Читать книгу Der Fisch in der Heizung - Gerhard Moser - Страница 10
ОглавлениеSpare in der Zeit, dann hast du nichts mehr in der Not…
Das Telefon läutete. Verflixt, immer diese Störungen. Der Dienstplan für die nächste Woche sollte längst fertig sein. Seit einem halben Jahr arbeitete ich nun als Pflegedienstleitung in einem großen Alten- und Pflegeheim im schönen Heidelberg. Die Aufgabe war eine große Herausforderung, die mir viel Spaß machte, aber auch enorm viel Einsatz abverlangte. Oft war es für mich sehr schwer, da mir einige Mitarbeiter Probleme bereiteten. Andere wiederum hatten Probleme mit mir.
So gab es eine Stationsschwester, knapp sechzig Jahre alt, die schon seit über dreißig Jahren im Haus arbeitete. Plötzlich hatte sie nun einen Schnösel von 24 Jahren vor der Nase sitzen, der mit seinen Ideen und Vorstellungen frischen Wind in ihre „heile“, aber völlig betriebsblinde Welt bringen wollte und so ihre tägliche, uralte Routine ins Wanken brachte. Stundenlang führte ich Gespräche mit ihr, meist leider ohne Erfolg. Sie befürwortete viele meiner Ideen und fand sie auch toll, letztendlich arbeitete sie aber doch nach ihrem alten Schema. Die Mitarbeiter hingen dabei oft zwischen den Stühlen. Von mir kamen klare Dienstanweisungen, die Stationsschwester hingegen verlangte von ihnen, nach der alten Methode zu verfahren. Wie sollten sie sich da verhalten? Wer hatte das entscheidende Wort?
Mechanisch griff ich zum Telefon.
„Ja, bitte?“
„Der angekündigte Neuzugang ist da. Würden sie bitte ins Büro kommen“, teilte mir der Heimleiter kurz mit und legte auch schon wieder auf. Also blieben die Dienstpläne, wie so oft in den letzten Tagen, erstmals wieder liegen und ich fuhr mit dem Lift vom 3. Stock ins Erdgeschoss. Beim Betreten des Büros schlug mir ein unangenehmer, beißender Geruch entgegen. Was da auf dem Stuhl saß, war auf den ersten Blick kaum als menschliches Wesen zu erkennen: Völlig abgemagert, die Haare fettig und verklebt, die Kleidung völlig verschmutzt, und die sichtbaren Hautstellen waren mit dicken Dreckkrusten überzogen. Zusammengesunken saß die alte Frau auf dem Stuhl und murmelte leise vor sich hin. Was um sie herum vorging, nahm sie offensichtlich nicht wahr. Die Frau vom Sozialamt, die sie gebracht hatte, gab uns verschiedene Papiere und den Schlüssel der ehemaligen Wohnung.
„Die meisten Sachen sind völlig unbrauchbar. Vielleicht finden Sie in dem ganzen Dreck wenigstens noch einige Möbelstücke, mit denen Sie das Zimmer ausstatten können. Die Kleider müssen ohnedies alle neu angeschafft werden. So eine verwahrloste Bude hab' ich mein Lebtag noch nicht gesehen.“ Sie sprach von der Frau, als handelte es sich bei ihr um einen wertlosen Gegenstand. Nach diesem aufschlussreichen Kommentar packte sie ihre Tasche und ging, ohne mit der Frau noch ein Wort gewechselt zu haben. Zunächst brachte ich Frau Klein hinüber zur Pflegestation, wo sie gebadet wurde und neue, hauseigene Kleidung bekam. Was nach dieser Prozedur zum Vorschein kam, war ein mageres, sehr verängstigtes und total verwirrtes Wesen. Bestimmt war dies das erste Bad seit Jahren und Frau Klein verstand gar nicht, was da mit ihr geschah. Der Hausmeister hatte aus dem hauseigenen Möbellager vorerst ein Bett, einen Schrank und einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen in das zukünftige Zimmer gestellt. Zur Begrüßung stand, wie im Hause üblich, ein bunter Blumenstrauß auf dem Tisch. Frau Klein ging direkt auf den Strauß zu und berührte zärtlich die Blüten. Ihre Augen strahlten. Für einen kurzen Moment wich die Angst aus ihrem Gesicht. Sie setzte sich auf den Stuhl und betrachtete nur die Blumen. So ließ ich sie zunächst einmal alleine. Anfangs fiel Frau Klein der Kontakt zu Mitpatienten recht schwer. Doch nachdem sie einige Tage wieder gegessen und sehr viel getrunken hatte, änderte sich ihr ganzes Verhalten. Ihr Erinnerungsvermögen kehrte schrittweise zurück, sie sprach in zusammenhängenden, klaren Sätzen. Viel konnte sie nicht erzählen, da die letzten Monate in ihrem Gedächtnis völlig fehlten. Wir kamen auch nie dahinter, was alles geschehen war. Ihre Erinnerung endete an dem Tag, an dem ihr über alles geliebter Mann verstorben war. Von da an war sie völlig auf sich selbst gestellt.
Am nächsten Vormittag fuhr ich mit dem Heimleiter in Frau Kleins ehemalige Wohnung, um nach Kleidungsstücken und eventuell noch brauchbaren Möbeln für ihr Einzelzimmer zu suchen. Was wir vorfanden, war ein Riesenchaos. In allen Zimmern stapelten sich verdreckte Kleidungsstücke, Zeitungen und Unrat. Dazwischen standen, völlig zugebaut, die Möbel. Zwei der vier Zimmer waren fast bis zur Decke vollgestopft. Zuerst öffneten wir ein noch zugängliches Fenster, um in diesem Gestank überhaupt atmen zu können. Am liebsten wären wir gleich wieder gegangen, aber Frau Klein brauchte dringend Kleidung. So fingen wir in der Küche mit der Suche an. Ein total verdrecktes Sofa stand an der rechten Seite. Es musste als Bett benutzt worden sein, da es das einzige Möbelstück in der Wohnung war, welches einigermaßen frei zugänglich war. Um das Sofa herum standen Töpfe, Gläser und Dosen, mit Ausscheidungen gefüllt und einfach mit Zeitungen oder Kleidungsstücken zugedeckt. Die Toilette im Badezimmer hatte Frau Klein offensichtlich in den letzten Wochen nicht mehr verwendet. Zu unserer Überraschung fanden sich in dem ganzen Durcheinander viele löchrige, nun unbrauchbare Pelzmäntel und tolle Hüte. Frau Klein musste einmal eine gutsituierte Frau gewesen sein. Als wir nach Stunden den Schrank im ehemaligen Schlafzimmer freigearbeitet hatten, fanden wir endlich auch brauchbare Kleidungsstücke – und was für welche! Abendkleider aus Seide, zwei fast neue Pelzmäntel, noch verpackte Unterwäsche und einige Paar Schuhe, ungebraucht und noch in den original Schuhkartons. An Möbeln, so wie sie jetzt aussahen, konnte man wohl nichts mehr verwenden. Als wir jedoch im dritten Zimmer stöberten, entdeckten wir einen fantastischen Mahagonischrank, herrlich mit Intarsien gearbeitet. In der gleichen Machart war auch das Bett, das nebst Spiegelkommode und einem Tisch unter dem ganzen Gerümpel auftauchten. Die Möbel mussten zwar erst aufgearbeitet und poliert werden, aber dafür hatte unser Hausmeister ein goldenes Händchen. So sollte es möglich sein, Frau Klein ein Stück ihrer gewohnten Umgebung zu erhalten. Zunächst packten wir die neuen Schuhe und die brauchbaren Kleidungsstücke zusammen. Die Anziehsachen kamen direkt in unsere Wäscherei. Wegen der Möbel wollten wir nochmals Kontakt mit dem Sozialamt aufnehmen. Von was hatte sich Frau Klein eigentlich in den letzten Monaten ernährt? Außer Unmengen an Tütensuppen, die am verstopften Spülbecken gelagert waren, fand sich nichts. Neben dem verschlissenen und total verdreckten Sofa häufte sich ein Stapel Zeitungen. Um das Datum erkennen zu können, nahm ich die oberste zur Hand. Fast drei Jahre alt! Was wir dann entdeckten, machte uns sprachlos. Aus der Zeitung vielen zwei 100 Mark Scheine. Als wir den Stapel Zeitungen und Zeitschriften durchsahen, kamen auch da Geldscheine ans Tageslicht. Von der Telefonzelle an der Straßenecke rief ich die Frau vom Sozialamt an und berichtete von unserer Entdeckung. Sie war so schnell da, dass sie eigentlich nur geflogen sein konnte. Hatte sie etwa Angst, wir würden uns unrechtmäßig etwas unter den Nagel reißen? Zusammen sahen wir die Zeitungen komplett durch. Nur in dem Stapel neben dem Sofa fanden sich Geldscheine, aber das in erstaunlicher Menge. Insgesamt über 50.000 Mark! Nachdem wir eine doppelte Quittung mit allen Unterschriften angefertigt hatten, nahm sie das Geld sofort an sich.
„Schließlich kommt das Sozialamt für die zukünftigen Heimkosten auf. Frau Klein bekommt natürlich ein monatliches Taschengeld“, war ihr ganzer Kommentar. Auch die gefundenen Rentenunterlagen und Kontoauszüge gingen gleich in ihren „Besitz“ über. An Möbeln und Kleidung sollten wir ruhig alles mitnehmen, was wir meinten, noch gebrauchen zu können. Es würde ohnedies alles im Hause bleiben. Der Besitzer, erfuhren wir, hätte nur noch darauf gewartet, dass Frau Klein auszog und er dann die Hütte abreißen lassen konnte.
Rechnete man das gefundene Geld und die monatliche Rente zusammen, hätte Frau Klein, selbst nach Abzug der Heimkosten und des monatlichen Taschengeldes von 128,00 DM, noch über fünfzig Jahre bei uns leben können, ohne das Geld aufgebraucht zu haben. Ob sie mit ihren 78 Jahren aber noch so lange leben würde, war mehr als fraglich. Erben waren offensichtlich keine vorhanden.
Frau Klein erkannte ihre Möbel wieder und freute sich riesig. Nach der Reinigung waren viele der Kleidungsstücke leider nicht mehr zu gebrauchen. Der Antrag ans Sozialamt auf neue Kleidung wurde umgehend genehmigt! So lebte sich Frau Klein gut bei uns ein. Sie war glücklich und dankbar. Jedes freundliche Wort brachte sie zum Lächeln und zauberte ein Strahlen in ihr Gesicht. Wie groß musste ihr Elend in den vergangenen Monaten, vielleicht auch Jahren, gewesen sein. Dabei hätte sie sich einen herrlichen Lebensabend gönnen können. War es eine Eigenart dieser Generation, sparsam zu leben? Steckte die Angst vor Hunger, Krieg und Armut noch so tief in diesen Menschen? Ich weiß es nicht.
Noch ein Erlebnis dieser Art werde ich nie vergessen.
Herr Heim war schon seit Jahren herzkrank. In der Nacht erlitt er einen schweren Infarkt und wurde mit Blaulicht vom Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert. Von dort kam er leider nicht mehr zu uns zurück. Am Tag nach seinem Ableben besuchte uns der Sohn, um die verbliebenen Sachen, vor allem aber den Personalausweis zur Erledigung der Formalitäten, an sich zu nehmen. Trotz aller Sucherei konnte Herr Heims Geldbörse nicht gefunden werden. Fast zwei Wochen später sprach mich Herr Keller, der seit Jahren das Zimmer mit Herrn Heim teilte an und erkundigte sich nach dem Verbleib seines Zimmerkollegen. Herr Keller lebte meist sehr zurückgezogen in seiner schizophrenen Welt und redete fast nie. Die Information vom Tod Herr Heims war offensichtlich nicht in seinem Gedächtnis angekommen. Als ich ihm nun erneut die Sachlage schilderte, wurde er sehr nachdenklich. Langsam ging er in sein Zimmer. Ich folgte ihm, um eventuell Hilfe leisten zu können. Langsam ging er zum Nachtisch und zog die Schublade auf. Nach einem fragenden Blick zum Kreuz über seinem Bett holte er eine braune Geldbörse hervor. Wollte er mir Geld geben, damit ich Blumen fürs Grab kaufte? Ich spürte eine extreme Nervosität, wie sie nur selten bei ihm zu beobachten war. Er kämpfte mit sich, unsicher, ob er auch das Richtige tat. Er erzählte in abgehackten Worten, dass Herr Heim ihm vor der Einweisung ins Krankenhaus diese Geldbörse zur Aufbewahrung anvertraut habe. Da Herr Heim jetzt aber nicht wiederkäme, wisse er nicht, was er damit anfangen solle. Ich bedankte mich bei Herrn Keller und brachte den Geldbeutel zur Verwaltung. Außer dem vermissten Ausweis fanden sich in der Börse fast 3.000 DM. Wahllos waren die Scheine in das hintere Fach gestopft worden. Bei nur achtzig Mark Taschengeld im Monat musste Herr Heim lange gespart haben. Wenn wir ihm mal frisches Obst, einen Saft oder neuen Badezusatz kaufen wollten, jammerte Herr Heim immer nur, er habe kein Geld.
Jetzt war er tot.
Eines weiß ich sicher: Mein sauer verdientes Geld werde ich frühzeitig ausgeben!