon der Begriff „zurückdrängen“ macht deutlich, dass man dabei kaum eine politisch-argumentative Überzeugungsarbeit im Auge hatte.

Mehrfach hat Harald Jäger in den letzten Jahren das Gespräch vor allem mit jungen Leuten gesucht, die über die GÜST Bornholmer Straße ausreisten. Deren Beweggründe hielt er meist für egoistisch, oft auch für naiv. Gelegentlich nur deshalb für nachvollziehbar, weil es unüberwindbare weltanschauliche Differenzen gab. Alle aber wollten sich einer Gesellschaft entziehen, die ihnen keinen „ideologiefreien Raum“ zubilligte, sich oft in die privatesten Belange einmischte. Daran stört sich selbst Harald Jäger zunehmend. Obgleich er mit der staatstragenden Ideologie selbst gar keine Probleme hat.

Dem freundlichen Mann mit der Plastiktüte voller Bananen und Orangen hatte die Einreise verweigert werden müssen. Der Reisende aus Gelsenkirchen war mit dem grünen Pass der Bundesrepublik an die Grenze gekommen, hatte für einen Tag die Hauptstadt der DDR besuchen wollen. Sicher nicht als Tourist, dagegen sprachen die Bananen und Orangen. Aber der Einreise wäre nichts im Wege gestanden, wenn sein Name nicht in der Fahndungskartei gestanden hätte. Der Genosse an der Passkontrolle hatte die Pflicht gehabt, dem Mann mitzuteilen, dass seine Einreise nicht erwünscht, und auf dessen Nachfrage, dass man nicht befugt sei, ihm eine Auskunft zu erteilen. Der Passkontrolleur hätte ihm auch beim besten Willen keine andere Auskunft geben können. Der Grund der Einreiseverweigerung war in der Fahndungsakte nicht vermerkt. Wenngleich der bundesrepublikanische Pass in diesem konkreten Fall einen gewissen Hinweis gab – als Geburtsort stand da nämlich Bischofswerda in Sachsen. Außerdem war das Dokument erst vor knapp zwei Jahren ausgestellt worden.

Es sprach also manches dafür, dass der Mann erst vor zwei Jahren aus der DDR ausgereist war. Legal. Im Falle einer illegalen Ausreise hätte nämlich der Straftatbestand der „Republikflucht“ vorgelegen und der Name des Betreffenden wäre in der Fahndungsakte für eine Festnahme annonciert gewesen. Wer hingegen via Ausreiseantrag die DDR verlassen hatte, dem wurde eine Rückreise, selbst wenn sie nur besuchsweise geplant war, in der Regel für einige Jahre verweigert. Damit wollte die DDR-Regierung jene demotivieren einen Ausreiseantrag zu stellen, die Eltern, Verwandte und Freunde zurücklassen würden. Eine solche Abschreckung mag in einigen Fällen auch gelungen sein. Vielfach aber trafen sich die getrennten Familien in anderen Ländern des Ostblocks – während einer Städtereise in Prag oder einem Badeurlaub in Bulgarien oder Rumänien.

Schließlich hatte Harald Jäger selbst den enttäuschten Mann zur Vorkontrolle/Einreise oben an der Brücke zurückgebracht. Der Abgewiesene sollte keine Gelegenheit bekommen, zu Bewohnern der nahe stehenden Wohnhäuser oder zu Passanten in Rufweite jenseits des Grenzzauns Kontakt aufzunehmen. Eigentlich hätte er den Mann stumm dorthin begleiten müssen. Doch der Oberstleutnant war neugierig. Vielleicht weil dessen Geburtsort Bischofswerda nicht so weit von Bautzen entfernt lag, der Heimat der eignen Kindheit. Oder weil man aus dessen Sprache noch immer den lausitzschen Zungenschlag heraushören konnte, der ihm vertraut und sympathisch war.

Was ihn veranlasst habe die DDR zu verlassen, hatte er den Mann gefragt, der mit hängendem Kopf neben ihm hertrottete. Um nach Amerika reisen zu können, hieß die Antwort. Ob er denn inzwischen schon dort gewesen sei? Viele Schritte des Schweigens waren gefolgt. Dann war der Mann plötzlich stehen geblieben. Nein, denn eine solche Reise könne er sich nicht leisten. Lange wäre er arbeitslos gewesen und auch jetzt habe er nur einen schlecht bezahlten Job. Aber das Gefühl zu haben, dass seine Regierung ihm eine solche Reise niemals verbieten könne – das sei Freiheit!

Es ist kurz vor neun Uhr. Oberstleutnant Jäger parkt den Wagen in seinem Wohngebiet in Hohenschönhausen, in dem ausschließlich Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit wohnen.

„Ganz schön geheim für einen Geheimdienst, wenn man die Mitarbeiter schon an der Adresse erkennt“, hatte er zu den neuen Nachbarn gesagt, als sie vor einem Jahrzehnt gemeinsam hier einzogen.

Der Mann, der die Mauer öffnete

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