Читать книгу Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien - Gerhard Oberkofler - Страница 10
II.2 Student an der Philosophischen Fakultät der Alma Mater Rudolphina (1922/23–1928). Auf dem Weg zur Befreiung
Оглавление„Ein Jude kann entweder Chasside oder … Kommunist sein.
Möge er lieber Chasside sein.“
‚Ein mäßig zynischer Pole‘ 1928 in Galizien zu Ilja Ehrenburg (1891–1967)36
Nach seiner Reifeprüfung war für A. R. kein Zweifel, dass es Sinn machen würde, an der Wiener Universität zu inskribieren. Wenn irgend möglich, galt es, die Stufenleiter emporzuklettern. Erwin Chargaff (1905–2002) schildert diese für so viele Kleinbürgerfamilien typische Situation recht nett.37 Dass A. R. sich darauf kaprizierte, an der Philosophischen Fakultät seine Nationalien auszufüllen,38 kann fürs erste mit existentiellen Fragen, die er sich selbst stellte, erklärt werden. An überlebensnotwendigem Selbstbewusstsein kann es ihm nicht gefehlt haben. Der ostgalizische Jude Joseph Roth (1894–1939), dem in seinem Leben viel Schmutz begegnete, ließ den Grafen Chojnicki sagen: „Es sind stolze Menschen, die galizischen Juden, meine galizischen Juden! Sie leben in der Vorstellung, daß ihnen alle Vorzugsstellungen einfach gebühren. Mit dem großartigen Gleichmut, mit dem sie auf Steinwürfe und Beschimpfungen reagieren, nehmen sie die Vergünstigungen und Bevorzugungen entgegen. Alle anderen empören sich, wenn man sie beschimpft, und ducken sich, wenn man ihnen Gutes tut. Meine polnischen Juden allein berührt weder ein Schimpf noch eine Gunst. In ihrer Art sind sie Aristokraten. Denn das Kennzeichen des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut; und nirgends habe ich einen größeren Gleichmut gesehen als bei einem polnischen Juden“!39 War das die Realität von polnischen Juden in Wien? Die Antisemiten sahen das so und interpretierten isolierte Beobachtungen ihren Interessen gemäß. Der Wiener Orientalist Adolf Wahrmund (1827–1913), Professor an der hochangesehenen k. u. k. orientalischen Akademie, zitiert in seinem durchgehend antisemitischen Machwerk Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft einen Korrespondenten des „Oesterreichischen Volksfreundes“ vom 17. Dezember 1885 über das Leben an der 1875 gegründeten Francisco Josephina Universität in Czernowitz: „Weil aber der Jude immer ungleich mehr zu scheinen weiß, als er ist, so gehen die Herren Professoren ihm auf den Leim, befreunden sich mit ihm und dienen dann den Judeninteressen, ohne es selbst zu wissen und vielleicht auch ohne zu wollen. Ja, die Herren schämen sich des einfachen, bescheidenen deutschen Bürgers und Handwerkers, der ihnen nicht so nobel scheint wie der Jude. Der Parch40 (Jude) aber, wie stolz geht er neben dem Herrn Professor auf der Gasse und konversiert mit ihm über Politik, Gleichberechtigung und Liberalismus“.41 Karl Kraus notiert, dass ein deutschnationaler Professor genötigt worden sei, „sich gegen den Verdacht der Bevorzugung von Ostjuden“ zu wehren. Er habe das mit der Begründung getan, dass in seinem Dekanat „keine schrankenlose Aufnahme von Ostjuden erfolgt ist und im Gegenteil die Aufnahme der Ostjuden in weitgehendster Weise und nach klar umrissenen einheitlichen Normen herabgedrückt wurde“. Kraus kommentierte das sei insofern ein Fehler, als er überzeugt sei, „daß sich unter den Ostjuden manche finden, die mehr Gefühl für die deutsche Sprache haben als sämtliche Ostdeutschen“.42 1925 stellte die Wienerin Anna Strömer (1891–1966), ab 1916 in der Zimmerwalder Linken und Gründungsmitglied der KPÖ, aus Anlass des wegen der Weltwirtschaftskrise sich wieder zuspitzenden Antisemitismus mit ihrem Artikel „Jud‘ hinaus! Jud‘ hinaus!“ so wie Friedrich Engels (1820–1895) 1890 in seinem Brief nach Wien43 fest, dass die Judenhetze der „Völkischen“ und der „Christlichen“ die ganze Sachlage verfälschen würden. Im Ausbeuten gebe es, betont Strömer, keine „Rassenunterschiede“: „Ob die Arbeiter von einem Kapitalisten mit krummer Nase und platten Füßen ausgebeutet werden oder von einem blauäugigen, blond gelockten Arier: das ist gehupft wie gesprungen. Beide sind Ausbeuter und beide müssen bekämpft werden. Aber nicht, weil sie beschnitten oder unbeschnitten haken- oder stumpfnäsig, schwarzhaarig oder blond, ungetauft oder getauft, o- oder x-beinig sind, sondern weil sie sich auf Kosten der arbeitenden Klasse bereichern, sie ausbeuten“.44 Im selben Jahr schrieb Anna Strömer in der Festnummer zum Jahrestag der Pariser Kommune. Die Rote Fahne (23. März 1925) über Die Heldinnen der Kommune.
A. R. beteiligte sich seit dem Beitritt zum Kommunistischen Jugendverband an vielen Aktivitäten der KPÖ auf der Straße oder in den Lokalen. Für die Konferenzen der Roten Hilfe in deren Konferenzlokal im VII. Bezirk (Mariahilferstraße 56) organisierte er Stenographen und Maschinenschreibkräfte, gab Legitimationen zur Teilnahme aus und war bei den Vorbesprechungen mit Provinzdelegierten dabei. A. R. war Ansprechperson für die Karten der Revolutionsfeier der Roten Hilfe am 8. November 1925 im Volkshaus im XVI. Bezirk, Koflerpark, und gab solche in den Pausen der Konferenz der „Roten Hilfe“ am 24. Oktober 1925 aus.45 Seine Vortragstätigkeit in der Kommunistischen Proletarierjugend war vielfältig, im Herbst 1923 sprach er in Ortsgruppen über „Die Entstehung der Erde“, am 29. Jänner 1924 in der Ortsgruppe 2, Kleine Stadtgutgasse 3 im II. Bezirk, erstmals über „Lenin“. Die KPÖ war klein und lebte vom revolutionären Geist der Jahre nach 1917. Eine revolutionäre Partei muss keine große Anzahl von Mitgliedern haben, es genügt, dass sie die Keimzelle einer Bewegung ist. Das haben die Bolschewiki mit Lenin im riesigen Russland gezeigt oder die kubanischen Revolutionäre mit Fidel Castro (1926–2016).
An der ehrwürdigen Universität, wo im Hof die Büsten berühmter verstorbener männlicher Professoren ohne ihre Schattenfrauen aufgestellt waren, begannen die völkische und christliche Studentenschaft und der antisemitische Professorenklüngel, Juden zu diskriminieren. Stimuliert wurde die antisemitische Frontbildung an den österreichischen Universitäten durch die 1922 erfolgte Wahl des jüdischen Historikers Samuel Steinherz (1857–1942) zum Rektor der Deutschen Universität Prag für das Studienjahr 1922/23. Die sudetendeutschen Studenten hatten in Prag unter Führung von Kleo Pleyer (1898–1942) den rassistischen Antisemitismus auf ihren völkischen Fahnen vorangetragen und viel Aufmunterung von Seiten der deutschen Professoren erhalten.46 Der Akademische Senat der Innsbrucker Universität gab seinen Dekanaten 1923 nicht veröffentlichte Richtlinien, wonach es den Dekanen frei stehe, die Aufnahme von Ausländern „ohne Angabe von Gründen“ abzulehnen. Das war vor allem gegen die Ostjuden aus Polen, der Ukraine, Rumänien, Russland, Ungarn und der Tschechoslowakei und Juden aus anderen Staaten, die einen numerus clausus für ihre jüdischen Studenten eingeführt haben, gerichtet. Und, so der Akademische Senat mit seinen Theologen, es sei auch die Neuaufnahme jüdischer Inländer nach Möglichkeit zu vermeiden. Innsbruck konnte diesen Rassismus ohne jedes Aufsehen praktizieren, Wien musste sich noch etwas gedulden, obschon es nach Auffassung des 1916 aus Prag nach Wien gekommenen Wenzeslaus Graf Gleispach (1876–1944) ein Vorposten deutscher Kultur gegen den Osten war.47 Ende 1914 hatte er in der Wiener Urania über „Die strafrechtliche Rüstung Österreichs“ einen Vortrag gehalten, in dem er die Gemeinsamkeit von Krieg und Strafrecht betonte: „Beides ist Kampf, das Strafrecht ein Kampfrecht, Strafgesetz und Strafverfahren die rechtliche Ordnung für den Kampf, den der Staat tagtäglich gegen das Verbrechen zu führen hat“. Und weiter: „Für das Verbrechen des Staates gibt es nur eine Methode der Strafrechtspflege und das ist der Krieg. … Sie muss in der Vernichtung des verbrecherischen Subjektes bestehen, in dem Tode des Staates Serbien“.48 Gleispach lancierte als Rektor der altehrwürdigten Wiener Universität, unterstützt von seinem Kollegen Karl Gottfried Hugelmann (1879–1956), der stellvertretender Vorsitzender des Bundesrates war, und anderen deutschvölkischen Professoren eine rassistische Studentenordnung, die am 8. April 1930 rechtsverbindlich in Kraft gesetzt wurde. Diese wurde aber vom korrekt agierenden Verfassungsgerichtshof mit der Begründung aufgehoben (20. Juni 1931), sie sei, weil nicht in den autonomen Bereich der Universität fallend, rechtswidrig. Die Mehrheit der Universität musste sich noch bis 1938 gedulden, ehe sie sich von ihren jüdischen, sozialistischen oder kommunistischen Angehörigen befreien konnte. Das alles war aber ein Schritt hin zum rassistischen Recht des Nationalsozialistischen Staates mit allen mörderischen Konsequenzen.
A. R. war sportlich, er trat der Wiener Fußballmannschaft des Vereins Bar Kochba bei. Das war für Wiener Jugendliche nicht ungewöhnlich, denen sich viele Jugendverbände von den Pfadfindern bis hin zu Zionisten anboten. Der Fußball begann in der jungen Republik, viele junge Männer zu begeistern. Der Name Bar Kochba (Sohn des Sterns) leitet sich vom Führer des letzten großen Aufstandes der palästinensischen Juden gegen die Römer ab (132–135 n. u. Z.). Kaiser Hadrians (76–138 n. u. Z.) Feldherr Severus hatte aus Britannien kommend die aufständischen Juden in ihrem letzten Bollwerk Bethar (auch Better, Festung westlich von Jerusalem) eingeschlossen. Bar Kochba war dort mit allen getreuen Aufständischen gefallen. Jüdische Fußballer hätten sich so wie die Tschechen, Ungarn, Polen oder Jugoslawen in der Buntheit von Wien heimisch fühlen können, es wäre nicht notwendig gewesen, einen eigenen jüdischen Fußballklub zu gründen.49 Die Veränderungen von Wien seit Kriegsende waren allerdings massiv. „Die Zeiten ändern sich und mit den Dingen auch die Menschen“, sagt ein altes Sprichwort, dessen Wahrheit sich immer wieder bestätigt. Der Zionismus gewann unter jungen Juden an Boden, doch besuchte A. R. keine zionistischen Kongresse oder Sommerlager so wie der seit 1918 (bis 1934) in Wien III, Landstraßer Hauptstraße mit seiner Familie wohnende Teddy Kollek (1911–2007).50 A. R. war in seinen studentischen Jahren Funktionär seines Bar Kochba Fußballvereins. Am 22. Juni 1921 sollten sich gegnerische Jungmannschaften, zu denen die Jungmannschaft von Rapid gehörte, bei ihm für ein Sonntagsspiel am 26. Juni melden.51 Um Ostern 1922 wurde in der Wiener Morgenzeitung von einer Reorganisation des Bar Kochba Fußballvereins mit A. R. berichtet.52
Seine Nationalien an der Universität füllte A. R. ab seinem ersten Semester, also ab dem Wintersemester 1922/23, handschriftlich in der Rubrik „Religion, welcher Ritus oder Konfession“ mit „mosaisch“ aus und gab in der Rubrik „Muttersprache, Alter“ „polnisch, 18J“ an. In der Rubrik „Heimatzuständigkeit (Ort und Land)“ schrieb er „Mikulince (Galizien) Polen“, in jener zur „Wohnadresse des Studierenden“ „II Wolmutsstraße 19/22“, zur Rubrik „Vorname, Stand und Wohnort seines Vaters“ „Berl, Lehrer, ebenda“ und zu jener „Staatsbürgerschaft“ „polnisch“. Das Nationale von A. R. erhielt am Kopf im 3. Semester von Seiten der Universitäts-Quästur Wien den Stempel „Ausländer“, ab dem Sommersemester 1924 wurde die Rubrik „Muttersprache, Alter“ mit dem Stempel „Volkszugehörigkeit“ ergänzt und A. R. schrieb „jüdisch“ hinein. Ab Sommersemester 1926 druckten die Nationalien in der Rubrik „Muttersprache, Alter“ die Frage „Volkszugehörigkeit“ schon mit, welche von A. R. stets mit „jüdisch“ beantwortet wurde. Das blieb so bis zu seinem achten und letzten Semester 1927. Durchgehend gab A. R. in der Rubrik „Staatsbürgerschaft“ „polnisch“ an. Seine Eltern waren in den Meldeunterlagen von Wien als Österreicher ausgewiesen. Von der Zahlung des Kollegiengeldes war A. R. nicht befreit.
Bis hin zur Wahl eines Dissertationsthemas im Einvernehmen mit dem Wirtschaftshistoriker Alfons Dopsch (1868–1953)53 neigte A. R. eher dem noch im August 1918 für eine Professur in Czernowitz vorgesehenen Historiker Wilhelm Bauer (1877–1953)54 zu. A. R. besuchte in seinen ersten beiden Semestern die zweistündige „Einführung in das Studium der Geschichte“ von Wilhelm Bauer, im zweiten Semester dazu auch dessen zweistündige „Geschichtliche Übungen“. In den ersten Wochen des 3. Semesters von A. R., im Wintersemester 1923/24, zeichneten sich antisemitische Exzesse der völkischen, von ihren christlichen Kommilitonen unterstützten Studenten ab. Am 20. November 1923 musste die Universität vorübergehend ganz geschlossen werden. Die Vorlesungen des Mediziners Julius Tandler (1869–1936) und des Juristen Carl Grünberg (1861–1940) wurden mit den Rufen „Juden hinaus!“ blockiert. „Hinaus mit den Juden!“, diese Parole wurde durch „Hinaus mit den Marxisten“ erweitert. A. R. blieb zeitlebens damit konfrontiert. In diesem seinem 3. Semester (WS 1923/24) belegte er bei Bauer dessen einstündige Vorlesung „Die theoretischen Grundlagen der Geschichte“. Es lässt sich nicht feststellen, inwieweit Bauer seinen rassistisch politischen Eifer in seinen Vorlesungen und Übungen zum Ausdruck brachte. Er rühmte sich jedenfalls, „Juden auf den ersten Blick zu erkennen“55. Über Josef II. (1741–1790) räsonierte Wilhelm Bauer 1938 in einem zu Ehren von Heinrich Srbik (1878–1951)56 geschriebenen Beitrag, dieser habe mit seiner Toleranz nicht geahnt, „dass er mit seinen Maßnahmen schicksalhaft in das Leben nicht nur der Juden, dass er fast noch mehr in das der deutschen Nation griff, indem er durch den Zwang zu deutschem Unterricht mit Gewalt jüdische Geistigkeit in die abendländische Kultur pumpte“. Über Ludwig Börne (1786–1837) und Heinrich Heine (1797–1856) schrieb er: „Wanderer zwischen zwei Welten, litten diese Bastarde des Geistes an Heimatlosigkeit und verdeckten diese Leere bisweilen mit geradezu satanischen Ausfällen wider das Christentum, wie man sie in Heines Briefen finden kann, mit Ausfällen gegen alles Deutsche, oft auch mit grausamer Selbstzerfleischung. Von dem allen merkte das liberal gesinnte Deutschland nichts, merkte nichts und wollte nicht merken, dass da gesamtdeutsche Interessen von schicksalhafter Größe auf dem Spiel standen.“57 Für Adolf Hitler (1889–1945) war Josef II. ein „Freund der Menschen“, der in seiner nur zehn Jahre dauernden Regierungszeit als „römischer Kaiser der deutschen Nation“ noch einmal versucht habe, sich „gegen die Fahrlässigkeit der Vorfahren“ zu stemmen.58
Im ersten Semester 1922/23 konnte A. R. noch die vierstündige „Einleitung in die Philosophie“ von Wilhelm Jerusalem (1854–1923) besuchen und interessierte sich für die Darstellung des eben erst habilitierten Arthur Winkler-Hermaden (1890–1963) über die „Ostalpen im Jungtertiär“, jedenfalls hatte er diese Veranstaltung inskribiert. Wichtig war ihm, seine Kenntnisse in der Stenografie zu verbessern. Er nahm am wöchentlich zweistündigen Kurs des schon 76-jährigen Universitätslektors der Stenografie, Johann Flandorfer (1846–1931),59 der viele Jahre Reichsratsstenograph gewesen war, teil und hörte wahrscheinlich auch das eine oder andere über das Funktionieren und die Mitglieder des Reichsrats. Im zweiten Semester 1923 und am Beginn des Wintersemesters 1923/24 lernte er noch den sozialdemokratischen Politiker und Historiker Ludo Moritz Hartmann (1865–1924) kennen, der „Geschichte Italiens“ (dreistündig) und eine „Besprechung historische Fragen“ (einstündig) anbot. Im Wintersemester 1923/24 hörte er die dreistündige Vorlesung „Geschichte des Mittelalters“ des österreichischen Großhistoriker und Präsidenten der Akademie Oswald Redlich (1858–1944), dann auch jene von Alfred Francis Přibram (1859–1942), der in diesem Semester dreistündig über „Renaissance und Reformation“ vortrug und 1918 mit der Veröffentlichung von Urkunden und Dokumenten zur Geschichte der Juden in Wien begonnen hatte. Přibram, ein Freund von Sigmund Freud (1856–1939) und Josef Redlich (1869–1936), konnte 1939 nach England flüchten.60 Im Sommersemester 1924 besuchte A. R. die Vorlesung „Geschichte Europas“ (zweistündig) des deutschnationalen Viktor Bibl (1870–1947) und lernte erstmals, aber intensiv Alfons Dopsch in dessen sechsstündig angekündigten „Übungen für Anfänger“ kennen. Der Besuch des einstündigen „Philosophischen Seminars“ und der einstündigen Vorlesung über die Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879–1955) bei dem 1922 als Nachfolger von Ernst Mach (1838–1916) von Rostock nach Wien berufenen, 1936 ermordeten Moritz Schlick (1882–1936) wird für A. R. ein Muss gewesen sein. Einstein hat die Darlegung seiner Theorie durch Schlick als ausgezeichnet empfunden. Der im Bereich der Geschichte vermittelte metaphysische Interpretationsmechanismus wurde von Schlick hinterfragt und versucht, die Welt materialistisch zu deuten. Walter Hollitscher (1911–1986), nach 1945 einer der führenden Intellektuellen in der KPÖ, war einer der Schüler von Schlick. Mit Mach, der auf den jungen Einstein großen Einfluss ausübte, und mit Schlick wurde als Aufgabe von wissenschaftlicher Erkenntnis gesehen, die Erfahrung in eine möglichst ökonomische Ordnung zu bringen.61 Vielleicht war A. R. zusammen mit Béla Juhos (1901–1971) in den Lehrveranstaltungen von Schlick. Der Pfeilkreuzler Juhos erinnerte zusammen mit Victor Kraft (1880–1975) nach 1945 an den „Wiener Kreis“. Im Wintersemester 1925/26 besuchte A. R. bei Schlick noch dessen einstündige „Philosophie der Mathematik“ und in seinem letzten Sommersemester 1926 dessen einstündige Vorlesung zu „Weltanschauungsfragen“. A. R. näherte sich Dopsch an, besuchte im Wintersemester 1924/25 bei ihm nochmals dessen sechsstündige „Übungen für Anfänger“ und führte mit ihm wegen einer Dissertation Gespräche. Bruno Kreisky (1911–1990) erinnerte sich, dass Dopsch sich im Gegensatz zu vielen anderen Wiener Universitätsprofessoren nie zu irgendwelchen antisemitischen Exzessen herabgelassen habe.62 Für das Philosophicum dachte A. R. an Robert Reininger (1869–1955), dessen vierstündige „Praktische Philosophie“ er in diesem Semester besuchte. Mit dem Sommersemester 1925 war A. R. mit seiner Umschau fertig. Er besuchte wieder die sechsstündigen „Übungen für Anfänger“ von Dopsch, dazu dessen dreistündiges Angebot „Soziologische Grundfragen“, und zur Vertiefung der Philosophie Reinigers einstündige Vorlesung über Gustav Theodor Fechner (1801–1887). Viele Jahre später wird sich A. R. an Fechner erinnert haben, als er den Brief von Marx an seinen Freund Ludwig Kugelmann (1828–1902) vom 27. Juni 1870 las,63 worin Marx feststellte, dass Fechner die Dialektik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) überhaupt nicht verstanden habe, oder als er beim Studium von Lenins in Vorbereitung auf die Oktoberrevolution geschriebenem philosophischen Hauptwerk Empiriokritizismus und historischer Materialismus wieder darauf stieß. Da wird A. R. gelernt haben, was Dialektik der Geschichte bei Marx ist, nämlich eine immanente, nur menschengeschichtliche Dialektik, während bei Hegel die Dialektik der Geschichte eine solche des absoluten Weltgeistes ist und insofern doch eine säkularisierte, weil an die Stelle der Transzendenz Gottes eine absolute Metaphysik gesetzt ist. Aber es war doch bereichernd, dass A. R. einmal von Fechner und den mit diesem Namen verbundenen Anfängen der naturwissenschaftlich vorgehenden Psychologie und dem idealistisch-spiritualistischen philosophischen System und dessen panpsychistischem Charakter hörte.64 Im Wintersemester 1925/26 besuchte A. R. erstmals Vorlesungen des von Graz nach Wien gekommenen Heinrich Srbik, der im Einvernehmen mit Dopsch Zweitbegutachter seiner Doktorarbeit sein sollte. Srbik las dreistündig über „Reformation und Gegenreformation“. Hinzu kamen in diesem Semester ein „Repetitorium der Wirtschaftsgeschichte“ bei der eben von Dopsch habilitierten Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Erna Patzelt (1894–1987) und eine Lehrveranstaltung bei dem 1919 habilitierten, aus dem galizischen Judentum stammenden Althistoriker mit byzantinischem Schwerpunkt Ernst Stein (1891–1945) über „Kirchenverfassung und Staatskirchenrecht bis zum Konzil von Chalcedon“. Die deutsche Studentenschaft hatte nicht vergessen, ihn in die Liste der Fakultätsmitglieder „nicht arischer Herkunft“ aufzunehmen.65 Zu dem studentenfreundlichen Ernst Stein pflegte Viktor Matejka (1901–1993), der 1919/20 mit dem Studium der Geschichte begonnen hatte, eine freundschaftliche Nähe.66 „Methodik des Geschichtsunterrichtes“ war in diesem Wintersemester 1925/26 eine weitere Lehrveranstaltung, die A. R. besuchte. Das ist verwunderlich, weil A. R. als Berufsziel nicht das Lehramt im Kopf haben konnte. Es wird der Vortragender Heinrich Montzka (1875–1941) gewesen sein, der A. R. veranlasst hatte, in diese Vorlesung zu gehen. Montzka, der ab dem Schuljahr 1923/24 von Innsbruck kommend Gymnasialdirektor am Sperlgymnasium in Wien II, war, galt als guter und erstaunlich fortschrittlicher Geschichtspädagoge. Er war ausgebildeter Historiker und hatte 1898 mit einer Arbeit „Über die Quellen zur chaldäisch assyrischen Geschichte in Eusebios von Caesareas Chronik“ 1898 in Wien promoviert.67 Montzka hielt Vorträge im Leopoldstädter Volksheim und vielleicht kannte ihn A. R. von dort her. Das 1931 von Montzka publizierte Buch über die Entstehung der Republik wurde von der Arbeiterzeitung der „proletarischen Jugend“ empfohlen, es sei „frei von jeder reaktionärer Heimtücke und ehrlich, demokratisch, republikanisch“.68 Im Sommersemester 1926 beendete er seinen regelmäßigen Besuch von Vorlesungen. Neben der schon erwähnten Lehrveranstaltung von Schlick besuchte er bei seinem Dissertationsvater Dopsch dessen dreistündige Übersichtsvorlesung „Die politischen Theorien des Mittelalters“ und bei Heinrich Gomperz (1873–1942) dessen einstündige Einführung in „Platons Ideenlehre“. Welche „Abschweifungen“ mag Gomperz vorgenommen haben? Er, der aus einer angesehenen und wohlhabenden jüdischen Familie stammte, gehörte einem sich in Jugendtagen gefundenen, elitären Diskussionsklub, Sokratiker, an und gestand mit dem Klubnamen „Simmias“ den geistigen Arbeitern eine selbständige Rolle in der Klassengesellschaft zu. Dabei war ihm die Rolle jener als „Demagogen, Volksredner und Zeitungsschreiber, die sich bei der Masse der Handarbeiter am erfolgreichsten einschmeicheln“, ein Gräuel.69 Erich Weinert (1890–1953) verfasste 1931 ein Gedicht „An die Geistesarbeiter“, welches für diesen Kreis nützlich gewesen wäre, um über die Kathederwelt hinauszukommen.70 Im Sommersemester 1926 ging A. R. zudem in die Vorlesungen des interdisziplinär forschenden, seine Ergebnisse popularisierenden und wegen der Diskussion über die Klimaveränderungen wieder entdeckten Geographen Eduard Brückner (1862–1927), der fünfstündig „Geographie von Mitteleuropa“ angekündigt hatte. Nur einstündig war die von der Pionierin der Entwicklungspsychologie Charlotte Bühler (1879–1963) angekündigte „Sozialpsychologie“, die bei A. R. aber erkennbaren Eindruck hinterließ. Dass A. R. sich auf die für den psychischen Lebenslauf wichtigen Daten von Lenins Jugend so intensiv konzentrierte und die Frage beantworten wollte, weshalb Lenin ein Revolutionär geworden war, kann mit den Anregungen von Charlotte Bühler zusammenhängen. Forschungsschwerpunkt von Charlotte Bühler, von dem sie in ihren Vorlesungen erzählte, war die Psychologie von Kindheit und Jugend und überhaupt die menschliche Biographie.71
1925 erschien Heinrich Ritter von Srbiks (1878–1951) Darstellung über den Staatsmann und Menschen Metternich72 und enfachte unter Historikern eine lebhafte Diskussion. Metternich galt in allgemeiner Wahrnehmung bis dahin als Feind aller liberalen und nationalen Bewegungen in Europa, als Repräsentant des feudalabsolutistisch gesetzmäßigen Zustandes. Srbik ließ die spezifisch „österreichische Note“ Metternichs, der sich um den Bestand Österreichs als eines stabilisierenden Faktors in Europa gesorgt habe, deutlich werden. Der Srbik des Metternich-Buches erinnert da und dort an ironische Passagen in Robert Musils (1880–1942) „Der Mann ohne Eigenschaften“ über den eher zu Depressionen als zu hysterisch nationalistischen Ausfällen neigenden österreichischen Patriotismus, weniger an den von Karl Kraus geschilderten aggressiv-tödlichen Habsburgerchauvinismus. Dopsch mag bei der Lektüre des Srbik-Buches aufgefallen sein, dass die ökonomischen Zusammenhänge des Vormärz in ihrem Bezug auf das Verhältnis der Habsburgermonarchie zu Deutschland separat herausgearbeitet werden müssten. Vielleicht wurde Dopsch durch A. R. an den aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammenden und vielfältig deutschnational tätigen Historiker Heinrich Friedjung (1851–1920) erinnert, der ein Bündnis zwischen Österreich und Deutschland favorisierte. Es gab eine eigene, von Přibram und Hartmann gegründete „Friedjung Gesellschaft“, die mit ihren zeitgeschichtlichen Vortragsambitionen keine Wirkung erzielte. Eine Zeit lang war der aus einer ungarisch jüdischen Familie stammende Friedrich Engel-Jánosi (1893–1978) ihr Vorsitzender.73 Wie überheblich das jüdische Bildungsbürgertum sein konnte, zeigt die Bemerkung von Engel-Jánosi über Bürgermeister Karl Seitz (1869–1950), man merke diesem „ehemaligen Volksschullehrer seine geringe Schulbildung in keiner Weise an“.74 Dopsch ließ seinen Schüler A. R. nachforschen, weshalb es im Vormärz nicht zu einem gemeinsamen Zollverein und gemeinsamen Postwesen von Österreich und Deutschland gekommen war. A. R. arbeitete gründlich, er lernte mit archivalischen Quellen umzugehen. Unter erstmaliger Heranziehung von Materialien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie des Finanzarchivs legte A.R. 1927 als Dreiundzwanzigjähriger seine maschinenschriftliche Dissertation Der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840 bis 1848 (189 Seiten) vor.75 In den Wiener Archiven herrschte eine benutzerfreundliche Atmosphäre, worauf der Chefarchivar Ludwig Bittner (1877–1945), der sich früh den Nazis anschloss, Wert legte. Das Typoskript von A. R. umfasst 189 Seiten (Folioformat) und gliedert sich in zwei Hauptteile: Österreich und der deutsche Zollverein (Österreich und der Zollverein bis 1840 – Der Plan eines deutschen Schifffahrtsbundes – Die Krise des Zollvereines und die Zollreform in Österreich – Krakau und der Handelsvertrag mit Preußen), sowie Österreich und die Gründung des deutschen Postvereines (Die Agitation für die deutsche Postreform – Die österreichische Briefportoreform – Die Vorbereitung des Postvereines – Einzelverhandlungen mit den deutschen Staaten – Eine Ruheperiode – Ein süddeutscher Postverein? – Die erste deutsche Postkonferenz).
Die deutschen Österreicher waren ein Teil des deutschen Volkes und mit diesem durch Geschichte, Sprache und Kultur verbunden. Auf diese Merkmale kommt A. R. nicht zu sprechen, weil die ökonomischen und politischen Faktoren für die kapitalistische Entwicklung entscheidend wirksam geworden sind. A. R. konzentriert sich auf politische Versäumnisse des österreichischen Regierungssystems, die den „großdeutschen“ kapitalistischen Nationalstaat verhinderten: „Die günstige Stimmung in Deutschland konnte nicht ausgenützt werden, die Krise des Zollvereines ging vorüber, ohne dass es Österreich gelungen wäre, irgendeinen Einfluss in Deutschland zu erreichen, oder auch nur einen handelspolitischen Vorteil zu erlangen. […] Nie mehr wieder ergab sich eine so günstige Gelegenheit, den Anschluss an Deutschland zu erreichen, wie sie diesmal so schmählich verpasst wurde. Srbik versucht die Schuld an dem Misslingen der Zollreform [Franz Anton von] Kolowrat [(1778–1861)] und [Franz von] Hartig [(1758–1865)] zu zuschreiben, die, von den Industriellen beeinflusst, Widerstand geleistet hätten. Dies ist jedoch unrichtig. Kolowrat und Hartig haben wohl, den Fabrikanteneinflüssen nachgebend, die Bedeutung der Zollreform abzuschwächen geholfen, dass aber nicht einmal diese verschlechterte Reform ins Leben getreten ist, dass sie die endgültige Ablehnung zugelassen haben, daran trifft sie nicht mehr Schuld, als die übrigen Mitglieder der Staatskonferenz, als Metternich und [Karl Friedrich von] Kübeck [(1780–1855)]. Die hauptsächlichste Schuld trug das österreichische Regierungssystem […].“
Das Metternichsche System, dessen realpolitischer Zusammenhang sich auf die Person des Kaisers reduziert, verhinderte der Argumentation von A. R. zufolge den wirtschaftlichen Anschluss Österreichs an Deutschland. Die Geschichte Europas hätte einen anderen Verlauf genommen, doch welcher Verlauf dies gewesen wäre, kann und will A. R. hier gar nicht andeuten: „Aber der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland im vorigen Jahrhundert und der Anschluss Österreichs von heute haben miteinander nur mehr den Namen gemeinsam. Schon politisch hat sich das Bild ganz geändert. Damals war der Anschluss Österreichs an Deutschland eine rein deutsche Frage, deren Lösung nur durch die beiden deutschen Partner erfolgen sollte. Heute steht dem Anschluss, sei er auch nur rein wirtschaftlich, außer den inneren Hindernissen hier und in Deutschland, noch das harte Machtgebot der Sieger von 1918 entgegen. Aber der wichtigste Unterschied ist der wirtschaftliche. Heute ist Österreich ein armer Staat, der in dem Anschluss an Deutschland seinen letzten Rettungsanker sucht; damals war es wirtschaftlich eine achtungsgebietende Macht, deren Anschluss beiden Teilen zumindest den gleichen Vorteil gebracht hätte. Der Zusammenschluss zweier so mächtiger Wirtschaftsgebiete wäre ein Ereignis geworden, das imstande gewesen wäre, die wirtschaftliche Gestaltung Europas zu verändern. Heute würde der Anschluss höchstens die Rettung der Wirtschaft Österreichs bringen. Zweimal stand im vorigen Jahrhundert die Frage vor Österreich. Das erste Mal in der Metternichschen Periode zur Zeit der Gründung und Konsolidierung des Zollvereines, das zweite Mal nach der Revolution als ein Teil des Bruck-Schwarzenbergschen Planes76 des ‚70 Millionen Reiches‘. Beide Male scheiterte der Anschluss. War es in der zweiten Periode vor allem der durch den politischen Gegensatz Österreichs und Preußens hervorgerufene Widerstand des letzteren Staates gewesen, der den Anschluss verhindert hat, so hielt in der ersten Periode vor allem das Unverständnis der österreichischen Staatslenker Österreich von dem Anschluss ab. Als man in der Metternichschen Periode erkannte, wie notwendig der Anschluss gewesen wäre, machte das eingerostete Regierungssystem eine Umkehr und den Anschluss an den Zollverein unmöglich. Aber die Lehren aus den Niederlagen, die der Zollverein bereitet hat, suchte man auf dem Gebiet des Postwesens zu verwerten. Doch auch diese Reform verzögerte die ‚Staatskunst‘ Metternichs, so dass sie erst nach der Revolution vollendet wurde.“
Zu Beginn des zweiten Teiles seiner Dissertation resümiert A. R.: „War das Verhalten Österreichs gegenüber der deutschen Handelseinigung keineswegs einem Range als deutsche Großmacht entsprechend, verhinderten hier diplomatische Unfähigkeit, durch die Augenblicksinteressen beschränkter Horizont seiner Regierungsmänner sowie Nachgeben gegenüber dem Geschrei profitsüchtiger Kapitalisten einen Anschluss an den deutschen Zollverein, so spielte es doch auf einem anderen wichtigen Gebiete der materiellen Interessen Deutschlands eine rühmlichere Rolle. Österreich ist der Vorkämpfer und der Initiator der Einigung Deutschlands auf dem Felde der Postverhältnisse gewesen“.
Die Niederlage der bürgerlich demokratischen Revolution 1848/49 und die Festigung der preußischen Hohenzollern-Monarchie wie der österreichischen Habsburgermonarchie separierten die deutsche Bevölkerung Österreichs von der sich rasant entwickelnden deutschen Nation. Mit seiner Einschätzung der historischen Langzeitfolgen des überholten politischen Systems und mit seiner Betonung der gestaltenden ökonomischen Geschichtskräfte geriet A. R. in Widerspruch zu Srbiks Interpretation der Metternichschen Ära. Srbik kommentiert in dem in der Nationalbibliothek überlieferten Typoskript von A. R. eigenhändig: „Wenn Sie schon polemisieren, dann bitte ehrlich! Srbik“. Es spricht für Srbik, dass er A. R. keine Steine in den Weg legte, was mit dem universitätsinternen antisemitischen Netzwerk „Bärenhöhle“ möglich gewesen wäre.77 Nach Approbation seiner Dissertation bereitete sich A. R. auf die Ablegung der strengen Prüfungen vor und promovierte am 23. Mai 1928 zum Dr. phil. Die Drucklegung seiner Doktorarbeit unterblieb, doch findet sie sich im 1954 (!) erschienenen dritten Srbikschen Metternich-Band annotiert.78
Gutachten von Alphons Dopsch und Heinrich Srbik über die Doktorarbeit von Arnold Reisberg (1927)
Die vorgelegte Arbeit hat außer der gedruckten Literatur, über welche das Verzeichnis am Schlusse (S. 177 ff u. bes. 188 f) Aufschluß gibt, archivalische Quellen der Wiener Staatsarchive verwertet. Sie gibt eine übersichtliche Darstellung der Bestrebungen Österreichs, den wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland, will damals sagen den deutschen Zollverein, zu gewinnen. Das Scheitern dieser Versuche, für welche mit der Krise des Zollvereines Anfangs der 40er Jahre, zunächst günstige Vorbedingungen auftraten, wird wohl zu einseitig beurteilt (vgl. S. 53) u. dabei zu wenig auf die politischen u. verfassungsrechtlichen Auswirkungen Rücksicht genommen. Die zweite Phase stellen die Wirtschafts-Verhandlungen mit Preußen nach der Einverleibung Krakaus in die Habsburgische Monarchie (S. 55 ff) dar.
Als Kernpunkt der Arbeit kann die Geschichte der Gründung des deutschen Postvereines bezeichnet werden (S. 72 ff), welche durch Österreich angeregt worden ist u. bisher keine entsprechende Behandlung gefunden hat, obwohl derselbe als Vorläufer des Weltpostvereines zu betrachten ist.
Der Verf. hätte vielleicht an verschiedenen Stellen etwas mehr Zurückhaltung in der Äußerung subjektiver Urteile beobachten sollen, da dies die persönliche politische Einstellung zu deutlich erkennen läßt. Im ganzen bekundet er aber eine zureichende Vertrautheit mit den Grundsätzen historischer Methodik u. hat es auch verstanden, das vielfach spröde Quellenmaterial zu einer lesbaren Darstellung zu verarbeiten.
Ich glaube daher, daß diese Dissertation genügt, um den Verf. zu den strengen Prüfungen zuzulassen.
Wien 10. Oktob. 1927 A. Dopsch m.p.
Ich schließe mich obigem Gutachten an und lehne gleichfalls die – zum Teil mit den Quellen geradezu unvereinbaren – Werturteile der im übrigen fleißigen und recht brauchbaren Arbeit ab, soweit der erste Hauptteil (Zollvereinsfrage) in Betracht kommt.
Wien 13. Oktober 1927 Srbik m.p.