Читать книгу Tod eines Ruderers - Gerhard Nattler - Страница 8

6. Kapitel – Donnerstag, 12. September

Оглавление

Berendtsen meldete sich am anderen Morgen auf dem Weg zu seinem Büro bei Uschi an und bediente sich unaufgefordert mit einer Tasse Kaffee, die bei ihr immer bereitstand. Er zog eine Papiertüte mit zwei belegten Brötchen aus seiner Aktentasche und biss hungrig hinein.

»Ich habe noch nicht gefrühstückt. Ich komme vom Arzt und musste Blut abnehmen lassen«, erklärte er mit vollem Mund. »Gibt es Neuigkeiten?«

»Die Taucher haben Fritz Herders Handy gefunden«, begann Uschi ihren Lagebericht. »Es ist zur Wiederaufbereitung auf dem Weg in die Technik. Roland Schubert weiß Bescheid. Er nimmt es sich sofort vor. Von Herder selbst findet sich weiterhin keine Spur.«

»Wenn er wirklich ertrunken ist, dann können wir nichts machen. Wir können nur warten, bis er auftaucht«, murmelte Berendtsen vor sich hin und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.

Hallstein klopfte an Uschis offenstehende Bürotür. »Guten Morgen zusammen. Schlechte Nachrichten?«, schloss er mit Blick auf Berendtsens sorgenvolle Miene.

»Das Handy haben wir, aber von Herrn Herder fehlt weiterhin jede Spur«, informierte Uschi.

»Wir müssen davon ausgehen, dass Herder der Mann ist, den Frau Dr. Kötter beobachtet hat. Wahrscheinlich ist er nicht aus eigener Schuld gekentert, denn zum einen war er ein erfahrener Ruderer und zum anderen, so durchtrainiert, wie diese Leute sind, hätte er sich leicht ans Ufer retten können.«

Berendtsen entdeckte die neue Wanduhr in Uschis Büro. Bahnhofsdesign. Halb elf.

»Neu?«

»Aber Chef …!? Die hängt hier seit August. Ich habe sie auf der letzten Tombola auf dem Sommerfest im Altenheim gewonnen.«

»Was haben Sie mit einem Altenheim zu tun?«

»Ich besuche Leute, die keine Angehörigen haben und plaudere ein wenig mit ihnen. Bei schönem Wetter fahre ich auf Wunsch mit manchen durch den Park oder in die Stadt, ganz wie sie wollen.«

»Ich wusste gar nichts von deinem sozialen Engagement«, staunte Hallstein. »Seit wann machen Sie das?«

»Seit einem halbe Jahr. Die Mutter meines Freundes lebt dort. Sie ist neunundachtzig Jahre alt, noch recht gut beisammen, aber sie traut sich nicht mehr, ihren Haushalt allein zu führen. Wir besuchen sie oft. Dabei ist uns aufgefallen, dass manche Leute keinen Besuch bekommen. So kümmern Micha, seine Mutter und ich uns um diese Bewohner.«

»Sehr nobel. Wirklich beispielhaft.«

»Alle Achtung. Respekt«, pflichtete Berendtsen bei. »Aber zurück zum Thema. Können Sie kurz bei Kötter durchschellen, dass wir auf dem Weg zum Institut sind? Wir können gegen halb elf dort sein.«

Uschi schlug die Rufnummer nach. Berendtsen und Hallstein machten sich auf den Weg.

****

Der Pförtner erwartete die Kommissare, meldete Berendtsen und Hallstein im Sekretariat an und führte sie in einen Konferenzraum, wie man ihn kennt, funktionell, dabei sehr nobel. Kirschbaummöbel und teure Bilder. Mehrere Fotografien von Mannschaften mit Pokalen. Ein Schwarz-Weiß-Foto mit Siegerpose von Rudolf Decker und dem jungen Dr. Kötter, wie Hallstein erklärte. Ehe sie sich recht umschauen konnten, erschien der Professor in Begleitung seines Cheftrainers. Beide in weiße Trainingsanzüge mit schwarzen Streifen und bekannten Sportlogos gekleidet mit den entsprechenden hellgrauen Sneakers aus Mesh.

»Sie wollten mich sprechen, Herr Berendtsen? Herr Hallstein, guten Tag. Darf ich Ihnen den Kollegen Hans Korte vorstellen? Er leitet das Trainingszentrum. Haben Sie etwas dagegen, wenn er anwesend ist? Wir haben gerade das Tagesprogramm besprochen. Es geht um Fritz Herder, teilte uns Frau Bremer mit?«

Hans Kortes Statur übertraf die Figur seines Chefs an Größe und an Kraft um mehr als eine Nuance. Beide Sportler standen kerzengerade und aufrecht gestreckt den Kommissaren gegenüber, die Hände auf dem Rücken gefaltet.

»Selbstbewusste Erscheinungen«, dachte Berendtsen und blickte seinen Kollegen an, der ebenso zu denken schien.

»Was ist passiert?«, fragte Korte

»Herder wird vermisst«, erklärte Hallstein.

»Wann haben Sie zuletzt mit ihm Kontakt gehabt?«, fuhr Berendtsen fort.

»Am Wochenende vor acht Tagen. Wir hatten am Samstag und Sonntag unsere Jahresabschlussfahrt und haben mit einem Grillabend abgeschlossen«, antwortete Kötter. Das sogenannte ›Fröhliche Beisammensein‹, wie man so sagt. Mit diesem Betriebsfest beschließen wir in jedem Jahr die Saison«. Ein leichtes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »In diesem Jahr wurde groß gefeiert. Zehnjähriges. Wir hatten ›Tag der offenen Tür‹. Es kamen viele interessierte Gäste, die in Gruppen am Sonntagnachmittag über das Gelände geführt wurden. Sogar die Presse war zugegen.«

»Danach wird aber das Institut nicht geschlossen?«

»Nein. Es gibt genügend Leute, die ihr Fitnesstraining ausüben, wie in jedem anderen Studio auch, die Reha‑Maßnahmen werden fortgeführt und nicht zuletzt beginnt das ›Große Sieben‹, wie die Jungen es nennen«.

»Worum handelt es sich beim ›Großen Sieben‹?«, fragte Berendtsen.

»Es handelt sich dabei um ein Trainingsprogramm, bei dem entschieden wird, wer im nächsten Jahr im Achter um die Deutsche Meisterschaft Platz nehmen darf. In diesem Jahr ist der Kampf sehr hart. Wir haben vier Kandidaten, die große Chancen haben.«

»Das klingt hart.«

»Nun, leicht ist es nicht. Die Jungs trainieren sehr ehrgeizig. Die einen wollen den Platz verteidigen, die anderen wollen einen erringen.«

»Nochmals zurück zum Fest. Wie lange hat dieser öffentliche Teil gedauert?«

»So … gegen sechs Uhr sind die letzten beiden Gäste gegangen - worden«, verriet Korte. »Es war nicht ganz einfach, denn die Eheleute kamen um zwei Uhr als erste recht ausgehungert hier an. Sie plünderten das Kuchenbuffet und ihr Durst konnte kaum gestillt werden. An dem Trainingszentrum hatten sie kein Interesse.«

»Nach der Abschussfeier bleiben die Boote unter Verschluss?«

»Wer rudern möchte, kann das tun. Es steht jedem frei. Die Wettkampfboote dürfen nicht genutzt werden. Alle anderen stehen jedem zur Verfügung. Ich selbst mache auch im Oktober häufig noch Touren mit meiner Frau. Es ist ein schönes Erlebnis in der bunten Natur. Eine Fahrt durch die Weingebiete an Mosel, Saar oder Ruwer ist eine Augenweide. Auch die Lippe hat schöne Ufer. Besonders der letzte Teil, wenn die Lippe durch die unberührte Natur fließt.«

Berendtsen bemerkte einen Anflug von Romantik in Kötters Blick.

»Ich habe in der letzten Woche mehrmals mit ihm telefoniert«, erinnerte sich Korte. »Er hatte einige Fragen zu seiner Arbeit. Er benötigte einige Daten zu den Leistungsquotienten seiner Athleten.«

»Welche Arbeit?«

»Er schrieb an seiner Dissertation.«

»Worum ging es dabei?« Hallstein hatte Notizbuch und Stift in der Hand.

»Er schrieb über das Thema: ›Möglichkeiten zur Leistungssteigerung durch Spurenelemente und Aminosäuren‹. Das Thema war mit Herrn Professor Kötter abgesprochen«.

»Wir haben es zusammen erarbeitet«, bestätigte Kötter. »Es war in der Hauptsache sein Interesse.«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen? Hat Fritz Streit gehabt oder hat er Ihnen gegenüber etwas erwähnt, was mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte? Vielleicht auch nur angedeutet?«

»Es war ein feuchtfröhlicher Abend.« Die beiden sahen sich schmunzelnd an.

»Es herrschte eine großartige Stimmung. Alle waren gut drauf«, fügte Korte an. »Ich habe lange Zeit mit ihm hinterm Fass gestanden und gezapft.«

»Waren die Kanuten vom RV auch dabei?«

»Die kamen von einer Kanalfahrt. Sie hatten in Datteln abgelegt und sind bis zum Yachthafen gerudert. Zwischendurch hatten sie ein Picknick. Die kamen gegen acht Uhr am Bootshaus an, haben ihre Kanus verstaut und sind direkt nach Hause. Einige von ihnen, vier oder fünf, haben noch mit uns ein Bier getrunken. Schmitz war auch dabei. Gegen zehn Uhr hat er abgeschlossen.«

»Gibt es eine Liste der Leute, die an dem Abend anwesend waren?«

»Wir waren mit acht Booten unterwegs. Ein Achter, fünf Doppel und drei Einer. Dazu kamen noch elf Leute, die nur zum Feiern anwesend waren. Die sechs Fahrer der Transporter haben auch mitgemacht. Und die fünf vom RV.«

Berendtsen bat um eine Teilnehmerliste.

»Am Donnerstag war Fritz hier auf dem Gelände, fällt mir ein. Ich habe sein Fahrrad im Ständer vor dem Kraftraum bemerkt, als ich nach Hause fuhr.«

»Wann war das?«

»Ich habe um siebzehn Uhr Schluss.«

»Sie haben nicht mit ihm gesprochen und nicht gesehen, was er gemacht hat?«

»Nein. Ich wusste nicht, dass er hier war. Ich habe nur das Rad gesehen, als ich nach Hause fuhr.«

»Haben Sie etwas bemerkt?«, wandte sich Berendtsen an Kötter.

Er schüttelte mit dem Kopf und runzelte die Stirn. »Ich habe ihn die ganze Woche nicht gesehen.« Sein Handy brummte. »Ja ich komme.« Er blickte Berendtsen an. »Sind wir fertig?«

Berendtsen nickte.

»Ich bin unterwegs.«

»Begleiten Sie uns zum Ausgang? Wir finden sonst womöglich nicht hinaus.«

»Gerne, Herr Kommissar.«

»Sagen Sie, Herr Korte, was war Fritz Herder für ein Mensch? Sie kannten ihn gut, nehme ich an.«

»Ein netter Kerl. Wir waren gute Kollegen und Freunde. Wir haben uns so gut wie nie privat getroffen, aber hier im Zentrum haben wir gut zusammengearbeitet.«

»War er sportlich, kräftig? Ich frage, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass er aus dem Boot gefallen ist.«

»Das ist er mit Sicherheit nicht. Er war mit seinem Boot verwachsen, durchtrainiert und kräftig. Während seines Studiums nahm er in Köln an Schwimmwettbewerben teil. Er war sogar einmal Vereinsmeister über vierhundert Meter Lagen. Er hat auf seinem Handy ein Bild mit dem Pokal. Das muss so ungefähr zwei Jahre her sein.«

»Trainieren Sie auch noch?«

»Nur noch für meine Fitness. Zweimal die Woche. Montags und donnerstags, wenn ich mir die Zeit nehmen kann. Sie wissen ja: Man nimmt sich etwas vor, aber im Alltag bleibt es oft unerledigt.«

»Haben Sie auch bei Professor Kötter ihre Arbeit geschrieben?«, wollte Hallstein wissen.

»Ich bin dabei. Allerdings schon vier Jahre. Ich habe hier viel zu tun, weil ich das Trainingszentrum leite. So komme ich nicht recht weiter. Ist mir im Moment auch nicht wichtig, denn mit der Position bin ich ganz gut zufrieden.«

»Welches Thema beackern Sie?«

»Angefangen habe ich mit der Untersuchung von Blutdoping. Leider ist mir jemand zuvorgekommen. Er hat veröffentlicht, als ich gerade eine Testmethode gefunden hatte. Pech. Jetzt untersuche ›Moderne Trainingsmethoden - Auswirkungen der Leistungssteigerung auf das Herz-Kreislauf-System‹. In dieser Sparte wurde das letzte Wort noch nicht gesprochen. Aber, wie ich schon sagte, ich habe sehr viel um die Ohren und im Augenblick auch nicht den Flow, die Sache zu Ende zu bringen.«

»Hatte Fritz diesen ›Flow‹?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Hallstein. Er hat darüber nie ein Wort verloren. Ich kann wohl bestätigen, dass Fritz sehr akribisch war bei seinen Untersuchungen.«

»Diese Spurenelemente … was hat Fritz daran so interessiert?«, fragte Hallstein nach.

»Zu diesem Thema gibt es noch Stoff genug. Es gibt komplexe Zusammenhänge von Spurenelementen, dem Mikrobiom und dem Leistungsvermögen eines Sportlers, gerade im Hinblick auf die Ausdauer, die gerade im Rudersport eine wesentliche Rolle spielt. Eine kleine Veränderung kann im Leistungssport große Unterschiede bewirken.«

Sie waren unvermittelt auf dem Parkplatz angekommen. Der Porsche mit dem Kennzeichen HK – ist das ihrer?«

»Carrera einfach. Dreieinhalb Jahre alt. Leider kein Turbo. Die grüne Farbe habe ich nicht ausgesucht, es war ein drei Jahre alter Gebrauchtwagen. Ein Schnäppchen, wie man so sagt.« Lächelnd fügte er hinzu: »Wohl wegen der Farbe. Dieses Mintgrün war damals eine Sonderlackierung.«

»Hauptsache, er fährt.« Hallstein hätte den Wagen auch trotz der Farbe genommen, aber er musste noch eine Weile darauf verzichten. Er hatte zwei Kinder.

Ein wenig Wind zog auf und der erwartete Regen setzte ein. Wie nötig er gewesen war, zeigte sich jetzt. Der Niederschlag perlte über die braune Erdkruste am Rande des Parkplatzes wie Wasser über fettiges Pergamentpapier. Das Gras und der Wald ringsum dufteten. Berendtsen hob das Schiebedach an und ließ die hinteren Fenster eine Handbreit offen. Das Laub hielt den Weg trocken. Noch.

Sie kamen am Haus der Westhoffs vorüber. Berendtsen wollte endlich mit dem Besitzer des Mofas sprechen. Er ließ Hallstein anhalten. Es goss inzwischen in Strömen. Der Wind wurde heftiger.

»Lass uns weiterfahren, entschied er. Bei dem Sauwetter können wir den Mann nicht veranlassen, uns die Vespa zu zeigen. Wir besuchen ihn beim nächsten Mal, wenn wir hier vorüberfahren.«

Hallstein war einverstanden.

Tod eines Ruderers

Подняться наверх