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ОглавлениеDer Fisch in der Heizung
Um 14: 00 Uhr sollte die Schule beginnen. Jetzt wäre eigentlich meine Mittagspause gewesen. Die Zeiten von Schule und Stationsdienst waren bei uns Schülern recht unbeliebt. Eine Woche verbrachten wir von 8: 00 Uhr bis 12: 00 Uhr in der Schule und von 14: 00 Uhr bis 19: 00 Uhr auf Station. In der nächsten Woche hatten wir dann nachmittags fünf Stunden Unterricht und von 6: 30 Uhr bis 13: 00 Uhr Stationsdienst. Das waren für uns sehr lange Tage, da es abends auch noch zu lernen galt. Jedes zweite Wochenende stand noch zusätzlich Stationsdienst auf dem Plan. Alle drei Wochen hatten wir vier Tage dienstfrei und brauchten „nur“ in der Schule zu erscheinen. So konnte man entweder ausschlafen, oder am freien Nachmittag das faule Leben genießen. Die meisten der Mitschüler nutzten diese Zeit natürlich zum Lernen. Da ich noch in Lernübung war und meine Hefte direkt im Unterricht führte, sparte ich mir viel Arbeit in der knappen Freizeit. Das Lernen fiel mir überhaupt nicht schwer. Ich konnte recht locker an die ganze Sache heran gehen. Andere Mitschüler mussten sich nach Jahren erst wieder an Schule und das ganze Drumherum gewöhnen. Da unsere Stationsschwester zu einer Besprechung gerufen worden war, musste ich den Mittagsdienst von 13: 00 Uhr bis 14: 00 Uhr an diesem Tag auch noch übernehmen. „Ob das wohl seine Richtigkeit hat“, schoss es mir durch den Kopf, „wenn ein Schüler die Verantwortung für 34 Patienten übernimmt?“ Kopfzerbrechen bereitete mir dieser Gedanke kaum, da letztendlich die Stationsschwester ihren Kopf dafür hinhalten musste. Sie hatte mir schließlich diesen Dienst aufgebrummt. Was mich jedoch ärgerte: Diese Stunde hätte ich besser zu nutzen gewusst …
Auf der Station auf der unteren Etage war eine examinierte Schwester im Dienst, die ich im Notfall rufen konnte. Doch es herrschte absolute Ruhe. Was sollte schon geschehen? Fast alle Patienten lagen zur Mittagsruhe in den Betten. Die wenigen, die sich nicht hinlegen wollten, saßen im Aufenthaltsraum, unterhielten sich, lasen Zeitschriften oder dösten vor sich hin. Also setzte ich mich an den Schreibtisch im Dienstzimmer, sonst alleiniges Vorrecht der Stationsschwester, und nahm ein Psychiatrie-Fachbuch zur Hand. Plötzlich ertönte lautes Poltern und Klappern. Hatte Herr Meier einen epileptischen Anfall? Ich rannte auf den Flur und lauschte. Das Klappern kam aus dem letzten Zimmer auf der rechten Seite. Beim Öffnen der Tür bot sich mir ein Bild zum Schmunzeln. Frau Lang, eine 93 Jahre alte und in ihrer Art sehr liebenswerte Dame, saß im Bett, die Beine unter dem Bettgitter durchgezwängt und schlug mit ihrem Gehstock fortwährend gegen den Heizkörper. „Raus, raus, komm schnell raus! Das Wasser ist doch viel zu heiß“, murmelte sie ängstlich vor sich hin. Behutsam ging ich auf sie zu und sprach sie leise an.
„Frau Lang, was ist los?“ Sie blickte hoch und ihr Gesicht begann zu Strahlen.
„Gott sei Dank, dass du kommst! Schnell mein Junge, hilf ihm da raus, bevor er sich verbrüht.“ „Wer muss wo raus?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja, stell dich doch nicht so an, siehst du ihn denn nicht? Mein Goldfisch Florian kam zu Besuch. Weil ihm die Luft im Zimmer zu trocken wurde, wollte er eine Runde in der Heizung schwimmen. Aber kaum war er im Wasser, hat der dumme Hausmeister im Keller die Heizung aufgedreht. Und nun muss mein armer Florian sterben, wenn du ihm nicht sofort hilfst!“
Ihre Unruhe wurde immer stärker. Sie versuchte an den Heizkörper zu gelangen.
„Die roten Männchen warten nur darauf, dass er gar ist und sie ihn auffressen können!“ Böse schaute sie zur Gardinenleiste hoch und schob drohend ihre Faust. Die arme Frau. Sie verkannte ja öfters die Leute, war zeitlich und örtlich völlig desorientiert, aber heute halluzinierte sie beängstigend. Ich versuchte erst gar nicht, ihr die wirren Gedanken auszureden. Kurz entschlossen öffnete ich die Balkontür und machte verjagende Gesten.
„Raus, ihr Lumpen!“ Frau Lang kicherte.
„Recht so, mein Junge, zeig denen, wo sie hingehören. Rennt nur fort, rennt in eure Höhlen.“ Das erste Problem schien gelöst. Mein nächster Griff ging zum Heizungsregler: Ich tat, als drehe ich ihn ab. Der Heizkörper war ohnedies kalt, da es Sommer war und draußen eine fast unerträgliche Hitze herrschte.
„So, die Heizung ist aus. Nun hole ich ihnen den Florian wieder.“ Mit den Händen fuhr ich am Heizkörper entlang und fischte ihren geliebten Florian heraus. Sie strahlte und streckte ihre Hände den meinigen entgegen.
„Komm Florian, jetzt bleibst du bei mir. Du wirst nicht wieder in die Heizung gehen. Wenn es dir zu trocken wird, drehst du einige Runden im Waschbecken. Der liebe Junge wird dir bestimmt Wasser einlassen.“ Ich ließ das Waschbecken halb mit Wasser volllaufen. Entspannt, ließ sich Frau Lang von mir wieder ins Bett legen und platzierte sich Florian auf den Bauch. „Puuuhhh!“ Aufatmend verließ ich das Zimmer. Das Problem war behoben. Es kehrte wieder Ruhe ein. Kaum hatte ich erneut am Schreibtisch Platz genommen, als das Geschrei wieder losging. Von wegen „Problem gelöst.“
Schnell lief ich in das Zimmer zurück. Frau Lang saß im Bett und schimpfte zum Fenster hinaus.
„Ist ihnen der Florian abgehauen?“, fragte ich sie vorsichtig.
„Welcher Florian?“, sie schaute mich entgeistert an. Von Florian wusste sie offensichtlich nichts mehr.
„Schau doch mal zum Fenster raus.“ Ich schaute zum Fenster raus, sah jedoch nur den strahlenden blauen Himmel, weiße Schäfchenwolken und eine herrliche Sonne.
„Siehst du denn nicht die schwarzen Hunde? Sie wollen mich holen!“ Ich hörte zwar die Hunde im Nachbarhaus bellen, aber sehen konnte ich nichts. Frau Lang war in keiner Weise zu beruhigen. Sie schrie und hatte unsagbare Angst, welche sich in ihrem Gesicht spiegelte. Was sollte, was konnte ich tun? Alles gute Zureden war vergeblich. So rief ich die Schwester der unteren Station zur Hilfe. Zu meiner Erleichterung kam sie auch sofort, denn ich war mit meinem Latein am Ende. Ein Blick in Frau Langs Krankenblatt reichte der Schwester aus, um zu erkennen, was in solch einem Fall helfen konnte: 10 mg Haldol. Diese wirkten auch recht bald. Als unsere „Chefin“ mich kurz vor 14: 00 Uhr ablöste, war Frau Lang fest am Schlafen. Ich war froh, jetzt in die Schule gehen zu können. Wie groß war für mich als Schüler oft der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Im Unterricht hatten wir über Frau Langs Krankenbild, die Halluzination, gesprochen. Dadurch konnte ich auf Florian und die roten Männchen richtig reagieren. Doch die schwarzen Hunde flogen für mich dann doch zu hoch.