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Blind

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Um die Jahreswende 1910/1911 bekam Aldous plötzlich Probleme mit seinen Augen. Sie waren geschwollen und rot. Zunächst ging man von einer vorübergehenden Bindehautentzündung aus, aber es wurde und wurde nicht besser, ganz im Gegenteil: Das Sehvermögen ließ nach. Als Aldous’ Onkel und Gervas’ Vater, der Mediziner Henry Huxley, ihm eines Sonntags einen überraschenden Besuch abstattete, war er schockiert über den Gesundheitszustand seines Neffen und nahm ihn ohne zu zögern mit nach London. Kurz darauf begann die quälende Erfahrung von 18 Monaten fast vollständiger Blindheit, die Huxley später im Vorwort zu seinem Buch Die Kunst des Sehens beschrieb. Nach genauerer ärztlicher Untersuchung stand die Diagnose fest: Keratitis punctata, eine Hornhautentzündung, die beide Augen befallen hatte und deren besonders aggressives und viel zu spät erkanntes Auftreten keine positive Prognose zuließ. Die zu der Entzündung führenden Umstände wurden nie eindeutig geklärt; Gervas sprach von infiziertem Staub, der ungünstig mit körperlicher Schwäche durch eine Grippe oder durch Überarbeitung zusammenwirkte.

Die Augenerkrankung bedeutete für Aldous den zweiten herben Schlag innerhalb von drei Jahren. Er, der mit solcher Neugier die Welt um sich herum beobachtet und erkundet hatte, war jetzt gerade noch in der Lage, hell von dunkel zu unterscheiden. Allein konnte er sich kaum umherbewegen. Von der ihm so immens wichtigen Welt der Bücher war er abgeschnitten. Eine Rückkehr nach Eton stand nicht zur Diskussion, und sein Traum von einer Karriere als Arzt hatte ein schnelles, jähes Ende gefunden. Das Ereignis festigte und intensivierte laut Huxleys eigenen Angaben seinen ohnehin ausgeprägten Hang zur Abgeschiedenheit und Innenschau.

Aldous’ Vater Leonard war zu dieser Zeit beruflich stark eingebunden. Nachdem er 1900 eine außerordentlich erfolgreiche Biografie über seinen Vater Thomas Henry veröffentlicht hatte, war ihm ein Jahr später auf Veranlassung von Mary Augusta Ward eine wichtige Position in einem Londoner Verlagshaus angeboten worden. Diese umfasste auch die Mitherausgeberschaft des renommierten Literaturmagazins The Cornhill. Seit seinem Umzug in die Hauptstadt hatte sich Leonard ganz seinen vielfältigen Aufgaben verschrieben. Dementsprechend hielt sich der Witwer vorwiegend in Büros auf und war wenig zu Hause. Aldous wurde daher vor allem von anderen Verwandten umsorgt und gepflegt. Er wohnte abwechselnd bei Gervas’ Eltern, seiner Tante Ethel Collier, den Humphry Wards und anderen. Sein Bruder Trev besuchte ihn, wann immer es sein Studium in Oxford zuließ. Die medizinische Betreuung übernahm zunächst Gervas’ Vater in Absprache mit verschiedenen Augenärzten.

In Anbetracht der neuen Situation und der düsteren Zukunftsperspektive wäre ein Verharren in Angst und Wut nur allzu verständlich gewesen. Doch es gelang Aldous erstaunlich schnell, Abstand von seinen Leiden zu gewinnen und sich anderen Herausforderungen und Aufgaben zu stellen. Gervas hielt fest: »Was mich am meisten in Erstaunen setzte an Aldous’ Erblindung war die Tapferkeit, mit der er diesem völligen Riss in seinem Leben heiter und gelassen und ohne die geringste Spur von Selbstbedauern standhielt« (Gedächtnis, S. 33). Aldous entwickelte eine stoische Grundhaltung, die es ihm ermöglichte, die Dinge zu akzeptieren und mit Bedacht auf sie zu reagieren. Ein weiterer mildernder Faktor mag darin bestanden haben, dass der starke Druck, überragend sein zu müssen, nun von ihm abgefallen war. Er nutzte die viele Zeit, die er allein verbringen musste, höchst diszipliniert dazu, die Blindenschrift zu erlernen. Auf diese Weise erschloss er sich nicht nur die Welt der Literatur auf neuem Wege. Mithilfe der Braille-Musikschrift brachte er sich auch selbst das Klavierspielen bei: Musik erhielt für den verstärkt akustische Reize verarbeitenden Huxley eine überragend neue Qualität. Da sein Freund Lewis Gielgud bereit war, ebenfalls die Blindenschrift zu lernen, konnten die beiden sogar eine Korrespondenz aufbauen. Und als Gervas seinen Cousin eines kalten Morgens zusammengekauert und mit den Händen unter der Decke im Bett liegen sah, bemerkte jener bloß lapidar: »Brailleschrift hat einen großen Vorteil: Man kann im Bett lesen, ohne dass einem die Hände kalt werden« (zit. in Gedächtnis, S. 33).

Aldous war stets ein begeisterter Leser gewesen. Jetzt konnte er verschlingen, was ihm in Brailleschrift zur Verfügung gestellt wurde – seien es die Klassiker des Altertums, englische Autoren oder auch Werke der französischen Literatur, für deren jüngere, experimentelle Vertreter er ein besonderes Faible entwickelte. Das tastende Lesen stellte sich zwar als langsamer, die Geduld herausfordernder Prozess heraus, schulte jedoch die Gedächtnisleistung in besonderem Maße. Huxley selbst führte später die Ausbildung seines phänomenalen Fakten- und Zitatgedächtnisses vor allem auf die Phase seiner Blindheit zurück. Auch den Pflichtlektüren, die es für das Eton College zu lesen galt, widmete er sich. Durch eine Reihe von Tutoren erhielt er Hausunterricht. Am meisten profitierte er nach eigenen Aussagen von George Clark, der ihn im Herbst 1911 in frühenglischer Geschichte unterrichtete und ihn, wenn er Bücher benötigte, zur Braille-Ausleihbibliothek begleitete. Um sich schriftlich besser mitteilen zu können, hatte Aldous das Tippen auf einer tragbaren Schreibmaschine gelernt. Diese Fertigkeit machte er sich nun zunutze, um erforderliche Schreibarbeiten zu erledigen. Doch auch das Schreiben aus anderen, inneren Beweggründen kam nicht zu kurz, und es deutete sich bereits an, in welche Richtung sein beruflicher Weg führen könnte, nachdem ihm eine Zukunft als Wissenschaftler verwehrt worden war. Auf seiner Schreibmaschine tippte er im Alter von 17 Jahren einen etwa 80.000 Worte umfassenden Roman. Leider verschwand das Typoskript anschließend aus unbekannten Gründen; Huxley bekam es nie zu sehen und konnte sich im Laufe der Zeit nur noch schemenhaft an den Inhalt erinnern.

Penicillin und Cortison waren zu dieser Zeit noch nicht entdeckt, und so gestaltete sich die Bekämpfung schwerer Entzündungen generell problematisch – so auch in Huxleys Fall. Schließlich aber übernahm der angesehene Augenchirurg Ernest Clarke die Behandlung, und das Bakterium Staphylococcus aureus wurde als Krankheitsverursacher ermittelt. Nun erhielt Aldous regelmäßig Injektionen, die dazu führten, dass die Hornhautentzündung schrittweise verschwand. Allerdings blieben durch Vernarbungen massive Hornhauttrübungen zurück, die weiteres Eingreifen erforderlich machten. Nach etwa 18 Monaten der Blindheit begann sich Aldous’ Sehvermögen ein wenig zu verbessern. Sein linkes Auge erlangte eine Sehfähigkeit, die es ihm erlaubte, mithilfe einer starken Lupe wieder zu lesen. Das rechte Auge jedoch blieb weiterhin praktisch blind. Sein Leben lang sollte er unter seinen Augenproblemen leiden und nach Behandlungsmöglichkeiten konventioneller wie alternativer Art suchen.

Die Osterferien 1912 verbrachte Aldous mit Gervas’ Familie in Cornwall. Er traute es sich jetzt wieder zu, alleine draußen herumzulaufen, und sein Mut wuchs, wie Gervas bemerkte, sogar noch deutlich: »Unfassbar, aber er bestand darauf, Fahrrad zu fahren. Obwohl er nicht wirklich sehen konnte […]; doch Aldous bestand darauf, auf eigene Faust mit dem Fahrrad zum Bahnhof zu fahren« (zit. in Bedford, S. 36). Anschließend zog er für einige Zeit zu seinem Vater nach London-Bayswater. Leonard hatte im Februar die dreißig Jahre jüngere Rosalind Bruce geheiratet, die noch nicht einmal so alt wie die Brüder Julian und Trev und nur vier Jahre älter als Aldous war. Er zeigte sich dankbar dafür, dass Rosalind sich rührend um ihn kümmerte und ihn ihr neues Klavier benutzen ließ, aber er blieb zunächst auf Distanz. Während Trev als einziger der drei Brüder Rosalind mit offenen Armen als neues Familienmitglied empfing, brauchte Aldous viel länger, um sie zu akzeptieren und schließlich auch zu mögen.

Trotz seiner starken Sehbeeinträchtigung begegnete er der Welt mit enormem Selbstvertrauen, wie etwa sein Aufenthalt im deutschen Marburg in den Monaten Mai und Juni 1912 bezeugt, den er ganz allein antrat. Aldous lernte dort Deutsch und studierte Musik; vermutlich wollte er zwischendurch auch weiteren augenärztlichen Rat einholen. Er wohnte bei dem Geologieprofessor Emanuel Kayser, der ihn auch zu Expeditionen in die Umgebung mitnahm. Die wenigen erhaltenen Briefe aus Marburg wirken fröhlich und entspannt. Aldous stöhnt über die Massen an deutscher Literatur, die er zu bewältigen habe, vornehmlich Schillers Balladen und Wallenstein. In Musik beschäftigte er sich mit Werken von Beethoven und Chopin. Erfreut nahm er in der Stadt Werbeplakate für einen »Großen Walzerabend mit der jugendlichen Cornetopistonvirtuosin Fräulein Soundso« (Letters, S. 44) zur Kenntnis. Er äußerte sich verwundert über die vielen Bismarcktürme, die es in Deutschland zu sehen gibt, und beobachtete am Mittsommerabend fasziniert eine Studentenparade zu Ehren Bismarcks.

Das Skizzenbuch, welches Huxley in Marburg mit sich führte, wird heute in der Bibliothek der Universität Stanford in Kalifornien aufbewahrt. In Aquarellen und Bleistiftzeichnungen hielt Aldous darin das Lokalkolorit Marburgs und seiner Umgebung fest und erwies sich dabei als erstaunlich genauer Beobachter und versierter Künstler. Dass die Stadt einen nachhaltigen Eindruck auf ihn machte, zeigt auch die Tatsache, dass eine (erst posthum publizierte) Kurzgeschichte namens »The Nun’s Tragedy« in dieser Stadt angesiedelt ist, die dort nur wenig verschleiert »Grauburg« genannt wird. »The Nun’s Tragedy«, 2008 im Aldous Huxley Annual erstveröffentlicht, bildet eine Vorstufe zu der Geschichte »Nuns at Luncheon« (dt. »Nonnen beim Mittagessen«), deren Kernerzählung auf diese erste Fassung zurückgeht und die Huxley in seine zweite Sammlung von Kurzgeschichten, Mortal Coils (1922), aufnahm.

Als das Ende des so vielfältige Impressionen bietenden Deutschlandaufenthalts näherrückte, stellten sich bei Aldous verstärkt Gedanken über die Zukunft ein. Sollte er im Herbst ein Studium in Oxford beginnen? Seinem Vater schrieb er:

»Ich habe keine rechte Meinung bezüglich des Herbstes: Es hängt alles so sehr von Ernest Clarkes Einschätzungen ab. Ich weiß nicht, ob es gut wäre, das eine Auge zu benutzen, um viel damit zu machen. Das rechte scheint sich nicht viel zu ändern, aber das linke zeigt sicher gute Fortschritte.« (Letters, S. 44)

Zurück in England wurde entschieden, dass es für Aldous noch zu früh sei, ein reguläres Studium aufzunehmen. Das Ende des Sommers genoss er mit Lewis Gielgud und Gervas in Surrey. Weihnachten verbrachte er bei seinem Vater in London.

Anfang 1913 bereitete sich Aldous auf die Zulassungsprüfung für das Balliol College in Oxford vor. Es gehörte zur Familientradition, sich für dieses und kein anderes College zu entscheiden, und ab Herbst wollte er dort Englische Sprache und Literatur studieren. Bereits im Frühling und Frühsommer hielt er sich in Oxford auf, wo er bei seinem Bruder Trev wohnte, der mittlerweile 23 war und sich im letzten Studienabschnitt befand. Die beiden verstanden sich glänzend. Trev war ein hervorragender Mathematiker, der aber unter seinem leichten Stottern litt, und hatte immer als der umgänglichste und offenste der drei Brüder gegolten. Er half Aldous, sich zurechtzufinden und den Bewerbungsprozess zu durchlaufen. Man las, lernte, spazierte und vergnügte sich zusammen. Im April wurde Aldous am College angenommen. Obwohl er noch nicht eingeschrieben war, besuchte er schon Vorlesungen zukünftiger Lehrer. Daneben probte er zusammen mit Lewis Gielgud, Trev und anderen für eine Aufführung des ersten, privat gedruckten Theaterstücks Saunes Bairos seiner guten Bekannten Naomi Haldane. Naomi, spätere Mitchison und Autorin zahlreicher historischer, Science-Fiction- und Fantasy-Romane, war die Tochter des Oxforder Physiologieprofessors John Scott Haldane. Der schottischen Aristokratie entstammend, wohnten die Haldanes in »Cherwell«, einem großen Haus in Nordoxford. Dorthin lud die drei Jahre jüngere Naomi Aldous und die anderen wiederholt ein. Die Premiere des Stücks fand im Mai 1913 in der Lynam-Schule (heute Dragon-Schule) statt, einer namhaften Vorbereitungsschule, die auch von Naomi und ihrem Bruder besucht worden war. Aldous machte die Schauspielerei großen Spaß; es sollte nicht das letzte Mal sein, dass er sich darin versuchte.

Vor Antritt seines Studiums wollte er unbedingt seine Französischkenntnisse auffrischen und verbessern. Zu diesem Zweck reiste er Anfang Juli nach La Tronche bei Grenoble, wo er von einem Abbé privaten Französischunterricht erhielt. Aldous übersetzte Werkteile des englischen Schriftstellers Edward Frederic Benson ins Französische und beklagte sich dabei über sein viel zu kleines und ungenaues Wörterbuch, las Werke von de Musset und Taine und beschäftigte sich mit dem Oxford Book of French Verse. Die freie Zeit nutzte er ausgiebig dazu, die Alpenlandschaft zu erkunden. Ende Juli stieß Lewis Gielgud zu ihm, der ihn auf seinen Wanderungen begleitete. Die Briefe, die Aldous von dieser Reise nach England schickte, sprühen vor Lebensfreude und Beobachtungsdrang. Er schildert die schöne, aber nicht ungefährliche Berglandschaft, lobt die Freundlichkeit der Einheimischen, ist belustigt über das Französisch (und Englisch!) der amerikanischen Touristen und freut sich über seine Geburtstagspost. Dass es sich bei den ausführlichen Landschaftsbeschreibungen um die Eindrücke eines weiterhin stark eingeschränkt sehfähigen jungen Mannes handelt, ist der Korrespondenz kaum zu entnehmen. Ganz im Gegenteil: Aldous verzierte seine Briefe sogar mit feinen Skizzen. Und als er im Spätsommer zusammen mit Lewis wieder in England eintraf, konnte Gervas nur darüber staunen, wie hervorragend sich die Französischkenntnisse seines Cousins entwickelt hatten.

Aldous Huxley

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