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Der schöne Antonio

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Weil aller Anfang süß ist wie das Lied von den zwei kleinen Italienern, beginnt die Geschichte in den 1950er-Jahren in Bad Thulsern, einem Allgäuer Städtchen, idyllisch eingebettet im magischen Dreieck zwischen Kempten, Lindau und Füssen, und zwar in der dortigen Bäckerei Schaumlöffl. Was erzählt wird, geschah in jenen fernen Tagen, als der Geist Adenauers über das Land wachte und das Böse verlässlich aus dem Osten kam. Das Gute dagegen kam entweder aus Amerika oder aus dem Süden. Man erkannte es an den Liedern. Sie erzählten von einem Frühlingstag im sonnigen Sorrent und von den Caprifischern. Damals war der Zebrastreifen noch nicht obligatorisch, und was ein Mensch zählte, wurde nicht allein von seinem Konto bestimmt. Jedenfalls war seinerzeit die Kirche noch im Dorf, und was bald darauf als Wirtschaftswunder bezeichnet werden sollte, war den meisten Menschen ein ferner Traum am Nachkriegshorizont. Dennoch war allerorts schon so etwas wie die Luft besserer Zeiten zu spüren, denn der Krieg war vorbei, und man fing an, sich wieder etwas zu gönnen. Man entdeckte die kleinen Freuden des Alltags.

Ungelogen: Sie hieß wirklich Schaumlöffl, Maria Magdalena Schaumlöffl, und sie war das einzige Kind des Zuckerbäckers August Schaumlöffl und seiner Ehefrau Martha. Wer damit angefangen hat, das Fräulein Schaumlöffl mit Madame anzusprechen, ist heute nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit zu eruieren. Fest steht jedenfalls, dass sich diese Form der Anrede „Madame“ rasch etablierte und, wie übereinstimmend befunden wurde, der Respekt gebietenden Erscheinung der tüchtigen Geschäftsfrau sogar durchaus angemessen war.

Madame Schaumlöffl, eine glänzend im Strumpf stehende Mittdreißigerin, die wie eine resche Mittzwanzigerin aussah, war durch Schleckereien reich geworden. Sie hatte bei ihrem Vater, einem weithin angesehenen Zuckerbäcker, das Handwerk gründlich gelernt und eines Tages, als der Alte begann, die Zutaten zu verwechseln, das elterliche Geschäft übernommen und zu dem gemacht, was es heute in der Welt der Feinschmecker ist: ein Begriff. Wo immer Madame Schaumlöffl aufkreuzte, tuschelte man nicht nur über ihr fabelhaftes Aussehen, denn sie war so gesund und rotbackig, sondern auch über den Umstand, dass Madame Schaumlöffl nie geheiratet hat, also eigentlich eine Mademoiselle Schaumlöffl war.

Bis sie eines Tages dem schönen Antonio Sidara begegnete, einem Reisenden in Sachen Damenunterwäsche. Er hatte sich ein Sprichwort aus seiner Heimat zu Herzen genommen, das da sagt: Cu nesci, arrinesci. „Wer weggeht, hat Erfolg.“ Dieser Bonvivant aus Kalabrien führte nur feinste, hauchdünne Modelle in seinem Musterkoffer mit sich, eines sündhafter, ja verruchter als das andere, und samt und sonders Mailänder Marken, die nicht nur für Qualität, sondern auch für hohe Preise bürgten.

Wie der Kalabrese es angestellt hat, dass ihn Madame Schaumlöffl bei sich zu Hause empfing, ist nicht bekannt geworden. Auffällig war nur, dass er bereits nach dem zweiten Besuch bei ihr übernachtete. Im Gästezimmer, wie sie ausdrücklich gegenüber ihren Freundinnen betonte.

Antonio Sidara war freilich ein Hallodri. Das sah man ihm auf Anhieb an: souveränes Auftreten, geschmeidige Bewegungen, glutvolle Augen, Brillantine im Haar, ein gepflegtes Menjou-Bärtchen, elegantes Äußeres und ein schmachtender Blick, mit dem er offenbar jede Frau für sich und sein ebenso kostspieliges wie frivoles Angebot einnehmen konnte. Er sprach Deutsch mit einem gepflegten italienischen Akzent, was für sein Geschäft zweifellos einträglicher war als lupenreines Hochdeutsch. Dabei setzte er vor allem seine in der Luft kurvige Gestalten formenden Hände ein, gestikulierte, fuchtelte, deutete, schmeichelte, speichelte, streichelte, ließ seine gepflegten Finger wie ein Paganini spielen, wedelte und tätschelte, als gelte es, dem Teufel eine Seele zu gewinnen.

Was er Madame Schaumlöffl alles aufgeschwatzt und angedreht hat, konnte man nur ahnen, wenn gelegentlich – wie aus purem Zufall – irgendwo eine zarte Spitze hervorlugte. Hin und wieder glaubte man auch, ein geheimnisvolles seidenes Knistern zu vernehmen, wenn Madame sich bückte oder auf eine Staffelei stieg, um aus den oberen Regalen etwas herunterzuholen. Sobald man jedoch dieses Raschelns gewahr wurde, dachte man unwillkürlich an Antonio Sidara, und man hatte das Bedürfnis, umgehend die Beichte abzulegen.

Der Kalabrese war nämlich, nicht wie sonst üblich, nach wenigen Tagen des Aufenthaltes im Allgäu weitergezogen, sondern er war geblieben. Und zwar im Hause der Madame Schaumlöffl, und es hatte nicht lange gedauert, bis er bei den Honoratioren am Stammtisch einen festen Platz erobert hatte und naturgemäß das große Wort führte. Dabei ging es – außer in einigen versauten Herrenwitzen zu vorgerückter Stunde – nicht mehr um Damenunterwäsche, sondern um Grundstücke, und es sollte sich herausstellen, dass besagter Sidara auch dafür einen Riecher hatte. Zunächst vermittelte er Wohnungen zu Freundschaftspreisen: unter der Hand, versteht sich. Kein halbes Jahr später hatte er bereits ein kleines Büro, schaffte sich eine energische Sekretärin an, die das Telefon bediente, und betrieb einen schwunghaften Handel mit einer neuen Mode, die sich Ferienwohnungen nannte, zu der auch Urlaub auf dem Bauernhof kam. Längst hatte Sidara einen Sitz im Stadtrat und saß, wie praktisch, dem Bauausschuss vor. Als der Vorsitzende des Skiklubs von einem Herzinfarkt gefällt wurde, rückte der selbstlose Italiener nach und sorgte dafür, dass sich nicht nur neue Skilifte in die Steilhänge fraßen, sondern auch namhafte Wettkämpfe ins Allgäu kamen, die via Radio in alle Welt übertragen wurden. Kurz: Die Bäume des Antonio Sidara schienen in den Himmel zu wachsen, und Madame Schaumlöffl, die auch nach der pompösen Hochzeit mit weißer Kutsche, Schimmeln und einer beinahe kirchturmhohen Torte weiterhin ihre Zuckerbäckerei betrieb, zu der sich mittlerweile zahlreiche Filialen gesellt hatten, wurde immer runder, rotbackiger und stolzer.

Was einzig fehlte war ein bambino, ein Stammhalter, obwohl der Italiener hundertfach versprochen hatte, seiner Angebeteten zu zeigen, wie man Tango im Liegen tanzt. Ein Knäblein sollte es werden, das einmal die Geschäfte übernehmen würde, wofür sich seine Erzeuger krummgelegt hatten. Doch ein solcher Kronprinz wollte und wollte sich, porca miseria, nicht einstellen.

Angesichts dieses einzigen Wermutstropfens im Goldpokal des Schaumlöffl-Sidara-Kartells meldete sich, zuerst ganz zart, so etwas wie Trübsal im Gemüt der Rotwangigen. Die Trübsal nahm, wie Madame, zu, denn Madame begann, auf Rat der Frauenärztin, Pillen zu schlucken. Doch alles, was beruhigt, macht dick, hatte die Frau Doktor dunkel, aber wahrheitsgetreu geraunt, und so geriet Madame Schaumlöffl allmählich zur Madame Dampfnudel. Die fachärztliche Vermutung, dass die Kinderlosigkeit nicht etwa ihrer weiblichen Infertilität geschuldet war, sondern am kalten Samen von Signore Sidara liegen könnte, erschütterte die geschäftlich erfolgreiche Zuckerbäckerin zutiefst. Ihr ganz mit seinen diversen Posten, Pöstchen und Geschaftlhubereien, sehr diskret freilich auch mit seiner neuen Sekretärin beschäftigte Tausendsassa hielt das für eine glatte Fehldiagnose. Trotzig begann er, sich zum Gegenbeweis hormonell auszutoben, so dass ihm bald der Spitzname „Häuptling Offene Hose“ vorauseilte. Weibliches Personal wollte nicht länger mit ihm allein sein. Dafür stieg sein Ansehen an den Stammtischen, und es wirkte sich auf die Inhalte sowie die sprachliche Ausgestaltung besagter Witzchen aus.

Auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen und politischen Karriere ereilte Antonio Sidara ein schwerer Schicksalsschlag in Gestalt einer frühreifen Fünfzehnjährigen, deren geradezu sensationell zu nennende körperliche Entwicklung zahlreiche Herren der Gemeinde wohlwollend und aufmerksam beobachtet und wortreich mit einschlägiger Terminologie kommentiert hatten. Das überwiegend kurzberockte Wesen mit unendlich langem, edel geformtem Fahrgestell und beträchtlich ausgefüllten Pullovern war als Lehrmädel in der Zuckerbäckerei von Madame Schaumlöffl angestellt.

Wer hier wen wozu verführt haben mag, bleibe dahingestellt. Jedenfalls stellte die Frauenärztin von Madame Schaumlöffl, die sich von Anfang an aus einem angeborenen mütterlichen Instinkt heraus des naiven Vögelchens angenommen hatte, nach einer kurzen Untersuchung routiniert und zweifelsfrei fest, dass Nachwuchs in Sicht und das junge Ding in der Hoffnung war.

Sidara, der unter Heulen und Haareraufen ein melodramatisches häusliches Geständnis ablegte und dabei den Verführten, ja den Hereingelegten mimte, schlug seiner Holden vor, das Lehrmädel zu adoptieren, doch Madame Schaumlöffl lehnte es ab, auf einen Schlag Mutter und Großmutter zugleich zu werden, denn immerhin würde Sidara dann seine (adoptierte) Tochter geschwängert haben.

Im Allgäu bleibt ein Geheimnis nicht lange geheim. Als die Sache ruchbar wurde und gerichtliche Briefe ins Haus flatterten, legte der Stadtrat dem Vorsitzenden des Bauausschusses nahe, von seinem Amt zurückzutreten. Überhaupt wurde das Wort „Rücktritt“ der wichtigste Begriff in der einstmals so steil bergauf führenden Karriere des Antonio Sidara. Es ging nämlich von jetzt auf gleich bergab. Und zwar rasant. Binnen Jahresfrist kam es nicht nur zu einer Taufe, sondern auch zu einem Gerichtsverfahren, dem ein Scheidungsprozess folgte.

Madame Schaumlöffl nahm die junge Mutter und deren Leibesfrucht, einen prachtvollen glutäugigen Jungen mit südländischem Einschlag, unter ihre großmütterlichen Fittiche. Wie ein Lämmchen sah der Kleine aus, weswegen er auf Rat der Madame Schaumlöffl auf den schönen Namen Aniello getauft wurde. Madame fühlte sich endlich am Ziel ihrer fraulichen Wünsche, denn sie hatte nun gewissermaßen Kind und Kindeskind, die Nachfolge der Zuckerbäckerei war gesichert, das vormals naive Vögelchen entwickelte sich zu einer tüchtigen Geschäftsfrau, blieb solide und schickte seinen Sprössling mit Omas finanzkräftiger Unterstützung bald zu seinen Verwandten nach Campodivespe im fernen Kalabrien.

Sidara wurde verurteilt, nahm das Urteil unter Zähneknirschen an, verzichtete auf Revision, erhielt jedoch nie Besuch im Gefängnis, wo er sich bald die einflussreiche Position eines Kalfaktors erquasselt hatte. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, verließ er um etliche Jahre und Erfahrungen reicher den Knast just mit jenem Musterkoffer in der Hand, mit dem er einst eingezogen war. Man hat lange nichts mehr von dem Mann mit der flinken Zunge gehört, denn die Zeit der Hausierer in Sachen Damenunterwäsche war definitiv abgelaufen. Er musste sich etwas Neues einfallen lassen, was bei seinen vielfältigen Talenten kein ernstes Problem war. Schon hatte er etwas mit Gastronomie im Auge: Eine Gelateria oder eine kleine Pizzeria, wie sie gerade in Mode kamen. Die Kontakte, die er während der letzten Jahre hinter Gittern knüpfen konnte, erwiesen sich als tragfähig. Man musste im Leben nur die richtigen Räder ölen und die alte Apothekerregel anwenden: Schmieren und salben hilft allenthalben.

Er musste jetzt nur noch seinen Sohn aus Campodivespe zurückrufen, damit dieser bald das neue Geschäft übernehmen konnte.

So fing es an.

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