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Garsington
ОглавлениеAm 29. November 1915 erhielt Huxley eine Einladung in das acht Kilometer entfernte Garsington, welche sich für ihn in verschiedener Hinsicht als wegweisend herausstellen sollte. Die Einladenden waren Lady Ottoline Morrell, die bereits seit geraumer Zeit in ihrem Haus in London einen literarisch-künstlerischen Salon rund um den Bloomsbury-Kreis betrieben hatte, und ihr Mann Philip, ein liberaler Parlamentsabgeordneter, der sich öffentlich vehement gegen den Krieg aussprach und ebenfalls den modernen Künsten zugeneigt war. Ein paar Monate zuvor hatten die Morrells den großen, schönen Landsitz Garsington Manor bezogen, wo sie regelmäßige Treffen mit ausgewählten Literaten, Künstlern, Philosophen und Kritikern organisierten. Wichtige Vertreter der zeitgenössischen Avantgarde gingen dort in den nächsten Jahren ein und aus, unter ihnen Virginia Woolf und ihr Ehemann Leonard, D. H. Lawrence, dessen neuer Roman The Rainbow (1915; dt. Der Regenbogen) wegen seiner sexuellen Freizügigkeit gerade dem Verbot zum Opfer gefallen war, Katherine Mansfield, T. S. Eliot sowie die Malerinnen Dora Carrington, Dorothy Brett und Vanessa Bell (Virginia Woolfs Schwester). Auch die Kunstkritiker Clive Bell (Vanessas Ehemann) und Roger Fry, der Ökonom John Maynard Keynes, der Philosoph Bertrand Russell, der Biograf und Kritiker Lytton Strachey, der Herausgeber und Kritiker John Middleton Murry (Katherine Mansfields Ehemann) sowie die Stilikone Mary Hutchinson gehörten zum festen Besucherkreis.
Wie es zu der Einladung an Aldous Huxley kam, ist nicht genau bekannt, aber offenbar war er Lady Ottoline, die dafür bekannt war, Nachwuchskünstler zu fördern, aufgrund seines außergewöhnlichen Auftretens und seines vielversprechenden Talents empfohlen worden. Außerdem war er der Enkel des großen Thomas Henry. Das Treffen fand in sehr kleinem Kreise statt, es ging lediglich um ein erstes Kennenlernen. Wie er anschließend seinem Vater schrieb, genoss Aldous den Aufenthalt in Garsington, empfand seine Gastgeber aber als außerordentlich gewöhnungbedürftig:
»Lady Ottoline, Philips Ehefrau, ist eine ziemlich unglaubliche Kreatur – künstlich jenseits jeglicher Vorstellungskraft und eine Mäzenin der Literatur und der modernen Künste. Sie ist intelligent, aber ihre Affektiertheit ist überwältigend. Ihr Ehemann, der MP, ist ein arroganter Esel, sehr liebenswürdig, aber eine ziemliche Knallcharge.« (Letters, S. 86)
Lady Ottoline zeigte sich von Aldous sehr beeindruckt, schilderte ihn jedoch als wortkarg und zurückhaltend. Auch die junge Schweizerin Juliette Baillot, die sich als Gouvernante um die Tochter der Morrells kümmerte und nebenbei ein Teilzeitstudium in Oxford absolvierte, war bei dieser Zusammenkunft zugegen. Sie bestätigte:
»Er sprach nicht viel bei diesem ersten Besuch, aber sobald er dann weggegangen war, stimmten alle darin überein, dass er starken Eindruck auf sie gemacht hatte, den Eindruck eines Menschen von einzigartiger Qualität, Sanftmut und Geistestiefe.« (Gedächtnis, S. 38)
Für Aldous war dieses Treffen der Auftakt zu einer langen Reihe von Aufenthalten in Garsington Manor. Bald erstreckten sich seine Besuche über ganze Wochenenden, und die Bediensteten nannten einen der Gästeräume »Mr. Huxleys Zimmer«. Binnen kurzer Zeit übte Garsington eine immense Sogwirkung auf Aldous aus. In dem besonderen Ambiente, das es ihm ermöglichte, bereits etablierte oder sich etablierende Literaten und Künstler kennenzulernen, zeitgemäße ästhetisch-philosophische Diskussionen zu führen und sich von neuen Ideen inspirieren zu lassen, fühlte er sich sichtlich wohl. Garsington avancierte für ihn bei allem Hang zu Klatsch und Tratsch doch zum Inbegriff des modernen, freien Denkens. Aldous sah sich in einem Hort der Loslösung von überkommenen Normen und Vorstellungen, seien sie religiös-metaphysischer, politisch-ökonomischer, künstlerisch-literarischer oder auch sexueller Natur. Partnerwechsel und unkonventionelle Formen des Zusammenlebens wurden hier nicht nur geduldet, sondern aktiv gepflegt. Der Ort bot ein theoretisches wie auch praktisches Experimentierfeld. Zudem schien sich Huxleys persönliche Einschätzung der Morrells abzumildern, und schon im März 1916 schrieb er an Julian:
»Ich weiß nicht, ob du diese entzückende Person [Lady Ottoline] kennst: Ich glaube, du kennst ihren Mann Philip. Der Morrell-Haushalt gehört zu den reizendsten, die ich kenne: immer interessante Leute dort und sehr gute Gespräche.« (Letters, S. 96–97)
Direkt nach Aldous’ erstem Besuch in Garsington Manor wandte sich Lady Ottoline an D. H. Lawrence und empfahl ihm, mit dem jungen Huxley bekannt zu werden. Tatsächlich lud Lawrence Aldous bereits für den 10. Dezember zu sich und seiner deutschen Frau Frieda nach London ein. Die charakterlichen Gegensätze hätten stärker nicht sein können. Huxleys zurückhaltende, abwägende Intellektualität traf auf Lawrences schonungslose Offenheit und Ehrlichkeit, seine antiintellektuelle und antiwissenschaftliche Haltung, die die Gefühle, Leidenschaften und Triebe des Menschen in das Zentrum des Lebens rückte. Aldous war schockiert und fasziniert zugleich, denn Lawrence verkörperte diejenigen Eigenschaften, die er sich selbst eher absprach oder aktiv zu unterdrücken versuchte. Aber die Gegensätze zogen sich offensichtlich an. Lawrence erzählte Aldous von seinem Plan, in Florida eine Kommune Gleichgesinnter zu gründen, die dem europäischen Zivilisationsverfall und Zerstörungswahn entkommen wollten, und fragte ihn, ob er mitmachen wolle. Aldous sagte zögerlich zu. Das Projekt kam zwar nie zustande, aber das Aufeinandertreffen der konträren Persönlichkeiten legte den Grundstein für eine intensive Freundschaft, die erst mit Lawrences Tod an Tuberkulose im Jahre 1930 ein abruptes Ende fand und mit Huxleys posthumer Herausgabe der Briefe des Freundes eine besondere Würdigung erfuhr. Lawrence teilte Lady Ottoline gleich im Anschluss an das erste Treffen mit, wie sehr er Huxley mochte, und Aldous beschrieb Lawrence in einem Brief als großartigen Mann, obgleich er dessen Geringschätzung des intellektuellen Lebens ausdrücklich ablehnte.
Garsington Manor: Vorbild für den Landsitz Crome in Huxleys erstem Roman Eine Gesellschaft auf dem Lande
Das neue Jahr brachte früh die Einführung der Wehrpflicht, und Huxley unterzog sich einer erneuten Musterung, die ihn natürlich als für den Kriegsdienst völlig unfähig herausstellte. Zu diesem Zeitpunkt liebäugelte er noch mit dem Gedanken, eine Tätigkeit in der Auslandspressestelle des Kriegsministeriums aufzunehmen, musste sich aber eingestehen, dass das zu erwartende Arbeitspensum für seine Augen eine maßlose Überforderung bedeuten würde. Zudem verstärkte sich die bereits jetzt spürbar zunehmende Abkühlung der anfänglichen Kriegseuphorie in Huxleys Fall zusehends in Richtung einer den Kampf ablehnenden und verurteilenden Haltung. Hier erwiesen sich die prägenden Eindrücke und Gespräche in Garsington Manor als einflussreich. Der in der Öffentlichkeit als konspirativ und unpatriotisch angesehene Ort bildete eine pazifistische Oase für anerkannte Kriegsdienstverweigerer wie Bertrand Russell, Clive Bell oder Lytton Strachey. Diese konnten dort wohnen und alternativ zur Kriegstätigkeit produktive Landarbeit verrichten. Außerdem besuchte Aldous im Frühjahr 1916 wiederholt Verweigerertribunale, die er als äußerst entwürdigend und ungerecht wahrnahm und seine Sympathien explizit gegen den vorherrschenden Tenor einnahmen. Bereits Ende März schrieb er an Julian, dem er dringend davon abriet, nach Europa zu kommen und sich im Krieg zu engagieren: »Je länger sich dieser Krieg hinzieht, desto mehr hasst und verabscheut man ihn. Zu Beginn hätte ich sehr gerne gekämpft; aber jetzt, wenn ich könnte […], wäre ich, glaube ich, ein Kriegsdienstverweigerer«. (Letters, S. 97)
Nähere Bekanntschaft schloss Aldous bald nach dem ersten Kontakt mit Juliette Baillot, die er zusammen mit ihrem Schützling Julian Morrell zum Tee in sein Studentenzimmer einlud, wo er die Gäste mit brillant rezitierten Passagen aus Alice im Wunderland, dem Struwwelpeter und Max und Moritz unterhielt. In Garsington traf er auch auf eine alte Bekannte aus seinen Kindertagen in »Prior’s Field«: die Malerin Barbara Hiles, die sich dem Bloomsbury-Kreis angeschlossen hatte. Auch Lytton Strachey, den er als »seltsame Kreatur« und »langhaariges und bärtiges Individuum« (Letters, S. 89) beschrieb, lernte Aldous zu dieser Zeit kennen. Allerdings gab es zwischen ihm und dem zukünftigen Autor des biografisch angelegten Großerfolges Eminent Victorians (1918) wohl eher wenige Berührungspunkte. In dem Essay »The Author of Eminent Victorians«, den er in seinen ersten Essayband On the Margin (1923) aufnahm, sah sich Huxley später sogar veranlasst, Strachey scharfer persönlicher Kritik auszusetzen.
Neben solchen Begegnungen und den Anforderungen seines Studiums bedurfte jetzt das bevorstehende Erscheinen der Palatine Review gezielter Aufmerksamkeit. Aldous bat seinen Bruder schriftlich darum, das Magazin zu abonnieren und in Texas sowie darüber hinaus um amerikanische Subskribenten zu werben. Außerdem galt es, die Arbeit für den Stanhope Historical Essay Prize voranzutreiben. Nachdem Huxley sich seit geraumer Zeit mit der Forschung beschäftigt, aber noch kein einziges Wort zu Papier gebracht hatte, musste er am 22. Februar konsterniert feststellen, dass der Essay nicht, wie angenommen, am 31. März, sondern bereits am Ersten des Monats einzureichen war. Dies bescherte ihm eine anstrengende Woche rastlosen Schreibens. In Anbetracht der Fülle von Aktivitäten blieb für Entspannung und Ablenkung nur wenig Spielraum. Aber dennoch ließ es sich Aldous nicht nehmen, seinem frisch geweckten Interesse für ein noch junges und damals stummes künstlerisches Medium nachzugehen: dem Film. Begeistert und gleichzeitig belustigt berichtete er seinem Vater von einer im subtropischen Nordamerika angesiedelten Adaptation von Charlotte Brontës Jane Eyre, die er unter Zuhilfenahme eines Opernglases im Kino gesehen hatte. Auch freute er sich auf das baldige Erscheinen des groß angelegten amerikanischen Familienepos The Birth of a Nation, das weltberühmt werden sollte. Zwischen den Zeilen ließ sich allerdings bereits jetzt auch das kritische Verhältnis zum Film erahnen, welches er, entsprechend seiner Einstellung zum frühen Jazz, schon wenig später entwickeln sollte.
Als der vorletzte Abschnitt des letzten Studienjahres im Frühjahr 1916 erfolgreich beendet war, genoss Aldous Anfang April ein sommerlich warmes Wochenende in Garsington, wo er sich mit den Besuchern »im Sonnenschein aalte« und »abends heftig tanzte« (zit. in Bradshaw, S. 217). Ostern verbrachte er mit seinem Vater bei den Humphry Wards, und im April gönnte er sich mit Tommy Earp ein paar lang ersehnte und erholsame Wandertage in den hügeligen Cotswolds, ausgehend von dem malerischen Kunsthandwerkszentrum Chipping Campden in Gloucestershire. Ab Mai erfolgten die unter Examensbedingungen durchgeführten Vorbereitungen auf die Abschlussprüfungen. Um die Klausuren im Juni leichter bewältigen zu können, wurde es Aldous gestattet, eine Schreibmaschine zu benutzen, dennoch empfand er die Prüfungssituationen als körperlich sehr anstrengend. Von den gestellten Aufgaben zu Chaucer, Shakespeare oder der Geschichte der englischen Literatur war er enttäuscht und bezeichnete die Prüfungen im Nachhinein als eine Schande für Oxford. Noch spekulierte er über sein Examensresultat, wusste aber bereits, dass er den mit 20 Pfund dotierten Stanhope Historical Essay Prize gewonnen hatte. Am 2. Juli konnte er dann stolz und erleichtert verkünden, dass er sein Studium mit Auszeichnung beendet hatte – eine großartige Leistung, zumal er neben einer Kommilitonin der Einzige war, dem dieses Ergebnis bescheinigt wurde. Er hatte seinem Familiennamen alle Ehre gemacht. Wenig später konstatierte er mit Nostalgie und zugleich im Hinblick auf sein zukünftiges Leben:
»Nun, Oxford ist vorbei. […] Nichts mehr von dem behüteten, dem akademischen Leben … dem Leben, welches, glaube ich, wenn es von jemandem mit hohem und unabhängigem Geist geführt wird, das erfüllteste und beste aller Leben ist, wenn auch eines der schäbigsten und erbärmlichsten, so wie es von der gewöhnlichen Truppe stumpfsinniger Intellektueller geführt wird. Ich möchte gerne für immer weiterlernen. Ich lechze nach Wissen, sowohl theoretischem als auch empirischem.« (Letters, S. 112)
Im Vordergrund stand allerdings ab jetzt erst einmal die Frage, wie es beruflich mit ihm weitergehen sollte. Diese Frage stellte sich mit zusätzlicher Dringlichkeit, da Aldous in Garsington einen kostbaren »Fund« gemacht hatte, von dem er Julian Anfang Juli in einem Brief in Kenntnis setzte: »Ich habe zu guter Letzt eine nette Belgierin entdeckt: Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«