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Einleitung von Hermann Klenner

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Es ist für mich eine Ehre besonderer Art, der Lebensgeschichte eines Arnold Reisberg einige Zeilen voranstellen zu dürfen; eine Freude ist es überdies, dass deren Autor Gerhard Oberkofler heißt.

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Gemeinsam mit seiner Frau Eleonore wohnte Arnold Reisberg während seiner letzten Lebensjahre in Berlin, zehn Hausnummern von mir entfernt. Wir kannten uns. Als Leser seiner Bücher habe ich ihn bewundert, aber in Kenntnis seines Schicksals habe ich ihn verehrt.

Einem anderen von mir Verehrten, dem Österreichischen Kommunisten, Widerstandskämpfer und Wissenschaftler Eduard Rabofsky, verdanke ich die Bekannt- und (spätere) Freundschaft mit Oberkofler, den er mir in Innsbruck anlässlich eines dortigen Vortrages als seinen Mitstreiter vorstellte und ihn mir als auch meinen Mitstreiter empfahl. Was Oberkofler auch wurde, wie unter anderem von ihm angeregte gemeinsame Publikationen über Friedrich Carl von Savigny und Arthur Baumgarten belegen.

Meine (gewiss ungewöhnliche!) Verehrung von gleich zwei Mitlebenden erklärt sich am besten aus meinem eigenen Leben: Als Achtzehnjähriger war ich im August 1944 in die Wehrmacht eingezogen worden, verpflichtet und bereit (schließlich: „Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt!“), in den Krieg zu ziehen und „für Führer, Volk und Vaterland“ – wie es damals offiziell hieß – erforderlichenfalls mein Leben zu geben. Als ich nach dem Sieg der Alliierten über das Nazi-Regime und dessen dann mir bekannt werdenden Gräueltaten im In- und Ausland zu begreifen begann, welchem Verbrecher-Regime ich als Gefreiter einer Granatwerfer-Kompagnie gedient hatte, aber auch, dass die Niederlage Deutschlands in Wirklichkeit die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus bedeutet, begann ich radikale Konsequenzen zu ziehen:

In Erinnerung an meinen das Nazi-Parteiabzeichen an seinem Rock tragenden Konfirmationspfarrer sowie des auf meinem eigenen Koppelschloss eingravierten „Gott mit uns“ bin ich – mit dem Theodizee-Problem ringend – als verwundeter Kriegsgefangener im Frühjahr 1945 aus der Kirche ausgetreten. Bauarbeiter geworden, trat ich Anfang Januar 1946 in die SPD ein, wissend und wollend, dass bald deren Vereinigung mit der KPD erfolgen wird. Und schließlich habe ich Jahre später als kleinen Wiedergutmachungsbeitrag auch und besonders über Denker jüdischer Herkunft publiziert, so über Eduard Gans, Heinrich Heine, Ferdinand Lassalle, Karl Marx, Moses Mendelssohn, Heinrich Bernhard Oppenheim, Baruch de Spinoza.

Das voranstehend Geschilderte brachten mir im Verlauf meines Nachkriegslebens Freunde und Feinde ein. Die Kraft allerdings, nun seit Jahrzehnten aus Einsicht in die sich aus den Eigentumsverhältnissen ergebende Dialektik von Reichtum und Armut für Sozialismus/Kommunismus und natürlich für Frieden einzutreten, auch die unausbleiblichen Niederlagen einzustecken, kam nicht nur aus den Erkenntnissen meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Gestehen muss ich: Ohne das persönliche und literarische Kennenlernen von Menschen, die unter ungleich schwierigeren Verhältnissen, zuweilen gar aussichtslosen Bedingungen die Fahne der Vernunft nicht aus den eigenen Händen gaben, wäre ich vielleicht doch eines unschönen Tages den Unsicherheiten, Zweifeln, Fragwürdigkeiten und Bevormundungen durch meine eigene Obrigkeit erlegen und hätte kapituliert. Und dann gibt es ja auch noch die traurige Gewissheit, dass ich nach der weltgeschichtlichen Niederlage der mit der Oktoberrevolution begonnenen Sozialismusversuche in der westlichen Welt nichts anderes mehr erleben werde als den realexistierenden Kapitalismus mit seinen Kriegen, Ausbeutungen und Unterdrückungen. Ihm sich anzupassen, bringt ja auch „Vorteile“, und Wendehalsgeschmeidigkeit zahlt sich zuweilen aus.

Aber ich hatte das Glück, unter den standhaftesten deutschen Wissenschaftler-Remigranten Arthur Baumgarten, Ernst Engelberg, Jürgen Kuczynski, Werner Krauss, Walter Markov, Alfred Meusel, Hans Mottek, Karl Polak und Leo Stern erleben zu dürfen. Das hat mir ungemein geholfen zu bleiben, was ich bin. Und nun wird mir noch durch den aus vielen Veröffentlichungen bekannten Wissenschaftshistoriker Gerhard Oberkofler im Ergebnis seiner auf höchstem Niveau erfolgten Quellenforschung das Schicksal von Arnold Reisberg (1904–1980) zugänglich gemacht. Bis in alle, weithin bisher unbekannte Einzelheiten und eingebettet in die Geschichte Österreichs. Um es scharf zu formulieren: Wer dieses Werk gelesen und dadurch Reisbergs Leben miterlebt hat, kann nicht mehr, wenn er Sozialist war, schwach werden und von seinen Überzeugungen lassen.

Dem „Jüdischen Revolutionär aus Galizien“ war im Verhältnis zu den vorab genannten Remigranten das härteste Leben beschieden. Man ist versucht, von ihm als von einem Märtyrer zu sprechen. Zum Märtyrer gemacht durch die eigenen Genossen! Als Zwanzigjähriger (mosaischen Glaubens) war er in die Kommunistische Partei Österreichs eingetreten, hatte später als ein in Wien Promovierter die Propagandaabteilung beim ZK der KPÖ geleitet. Zuvor mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert, wurde er 1934 als polnischer Staatsangehöriger aus Österreich ausgewiesen. Er emigrierte in die Sowjetunion, wo er zunächst als Lektor an der Internationalen Leninschule arbeitete. 1937 wurde er wegen angeblich antisowjetischer Propaganda verhaftet, aus der KPÖ ausgeschlossen, zu fünf Jahren GULag verurteilt und 1949 für weitere fünf Jahre nach Ostsibirien verbannt. Rehabilitiert wurde er 1955, nach achtzehn Jahren Unterjochung. Da Österreich dem inzwischen zum sowjetischen Staatsbürger gewordenen galizischen Juden ein Visum verweigerte, übersiedelte er 1959 wunschgemäß in die ihn dann einladende DDR, wo er fortan lebte, forschte, sich 1964 habilitierte und in Permanenz publizierte. Streng wissenschaftliche, aber auch propagandistische Literatur. Mit einem Ehrendoktorat versehen sowie dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold, auch dem Banner der Arbeit, ausgezeichnet, starb er nach schwerer Krankheit am 20. Juli 1980.

Im Mittelpunkt des literarischen Werkes von Arnold Reisberg, zugleich im Zentrum seiner – wie Oberkofler es nennt – „Glaubenskraft“ stand Lenin, der russische Revolutionär, dessen deutsche und jüdische Wurzeln von Reisberg (anders als von vielen anderen) nicht verschwiegen werden. Über ihn und die internationale Arbeiterbewegung hat er wissenschaftliche Literatur zuhauf publiziert. Überdies hat er auf mehr als eintausend Seiten Lenins Leben und Wirken dokumentiert, wie von keinem anderen aus den Originalquellen erarbeitet, versteht sich.

Reisberg war sich bei seiner Würdigung Lenins im Klaren darüber, dass von fast allen, die sozialistisches Denken sozialdemokratisieren oder „transformationsideologisch“ in eine bürgerliche Weltanschauung integrieren wollen, Lenin nicht als getreuer Nachfolger von Marx charakterisiert, sondern nur noch als Wegbereiter späterer GULag-Verbrechen diffamiert wird. Reisberg aber war entgegengesetzter Auffassung. In seiner den Lenin des Jahres 1917 darstellenden Monographie rechtfertigt er ohne Wenn und Aber Lenins radikalsten Text Staat und Revolution, dieses, wie Oberkofler es zutreffend einschätzt, geniale Werk.

Reisbergs außergewöhnliche Wertschätzung Lenins stimmt mit der Meinung vieler intellektueller Größen dieser und jener Art überein: Stefan Zweig (Lenins Fahrt aus seinem Schweizer Asyl nach Petrograd im versiegelten Zug 1917 ist eine Sternstunde der Menschheit); Paul Loebe (Lenin ist einer der ersten Plätze in der Geschichte der menschlichen Gesellschaftsentwicklung gesichert); Arthur Hollitscher (Lenin war das erwachte Gewissen der Menschheit, in seiner Todesstunde stand das Herz der Menschheit für einen Augenblick still); Maximilian Harden (aus Lenins Gruft ruft sein Genius mit prometheisch unbrechbarem Trotz); Heinrich Mann (Lenins Größe wird mir immer begreiflicher, wenn ich sehe, was aus Deutschland wurde); Thomas Mann (Lenin war ohne Zweifel eine säkulare Erscheinung); Bernhard Shaw (Lenin war der größte Staatsmann in ganz Europa); Romain Rolland (durch alle Stürme steuerte er sein Schiff mit vollen Segeln der Neuen Welt entgegen); Karl Kautsky (Lenin war eine Kolossalfigur, wie ihrer nur wenige in der Weltgeschichte zu finden sind); Martin Andersen Nexö (Lenin personifizierte die größte Idee in der Entwicklung der Menschheit, getragen von den Geringsten in der Weltgeschichte).

Aber nicht mit der Hochschätzung Lenins durch die Vorgenannten, die er voller Genugtuung auch zitiert, oder durch andere Rühmenswerte (Einstein: ich verehre in Lenin … er hat seine ganze Kraft für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt) begründete Reisberg seine eigene Auffassung. Selbst wenn er die inzwischen herrschend gewordenen, sich zwar nicht auf den Inhalt von Lenins Auffassungen, wohl aber auf deren internationalen Rang beziehenden Einschätzungen noch hätte erleben können, wonach Lenin einer der „politischen Großdenker aller Zeiten“, ein „Klassiker der Staatsphilosophie“ sei (vgl. Lenin, Der Marxismus über den Staat. Staat und Revolution, von Hedeler und Külow edierte Kritische Neuausgabe, Berlin 2019, S.1–23), hätte er diesen historischen Respekt nicht als Begründung für seine eigene Sichtweise genutzt. Reisbergs Überzeugungskraft, so Oberkofler, komme nicht aus angelesenen Marx-Texten oder den glorifizierenden Meinungen anderer, sondern aus seinem von ihm selbst erlebten, als wahr erkannten und von ihm durch eigenes Handeln in Gebrauch genommenen Marxismus.

Auch Pauschalurteile waren Reisbergs Sache nicht. Er hatte sich sein Leninbild aus den Urtexten hart erarbeitet. Hunderttausend Einzelheiten hat er über Lenin zusammengetragen und quellenmäßig belegt. Er stellte sich aus kommunistischer Überzeugung in den Dienst Lenins. Von sich selbst sagte er: „Ich habe kein höheres Ziel gekannt, als Lenins Gedanken zu propagieren, unter den Arbeitern und der studierenden Jugend zu verbreiten. Ich war immer stolz darauf, ein treues Mitglied der Kommunistischen Weltbewegung zu sein.“

Den geneigten Lesern von Oberkoflers Reisberg-Biographie sei abschließend wiederholt gesagt: Diejenigen – ob Frauen oder Männer, ob Juden oder Christen, Muslime oder Atheisten –, die durch das Lesen dieser Biographie Reisbergs Leben mitgelebt haben, werden danach andere sein, als sie es vorher waren.

Hermann Klenner

August 2020

Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien

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