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duo: telephonium et animus Zwei: Telefon und Psyche

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Auf dem Heimweg musste ich, als Ergänzung zum soeben Erlebten sozusagen, immerfort an Wenzels Vorgänger, den Urschwager denken. Nach dem alles in allem doch recht gelungenen Nachmittagsfrühstück mit Herrn Wiener reizte mich ein, wenn auch theoretischer, Vergleich zwischen den beiden Dauerbrennern unfreiwilliger Witzigkeit, die sich in ihrer spontanen Humortristesse gegenseitig übertrafen und weit von den weniger exaltierten Zeitgenossen abhoben. Der Sache auf den Grund zu gehen, gedachte ich, sofort nach meiner Heimkunft unter einem Vorwand mit dem Schwager der Vergangenheit zu telefonieren. Zwar wusste ich nicht genau, was ich eigentlich von ihm wollte, aber vielleicht konnte ich ihm insgeheim die eine oder andere Information entlocken, die ein weiteres Mosaiksteinchen zur Klärung des Gesamtkomplexes beitrug.

Paul Landmann ist aus Worms gebürtig. Es ist dies, lieber Leser, (alle Wormser jetzt mal einige Zeilen überspringen, anderes bringt euch nicht weiter, Jungs und Mädels), eine rheinhessische Schnarchstadt, die außer einem elenden Fuselgesöff namens Liebfrauenmilch in den letzten hundert Jahren keinen mir bekannten Beitrag zum Fortschritt der Menschheit geleistet hat, noch vermutlich in Zukunft leisten wird. Früher, ja früher, war alles anders, Kaiser hat sie beherbergt, die Stadt Worms, Konkordate herausgegeben, Reichstage abgehalten. Aber danach? Nichts mehr weit und breit, nur noch Elend zuhauf in der Stadt Worms sowie in Wald und Flur, von denen sie umgeben ist, soweit keine Autobahn die um sich greifende Zerrüttung eingrenzend beschneidet oder einschneidend begrenzt. Wobei durch den Bau der Autobahn 61 im Westen, selbiger mit der Numero 6 im Süden und einem leidlich befestigten Teilstück einer mit der schönen Ziffer 44 betitelten Bundesstraße im Osten die Landesregierung schon einigen guten Willen gezeigt hat, ohne Frage. Allein der Norden wirkt, da lediglich durch die Ansiedlungen Westhofen, Osthofen, Rheindürkheim und Biblis nur leicht gesichert, noch einigermaßen durchlässig, aber man arbeitet daran.

Worms ist Scheiße, hat Wenzel sich einmal unmissverständlich verlauten lassen. Obwohl er noch nie in der von ihm unbewusst mit Recht so kloakig eingestuften Stadt war, hatte er instinktiv den richtigen Riecher. Oder aber einen Anflug von künstlicher Intelligenz.

Nun kann man ja nichts für seine Herkunft, soviel ist klar. Aber es bleibt immer was hängen, soviel ist auch klar. Damit ist man dann gezeichnet, in der Regel das ganze Leben lang. Und Worms ist schon ein extrem kräftiger Hieb, ohne Frage. Prägend und durchschlagend.

In derlei Gedanken vertieft kam ich zu Hause an und öffnete, das Kontinuum der nun einmal begonnenen Tagesgestaltung nicht zu durchbrechen, eine Flasche Bier, besetzte in meinem Studierzimmer den bequemen Lehnsessel und starrte das Telefon an. Am liebsten wäre es mir natürlich gewesen, Altschwager Landmann würde kraft Gedankenübertragung oder sonst welchem telepathischen Hokuspokus selbst zum Hörer greifen und mich anrufen. Dann wäre ich ohne Zweifel in einem Vorteil. Technisch und psychologisch, denn das Gespräch ginge auf seine, des munteren Landmanns Kosten und zudem müsste er sich überlegen, welches Begehr er hatte, mich fernmündlich zu kontaktieren. Rief er, was allerdings zu erwarten war, nicht an, musste ich es tun und hätte damit den Schwarzen Peter, ha ha, denn ich wusste genau genommen überhaupt nicht, was ich von ihm wollte und zahlungswillig war ich auch nur bedingt. Die Stunden im unmittelbaren Dunstkreis seines zum Aberwitz neigenden Nachfolgers aber verlangten, schrien geradezu nach einem auditiven Kontakt mit dem Vorgänger, ich musste ihn einfach hören, den schelmischen Finanzexperten. Nicht wegen des Ausgleichs sondern der Vollständigkeit halber. Wie sonst konnte ich dem Schwagerkomplex Gerechtigkeit in seiner Beurteilung ohne Ansehen der handelnden Personen willfahren lassen? Allein, das Gerät blieb stumm.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: es war nicht allein die Suche nach Objektivität im Schwagervergleich, die mich so beharrlich zum Anruf beim Vorgänger Wenzels drängte. Vielmehr gedachte ich ihm in einer Angelegenheit unauffällig den Zahn zu betasten, von der ich kürzlich eher zufällig Kenntnis erlangte und die mich seitdem, zugegeben, nicht wenig beschäftigte.

Herr Egbert Reißmüller nämlich, trotz seiner relativ jungen Jahre schon als Privatier mit einem unerschöpflichen Vorrat an Zeit und Muße in unserem Viertel agierend, hatte mir unter Einfluss mehrerer doppelt eingeschenkter Weinbrände nebst den dazu gehörenden Bieren am Tresen der von uns gern besuchten Gastwirtschaft Marieneck streng vertraulich Mitteilung davon gemacht, dass Paul Landmann vor nicht langer Zeit ein mehr als eindeutiges Verhältnis mit einer Person weiblichen Geschlechts namens Kathrin gehabt habe, die, so Reißmüller, von jedermann allerdings nur Muschi genannt werde und rappeldürr sein soll. Das allein wäre noch nicht der Beachtung wert, wohl aber der Umstand, dass besagte Muschi respektive Kathrin vor der Beziehung mit dem Altschwager ein ebenso unzweideutiges Verhältnis mit dessen Nachfolger Wenzel Wiener gehabt habe, und zwar zu einem Zeitpunkt, als Landmann noch in trauter Zweisamkeit mit meiner Gattinschwester sich befand, die ja, wie schon erwähnt, nachdem sie ihm dann den Laufpass gegeben, bzw. aus der bis dato gemeinsam bewohnten Behausung geschmissen hatte, nunmehr mit Wiener fest liiert war.

Hier hatte somit ein Austausch aller Beteiligten untereinander derart stattgefunden, dass der Vorgänger des Nachfolgers bei meiner Schwägerin gleichzeitig zum Nachfolger des Vorgängers bei der schon erwähnten Kathrin oder auch Muschi geworden war, was zunächst für Außenstehende einigermaßen verwirrend klingen mochte, indes aber eine äußerst interessante Konstellation auftat.

Wie Herr Reißmüller mir weiters unter strengstem Verweis auf den Mantel der Verschwiegenheit anvertraute, ist in der reichhaltigen Beziehungswelt der Hauptakteurin Muschi bzw. Kathrin nun ein erneuter Wechsel eingetreten, indem sie dem immer heftiger werdenden Drängen des kiezbekannten Gossendichters Roland Meier erlag, und sich diesem zu- und somit von Landmann abwandte. Meier nun, der kurz vor Vollendung seines achtundsechzigsten Lebensjahres stand, soff sich die knochige Kathrin, respektive Muschi, offensichtlich zu einer Art kurvenreicher Vampirette zusammen und mobilisierte die letzten ihm noch verbliebenen Reserven derart aufdringlich, dass es der interessierten Öffentlichkeit nicht lange verborgen bleiben konnte, die den Galan fortan zunächst als Dr. Unrat bespöttelte. Im weiteren Verlauf der Affaire Meier/Muschi/Kathrin aber setzten sich im Volksmund die Bezeichnungen rolliger Roland oder schlicht geiler Meier eindeutig durch, welche weniger Allgemeinbildung voraussetzten und somit fast von jedermann sofort verstanden wurden. Außerdem trafen sie ohne intellektuelle Umschweife den Kern der Sache.

Es war nach gesicherter Erkenntnis des Herrn Egbert Reißmüller, der in unserem Viertel als seriöser und zuverlässiger Nachrichtensammler und -übermittler galt, nun schon seit Längerem bekannt, dass der Rinnsteinpoet Meier nach seiner Pensionierung sich unvermittelt von irgendeiner Muse geküsst wähnte und anfing, Unmengen Papier mit allerlei Selbst gemachtem vollzuschreiben, die Konvolute mit nicht unbeträchtlichem pekuniären Einsatz in Druck gab und Bücher daraus machen ließ, die allerdings aufgrund ihres wirren, wenig verständlichen Inhalts zunächst einmal Käufer nur in mäßiger Zahl fanden. Allerdings fühlte sich seine Familie in personae Frau und Sohn nebst einigen Tanten, Onkeln und sonstigen Anverwandten von den Meierschen Veröffentlichungen unangenehm berührt. Sie meinten, nicht einmal zu Unrecht, sich des Gespötts aller Welt preiszugeben und kauften deshalb schamhaft die Gesamtauflagen jeweils kurz nach ihrem Erscheinen, so sie ihrer habhaft werden konnten, fast komplett auf. Dabei half ihnen der Umstand, dass bei den von Meier mit großem Aufwand und allerlei Brimborium angekündigten Lesungen seiner Werke die zwei bis drei Leute, die erschienen waren, schon nach wenigen Sätzen auf Nimmerwiedersehen das Weite suchten.

Im Laufe der schriftstellerischen Karriere Meiers aber investierte die Familie nicht unbedeutende Finanzmittel, da der Schreiberling, ob des vermeintlichen Erfolgs seiner Werke, nicht nur zu immer neuen geistigen Exkursen, sondern auch immer höheren Auflagen sich angestiftet sah. Das hatte zur Folge, dass Roland Meier zusehend wohlhabender wurde, während die Familie in gleichem Maße verarmte.

Der zunehmende Wohlstand hingegen versetzte Meier in die Lage, der begehrten Muschi, in nomine Kathrin, finanzielle Mittel zum Erwerb des von ihr, so wiederum Reißmüller, arg verlangten Süßweins zur Verfügung zu stellen, die vordem weder ihr Geschenkartikelladen abwarfen, noch der geizige Landmann, sowieso eher ein Biertrinker, zu gewähren bereit war.

Wie gesagt, Herr Egbert Reißmüller galt in unserem Viertel und dort speziell in der stark frequentierten Gastwirtschaft Marieneck unbestritten als Autorität in allen Fragen des öffentlichen Interesses, wodurch seine streng vertraulichen Mitteilungen sich über jeden denkbaren Zweifel erhoben. Auch wusste er jederzeit durch Detailwissen zu glänzen – »du glaubst ja nicht, was da abgeht, Morbi, wenn der geile Meier mit der Alditüte voll Suff in Muschis Laden einläuft und dann die Jalousien runtergehen, da wackelt die Dachpfanne, sag ich dir«– und Weiteres mehr.

Mein Interesse hing weniger an der Troika Muschi/Meier/Kathrin und ihren orgiastischen Sauf- und Sexgelagen (Reißmüller) im Geschenkartikelladen mit oder ohne sichthemmende Jalousien, das war mir recht eigentlich gleichgültig. Obwohl ein paar kompromittierende Fotos von Meier dem Arschgesicht (Reißmüller) sich nicht schlecht in meiner Sammlung getan hätten, nur zum privaten Plaisier, versteht sich. Vielmehr war ich seit Egbert Reißmüllers Erzählungen doch ein wenig beleidigt, dass der Urschwager mich nicht von seiner zeitweiligen Liaison mit besagter knochig rappeldürren Kathrin, bzw. Muschi informiert hatte, und sei es nur um der Freundschaft willen. Außerdem war es mir, schon aus reiner Sorgfaltspflicht ehemaligen Familienmitgliedern gegenüber, angetan, mich um den seelischen Verbleib des nunmehr doppelt Verlassenen zu kümmern, seine psychische Verfassung sozusagen. Er sollte ja nicht vor die Hunde gehen wegen des losen Lebenswandels und der fragwürdigen Wechseltaktik dieser skelettierten Lebedame.

Hinzu kam, und es störte mich der Umstand wirklich, dass der geile Meierdödel seine Erfahrungen aus vielzähligen Lebensjahren nicht an irgendwelche unverdauliche Dichtungen verschwenden, sondern für das Schöne, Wahre, Gute (hab´ ich alles schon mal gehört oder gelesen: weiß ich auch!) einsetzen sollte. Zum Beispiel dadurch, dass er zum einen aufhörte, Blödsinn in Massen (ein Wunsch der Massen und seiner Familie selbstverständlich, die kurz vor der Verarmung steht) zu Papier zu bringen, zum anderen sollte er kraft seines Einflusses auf Muschi oder Kathrin in der Form einwirken, dass sie endlich das exorbitante Saufen aufgibt, weil sonst sowieso alles den Bach runtergeht und so weiter. Stattdessen säuft er noch mit ihr, der Kumpan des Bösen, der Wichser Roland, der rollige Bratarsch (wiederum Reißmüller).

Und zahlt noch dafür, dass er sich nächtens die blauen Flecken und eitrigen Pusteln mit Cremes und lindernden Pasten betupfen muss, die er sich von dem sinnlosen sexuellen Herumgerutsche auf Kathrins, respektive Muschis spitzen Knochenteilen zugezogen hat.

Vom eigenen sozialen Gedankengut einigermaßen überrascht, wollte ich schon zum Hörer greifen, als das Telefon aus fremdem Antrieb klingelte. Sollte es Landmann sein, der qua Gedankenübertragung meine verbale Nähe suchte? Wenn er am fernmündlich anderen Ende dieser komplizierten Technik war, schwor ich mir spontan, ad hoc und unwiderrufbar, am nächstmöglichen Sonntag in irgendeine Kirche zu gehen und einen nennenswerten Betrag im Opferstock zu deponieren, auf dass viel Gutes damit angestellt werde. Klug ist es, vorzubauen, fürs spätere Ableben und die Zeit danach, man kann ja nie wissen und besser isses sowieso.

Der Kelch aber ging an mir vorüber, bzw. kam erst gar nicht in meine Nähe, denn es war nicht Landmann, der mich zu sprechen wünschte, sondern ein Vertreter des hiesigen Ballonfahrergewerbes, der mir eine Ballonfahrt durch die laue Sommerluft wärmstens anempfahl, die ich aber mit Hinweis auf meine Höhenangst ablehnen musste. Höhenangst könne man erfolgreich bekämpfen, teilte mir der Mann vom Ballonfahrergewerbe mit, ich solle da nur guten Mutes sein.

Ich wolle meine Höhenangst aber gar nicht bekämpfen, entgegnete ich dem aufdringlichen Luftikus, weil ich mich ausgesprochen wohl mit ihr fühlte und überdies keine Lust hätte, überhaupt etwas zu bekämpfen und eben deshalb guten Mutes war. Nach einigem überflüssigen Wortgewechsel trennten wir uns durch einseitiges Auflegen des Hörers.

Es wurde wieder still um mich. Keine Standuhr ließ das Pendel schwingen, noch kauzte ein Käuzchen aus nahem Tann. Lediglich die Toilettenspülung speditierte obszön rauschig die Notdurft des Obernachbarn in die Katakomben der Kanalisation. Es ist schon erstaunlich, was diese Familie über mir so an Mengen aus ihren Körpern scheidet. Alle paar Minuten muss die Klospülung arbeiten, man mag es sich nicht vorstellen, was da abgeht. Irgendwie muss das Zeug, das da durch die Rohre rauscht, auch einmal, zugegeben, in verändertem Aggregatzustand, in die Leiber der Ausscheidenden hineingestopft werden. Das müssen unglaubliche Mengen sein.

Es klopfte kurzzeitig im Gebälk, oder war´s ein Biber beim Dammbau? Zu spät, zu spät, mein breitschwanziger Freund, der Zeiger der Uhr rundet unerbittlich den Kreis, und nachts ist dem Dammbau kein gutes Gelingen geweissagt. Irgendwo ein Husten, stöhniges Gekrächze. Dann erneute Stille.

Erotisch tut sich in diesem Haus rein gar nichts. Zumindest nichts Hörbares. Vielleicht in den oberen Stockwerken, ich weiß es nicht, höre nicht, kann es nicht hören. Andererseits laufen eine nicht geringe Zahl Kinder durch Flur und Treppenhaus. Die können doch nicht alle adoptiert oder im Wald gezeugt sein. Na bitte. Außerdem kann man ja wohl davon ausgehen, dass auf ein gezeugtes Kind eine Vielzahl nicht gezeugter, irgendwie verhüteter oder gar nicht erst geplanter Kinder kommt. Diese Versuche, so schwiemelig sie auch immer sein mögen, müssen sich doch bemerkbar machen, zumindest hörbar. Aber nichts, einsame Stille in sexueller Hinsicht breitet sich Tag für Tag und Nacht für Nacht aus. Seltsam, dieses Haus. Nun gut, bei einigen Nachbarn kann ich nach äußerlicher Beschau schon verstehen, wenn sie mit diesem Thema ein für alle Mal abgeschlossen haben. Aber die jungen Hüpfer, die müssten doch hüpfen, was das Zeug hält und die Kondition hergibt. Tun sie bloß nicht. Jedenfalls nicht hier und jetzt und überhaupt. Verlotterte Jugend kommt nicht mal der ihr von der Natur zugewiesenen Aufgabe nach. Doch ich schweife ab.

Aber der Urschwager meldet sich noch immer nicht. Obwohl meine Gedankengänge sich ausgezeichnet in sein bevorzugtes Dauerthema einordnen. Und nach dem erneuten Niedergang bei Kathrin oder Muschi, wie auch immer, dürfte der Verbalsexualismus erfahrungsgemäß bei ihm wieder auf einem berauschenden Höhepunkt, angelangt sein, einem mentalen Dauerorgasmus sondergleichen.

Da fällt mir ein, dass der neue Fotograf, Pardon es handelt sich um eine Fotografin, an der Ecke zur Hauptstraße bis Ende des Monats mit verschiedenen Sonderangeboten lockt, neben langweiligen Passfoto-Offerten und Baby-auf-Bärenfell Stumpfsinn verheißen sie unter anderem auch zehn Prozent Preisnachlass, so man eine Erotikserie in Auftrag gibt. Wobei mir allerdings verschiedene Dinge unklar bleiben. Zum Beispiel, von welchem Preis eigentlich die zehn Prozent Rabatt ausgehen und, vor allen Dingen, wie ist das mit der Erotik gemeint? Muss man da die Partnerin mitbringen, oder wird die gestellt? Oder soll man etwa selbst, oder mit der Fotografin (natürlich dann nur mit Selbstauslöser, ist ja anders gar nicht möglich), oder wie ist das alles zu verstehen? Sicher ist nur, dass Schwager Landmann diese Fragen brennend interessierten. Dennoch, trotz ungeheurer telepathischer Anstrengungen meinerseits: er ruft nicht an, nicht ums Verrecken, der Geizhals.

Außerdem plagt mich seit Wochen ein Traum, der fast jede Nacht ganz arg mich drangsaliert. Darin sitze ich in einer Klasse von vielleicht fünfzig Mitschülern, ja ich habe sie nicht gezählt, aber diese Zahl wird´s schon gewesen sein, mindestens, und ein mir recht unsympathischer Professor verteilt die Blätter für eine wichtige, wahrscheinlich die wichtigste Klausur überhaupt. Es handelt sich um Blätter, die jeweils mit einem der fünf Kontinente bedruckt sind, allerdings nur in den Umrissen, ohne Ländergrenzen, Städte- oder Flüssenamen. In den dazu gehörenden Aufgaben muss man eine bestimmte Strecke zwischen zwei festgelegten Punkten eintragen und zusätzlich die Anzahl der Kilometer auf 10 Prozent genau (schon wieder die geheimnisvolle Prozentzahl) angeben. Jeder hat fünf Aufgaben zu bewältigen. Die Erste kann ich noch bravourös meistern: von Berlin-Steglitz nach Ratzeburg über die Ausfahrt Zarrenthin. Kinderspiel, einzeichnen ungefähr, Entfernung 260 km, übern Daumen.

Aber dann kommt´s wirklich dicke. Von Paris über Neapel nach Berlin-Papestraße ist die für mich unlösbare Aufgabe. Und Timbuktu - Bad Reichenhall ohne Umweg über Grainau. Liegen die Orte überhaupt auf einem Kontinent? Oder Tananarive – Saigon und zurück über Singapur nach Lübeck-Moisling. Vergiss es.

Zum Glück wache ich an dieser Stelle immer auf und rette mich so aus größerem Desaster. Allerdings weiß ich zu Beginn des Traums noch nicht, dass Lübeck-Moisling der auslösende Wachmacher ist und durchträume bis dahin unangenehme Zeiten.

Traum hin oder her, der Urschwager rief nicht an, es half nichts, ich musste die Initiative ergreifen und wählte also die landmännische Fernsprechnummer. Schon nach wenigen Klingeltönen hatte ich ihn am Apparat.

»Hier Landmann, wer da?«, schallte es mir im vertrauten Singsang aus dem Hörer entgegen. »Hallo?«

Da ich mir trotz aller zwischenzeitlichen Grübeleien keinen Grund für meinen Anruf überlegt hatte, rief ich das Erstbeste in die Muschel, das mir einfiel:

»Allo allo, ici Radio-Television de Paris.«

»Oui oui«, ließ die Antwort nicht auf sich warten.

»Monsieur Landmann?«, spann ich den einmal aufgenommenen Faden unverdrossen weiter, wobei ich seinen Namen sowohl bei Land als auch bei Mann nach Franzosenart mit Nasalen versetzte. Ich war gespannt, wie es weiter ging, zumal meine Französischkenntnisse in Wort und Schrift und Telefon damit so gut wie ausgeschöpft waren. Meines Wissens hatte der Pensionärsschwager auch keine weiterreichenden Erfahrungen mit der Sprache Voltaires. Zur Not konnte ich immer noch auf das Spanische ausweichen. Wer konnte schon ahnen, wie schwierig in Deutschland die Kommunikation ist?

»Oui, ici Madame, äh, pardon, Monsieur Landmann, Landmann, oui oui, voulez-vous parle avec moi?«

Donnerwetter, das hätte ich ihm nicht zugetraut. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass seine Antwort inhaltlicher Blödsinn war, denn weswegen sollte ihn das Pariser Radio anrufen, wenn es nicht mit ihm reden wollte, bewies der Schwager doch nicht geringe Schlagfertigkeit.

»Je ne parle pas francais«, gab ich kleinlaut zu.

»English?«, fragte Landmann weltmännisch zurück, »Espanol, Italiana, Kisuaheli, du bloody bastard you, can you hear me, tell me, can you hear me, can you understand me? Or what?«

»Espanol es mas bien, Flamenco, Toro, Gran Canaria, Senorita Landmann es en la casa?« Ich weiß nicht, was mich ritt, diesen Schwachsinn weiter zu treiben, der Schwurbel der wienerschen Biere war in vollem Gange und ich fühlte mich wohl dabei. Landmann schien ähnlich zu fühlen, ich spürte es, sonst hätte er bei seinem babylonischen Sprachangebot nicht die einzige Sprache, die wir beide beherrschten, nämlich deutsch, ausgespart.

»Si Senor«, blökte Schwager Paul generös, ganz sicher hatte er Gefallen an der eigentümlichen Konversation gefunden, »Senorita, äh Senor Landmann es en la casa, pronto, prego, pero, äh, no tengo dinero, pesetas, caprice?«

Nun wurde der beamtete Landmann polyglott.

»Keep quiet, I´m still on your side, side si, a tu lado, que sera amigo, que sera?«

»A donde esta?«, fragte ich schamlos.

»Dorodont? Was? Que? Donde, de nada, amigo, de nada. Por favor, please, Yo soi un canario«, flötete Landmann ohne Pause vor sich hin, darin durchaus mit seinem, Nachfolger Wenzel vergleichbar, der es ebenfalls bestens verstand, ohne Punkt und Komma auf seine Umwelt einzuschwallen.

»I´m a tiger, terrible tiger, entfant terrible, don´t misunderstand me, don´t let me be misunderstood, Mr Orbison, äh, Mr Jones«, er stockte, offensichtlich meinte er Eric Burdon und kam nicht drauf. Landmann verlegte sich aufs Stöhnen:

»I got the blues, Yo soi un grande matador, je suis le nouveau Chevalier, Maurice, oui, comprende amigo?«

Es war schlicht herrlich. Verträumt hörte ich dem landmännischen Gesäusel zu. Hatte der Doyen des Schwagerwesens etwa auch einen späten Frühschoppen hinter sich? So aufgeräumt hatte ich ihn selten erlebt.

»Que hay en la tortilla?«, die Versuchung war zu groß, den Schwachsinn auf die Spitze zu treiben.

»Patatas? Gambas? Cerveza?«, mir fiel nichts mehr ein, aber der Altschwager half mir aus der Patsche:

»Ahhh, cerveza, grande cerveza, no pequeno por favor, bueno, ahhh«, jetzt kam Landmann ins Schwärmen, »un grande cerveza, grandioso, algo mas, amigo, algo mas?«

»Si senor Landmann, tambien un pequeno Osborn, po favor.«

»Ahhh, Osborn es un brandy grandioso, si, grandioso«, das Wort schien ihm zu gefallen. Landmann schnaufte verhalten in den Hörer und schwieg dann. Auch ich sah keine Veranlassung, weiteren Unsinn zu produzieren, zumal mir die verbale Munition abhandengekommen war. Der Schwager hatte mich in Grund und Boden gequatscht. Also schwieg ich ebenfalls. In die Stille hinein schnalzte der Urschwager zweimal mit der Zunge, so, als wollte er mir mitteilen, er sei noch da. Es war ein reines Nervenspiel, wer zuerst die Geduld verlieren würde. Warum fragte er nicht, wer am Apparat sei, das war doch das Mindeste, das ich erwarten konnte, von einer Frage nach dem Grund des Anrufs ganz zu schweigen. Nach weiteren quälenden Minuten schnalzender Ruhe hielt ich es nicht mehr aus.

»Que tal?«, hauchte ich in die Sprechmuschel.

»Hasta la vista amigo«, kam es aus dem Hörer zurück, »hay un fin, final, comprende, tengo termino importante, muy impotante, ahora, al presente, comprende«, sprudelte es immer lustig weiter, »por favor nueva conferencia a la manana, ok? 15 hora, ok? Adios amigo, a la manana, ahhh.« Und der Gründerschwager hatte aufgelegt, ehe ich noch Weiteres von mir geben konnte.

Auch ich legte den Hörer nieder und schaute nachdenklich aus dem Fenster zwei Eichhörnchen zu, die wuselig um einen Baumstamm tollten. War ich nun Täter oder Opfer? Meinen, aus der Unüberlegtheit heraus gestarteten, gleichwohl, zugegeben, hinterhältigen französischen Überraschungsangriff hatte der Exschwager souverän mit einem multilinguistischen Feuerwerk gekontert, das ich ihm aus dem Stegreif nicht zugetraut hatte und das in seiner polyglotten Komplexität die Vermutung aufkommen ließ, Landmann sei zum Zeitpunkt des Gesprächs gleich mir gedopt gewesen. Vom Alkohol beflügelt oder vom eigenen Guitarrenspiel berauscht, oder aber durch den Konsum bewusstseinserweiternder Substanzen kurzzeitig einem geistigen Höhenflug erlegen. Hart soll er sein, der Aufschlag in der Wirklichkeit. Doch nein, eher wohl nicht. Bier oder Wein waren die wahrscheinlichsten aller Erklärungen, der Nachmittagsstunde zum Trotze, wie schnell so etwas gehen kann, zeigte ja mein ureigenstes unrühmliches Schicksal zur Genüge.

Immerhin hatte er recht eindrucksvoll bewiesen, dass selbst der schliefigste Blödsinn in Sachen aquaristischer Internationale und vögelndem Straßenköter durch noch schwefligere Schelmereien geradezu mühelos zu toppen ist, wenn man entsprechend disponiert war. Was mag er bloß getrunken haben?

Wenn ich mir als Außenstehendem die neutrale Rolle des Unparteiischen zusprechen durfte, musste ich diese Runde als eindeutigen Punktsieg an den Grand Seigneur des Schwagerwesens vergeben. Dies wohl anerkennend der Tatsache, dass der Nachwuchsschwager mit einem rechten Aufwärtshaken in persona Manfred Choleras stark begonnen hatte und seine Taktik, durch qualliges Zurückweichen eine eruptive Konfrontation hinauszuzögern, um zum Ende hin mit der geraden Linken in Form des Seagardens nochmals zu punkten, aufgegangen war. Allein die Kompetenz des Altmeisters, seine Erfahrung und die Fähigkeit, geduldig den Zeitpunkt des Erfolgs abzuwarten und dann gnadenlos seine Routine in die Waagschale zu werfen (hasta la vista amigo), waren nicht nur beeindruckend, sondern überzeugten die Punktrichter und rechtfertigten den Sieg in allen Belangen. Doch freue dich nicht zu früh, Champion, die jungen Spunde, heute noch einmal im Zaum gehalten, stehen schon in den Startlöchern, bzw. scharren schon mit den Hufen, begierig, dich demnächst auf die Bretter zu schicken. Warten wir´s ab.

Solcherart angeheitert durch den bunten Nachmittag und das unerwartete Zusammentreffen mit zwei so grandiosen Vertretern der volkstümlichen Hochkomik, zog ich mich in meine Studierkammer zurück und beschloss, mich bei einem, hahaha, Scheidenbecher der genossenen Zeit zu erfreuen, indem ich sie im Geiste Revue passieren ließ. Es war dies einer jener Tage, die beweisen, dass auch der Herbst noch seine schönen Stunden für uns Alte bereithält.

Die Glückseligen

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