Читать книгу Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman - Gerlinde Marquardt - Страница 4

Verhängnisse und Nachbarschaften

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An die Aussegnungshalle wird sich Isa später sicher nur sehr vage erinnern können. Denn ihre Gedanken verloren sich gerade wie in einem Labyrinth, sie konnte sich einfach nicht auf die Ansprache des Pfarrers konzentrieren.

Ihr Blick fiel seitlich auf ihren etwas älteren Bruder. Sein rundes Gesicht war so bleich, dass die darin spärlich verstreuten Sommersprossen förmlich aus seiner blutarmen Haut stachen. Sein kräftiger Körper wirkte noch hilfloser als sonst. Er starrte nur vor sich hin und fummelte mit fahrigen Fingern an dem Reißverschluss seiner dunklen Jacke. Isa machte sich Sorgen. Hanjo sah so müde aus. Seine Haare waren struppig, wie ungekämmt. Er hatte sich nach Mutters Unfall irgendwie verändert, das war nicht zu übersehen. Isa versuchte sein Verhalten einzuschätzen. Dieser Versuch misslang. Unwillkürlich zog Isa ihre Augenbrauen zusammen. Das Grübeln brannte sich hinter ihrer Stirn ein. Sicher hatte Hanjo das furchtbare Ereignis immer noch deutlich vor Augen. Ob er von der Trauerfeier überhaupt etwas wahrnahm? Bestimmt waren seine Gedanken schon lange Zeit abgeschweift.

Isa musste tief durchatmen. Was hatte Mutter einmal gesagt? „Wenn Kinder erwachsen werden, müssen sie die Wirklichkeit des Lebens eigenständig kennen und zu ertragen lernen. Kranke Kinder bleiben aber für die Mutter immer die zu beschützenden Wesen.“ Die letzteren Worte hatten damals Hanjo gegolten. Über seine Eigenheit hatte Mutter nie gesprochen. Er war eben beständig da, da mit seiner berührenden anspruchslosen Art, aber durchaus liebenswürdig, schloss Isa. Nur für wenige Sekunden drangen Wortfetzen des Pfarrers an ihr Ohr. Doch schon setzte Isa ihre Gedankenreihe fort: Seltsam, nach dem Unfalltag hatte Hanjo nie über die Mutter gesprochen. Er müsste sie doch vermissen! Seine bereits seit früher Jugend seltsame Abwesenheit wird sich hoffentlich nicht noch verstärken! Ob Hanjo sie jetzt wohl als beschützende Schwester wahrnehmen würde? Sehr viele Gemeinsamkeiten hatte es zwischen ihnen eigentlich nie gegeben. Aber auch zwischen ihr und Mona nicht!

Wie sollte es jetzt mit Hanjo weitergehen? Eine Betätigung für ihn zu finden war fast unmöglich, das war Isa klar. Hanjo war stets nur zu Hause gewesen und Mutter hatte ihn selbstverständlich versorgt. Allerdings hatte Hanjo bis heute niemandem große Mühe gemacht. Er war schon immer mit sich selbst zufrieden gewesen; zufrieden, wenn er vor sich hinträumen konnte, zufrieden, wenn er kleine oder große Spaziergänge gemacht hatte. Nachdem Isas Bruder älter geworden war und somit auch selbstständiger, war er schon manches Mal einfach für einige Zeit von zu Hause fortgeblieben. Mutter hatte sich darüber aber nie Sorgen gemacht. „Der kommt schon wieder“, waren stets ihre Worte gewesen. Isa besaß dieses Naturell nicht; sie hatte es schon von Kindheit an nie besessen. War Hanjo erst sehr spät nach Hause gekommen, war Isa immer schon Panikattacken sehr nahe gewesen. Allerdings hatte sie stets den Verdacht, dass Mutter genau gewusst hatte, wo sich Hanjo aufhielt.

Mutter! Weshalb hatte bloß dieser schlimme Unfall geschehen müssen? Mutter? Sie war oft merkwürdig in sich gekehrt gewesen. So, als wäre eine Tür zwischen ihr und der Welt zugefallen. Sie war auch nie gerne außer Haus gegangen. Und manche Tage hatte das Haus durchgehend unter einer jammervollen Lautlosigkeit gelitten. Isa hatte vermutet, dass Hanjo einen starken Anteil an Mutters stillem Verhalten hatte. Komisch, nur bei Besuchen von Franz hatte Hanjo seine Lethargie stets etwas abgelegt. Oder war es Melancholie? Ob sich seine Eigenheit durch den ihm fehlenden Vater entwickelt hatte? Er, Hanjo, war viele Jahre lang einziger Mann unter drei Frauen gewesen! Bis Mona von zu Hause ausgezogen war. Isa unterbrach ihre Erinnerungen nur mühsam. Ein schlechtes Gewissen hatte sich bei ihr eingeschlichen. Sie müsste doch gedanklich mit dem Trauern um die Mutter beschäftigt sein. Warum bloß funktionierte das nicht? Ob es Mona und Hanjo auch so erging?

Monas Gesicht wirkte wie versteinert. Sah sie zu Boden oder hatte sie die Augen geschlossen? Isa konnte dies nicht erkennen. Wann war eigentlich die Eiszeit zwischen Mona und ihr angebrochen? Wann nur? Isa fröstelte. Sie zog mit einer Hand den Kragen des schlichten dunkelbraunen Wintermantels enger um ihren Hals und dachte, dass es besser gewesen wäre, wenn sie Handschuhe angezogen hätte. Noch eine weitere Erkenntnis drängte sich durch ihren Kopf, nämlich, dass ein neuer Mantel sie bestimmt vor dieser Kälte besser schützen würde. Dann ärgerte sie sich, weil ihre Gedanken schon wieder abgeglitten waren. Der Pfarrer sprach am Ende der Trauerfeier den Geschwistern Mut zu. „Eure Mutter war eine starke Frau! Lebt in ihrem Sinne weiter.“ Diesen Satz nahm Isa nun ganz bewusst auf. Als sie über den Steinboden Richtung Ausgang gingen, regte sich Isa über Monas hochhackige Schuhe auf. Das Geräusch ist unangebracht, dachte Isa, es ist unwürdig. Konnte ihre Schwester denn keine flachen Schuhe tragen? Musste Mona auch bei diesem traurigen Anlass zur Schau stellen, welche Eleganz sie von ihren beiden Geschwistern unterschied? Isa empfand Monas Verhalten irgendwie respektlos.

Die Beisetzung fand anschließend im engsten Familienkreis statt. Nur Franz bildete eine Ausnahme, denn er gehörte fast zur Familie. Franz hatte schon seit eh und je in vielen Situationen sich beständig als eine starke Stütze gezeigt. Wie oft, dachte Isa, waren wir ihm schon dankbar für ermunternde Worte, aber auch für seine Hilfsbereitschaft bei Gartenarbeiten oder Instandsetzungen im Haus gewesen. Auch seit dem plötzlichen Tod der Mutter hatte er sie oft durch seinen tröstenden Zuspruch beruhigt. Auch jetzt an Mutters Grab gab er nicht nur Isa die nötige Kraft. Ihre beiden Geschwister bekamen ebenfalls seinen Beistand. Niemand, den ich kenne, kann so gut besänftigen wie Franz. Allein seine Stimme wirkt beruhigend und zugleich aufmunternd, erörterte Isa noch immer, als sie bereits den Friedhof verließen. Abends waren die Geschwister zu Hause. Isa, Hanjo und auch ihre ältere Schwester Mona, die längst in der nördlich liegenden größeren Stadt eine eigene kleine Wohnung besaß. Mona ist hübsch wie immer, stellte Isa für sich fest. Die dunklen welligen, seit einiger Zeit kurz geschnittenen Haare umrahmten elegant Monas Kopf. Isa fand, dass besonders der Mund ihrer Schwester schon seit jeher ein richtiges Juwel in ihrem Gesicht war und ihre Schönheit vollkommen machte. Vor allem wenn sie, wie heute, ihre Lippen dezent geschminkt hatte. Lächelte Mona, dann zogen sich zwei zarte Fältchen links und rechts um die Mundwinkel, die sie ungemein interessant aussehen ließen. Allerdings lächelte sie höchst selten. Insbesondere nicht bei ihren äußerst spärlichen Besuchen hier zu Hause.

Mona, Isa und Hanjo standen am Fenster und beobachteten schweigend die glutrote Sonne, die zwischen dunklen Tannenzweigen erst bizarr verschoben sichtbar wurde, bis sie kurz vor dem Untergehen noch eine glänzende Spur in die zu dieser Jahreszeit bereits schmelzende Schneelandschaft zeichnete. Danach tauchte sie nach und nach im weißen Flaum unter. Der zur Straße hin abgrenzende Eisenzaun mit seinen oben aufgesetzten scharfen Spitzen schob sich unheimlich dunkel zwischen die Dämmerung. Am Grundstückseingang war großzügig dieses unheilverkündende weiß-rote Band gespannt. An einer Seite hing es, wohl durch einen kräftigen Windstoß verursacht, lasch herunter. Hier war ihre Mutter umgekommen. Franz hatte Isa das furchtbare Geschehen geschildert. Seine genauen Darstellungen liefen vor Isas Augen immer wieder unwillkürlich ab. Isa spürte einmal mehr die Gänsehaut, die sich über ihre Arme verteilte. Sie strich mit etwas zitternden Händen darüber, hatte allerdings keinen richtigen Erfolg.

Von einer Leiter aus, die gegen das hohe Eisengitter gestellt war, hatte Mutter versucht, einen großen Ballon zu entfernen. Er hatte sich in den Zweigen des nebenan stehenden Baumes verfangen. Mutter war mit ihrem Arm auf eine Eisenspitze gestürzt und hatte sich dabei die ganze Innenseite aufgerissen. Eine Schlagader wurde zerfetzt und im Rhythmus des Herzschlags waren immer wieder größere Mengen Blut in den Schnee getropft. Mutter war dann von der Leiter abgerutscht und ganz unglücklich auf einen unten liegenden kleinen Eisblock gefallen. Dieser hatte ausgereicht, ihr noch eine tödliche Kopfverletzung zuzufügen, an der sie nach kurzer Zeit verstorben war. Hanjo war kläglich schreiend aus dem Haus gerast und hatte erst wild an Mutters Kleid gezerrt. Danach hatte er an der Leiter – als sollte diese bestraft werden – so lange geruckelt, bis sie seitlich ins Kippen gekommen war. Hanjo hatte dadurch das Gleichgewicht verloren und war samt der Leiter in den Schnee gestürzt. Während er wieder aufstand stieß er ständig laute Schreie aus. Franz war bereits vom Nachbarhaus herüber gelaufen und hatte schnellstens nach einem Krankenwagen telefoniert, obwohl er sich schon fast sicher gewesen war, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Dann hatte Franz über den blutigen Schnee, so gut es die geringe Schneemenge gerade eben zuließ, frischen geschoben, damit ihr Bruder sich beruhigen sollte. Dann hatte er Hanjo an den Armen festgehalten, weil dieser immer wieder mit seinen beiden Fäusten gegen seinen eigenen Kopf geschlagen hatte. Allerdings war dann die Brust von Franz noch einige Zeit das Ziel von Hanjos Fausthieben gewesen. Erst nach längerem Zureden hatte Franz auf Hanjo den nötigen Einfluss nehmen können, um ihn zu besänftigen.

Als Isa nach Hause gekommen war, hatte man die Mutter längst abtransportiert. Schon beim Einbiegen in ihre Straße hatte Isa das blau-grelle Blinken wahrgenommen. Von weißen Schneeresten auf dem bestreuten Gehweg bis zu den nur noch leicht schneebedeckten Bäumen seitlich der Straße war dieser blitzende Schein immer wieder gespenstisch aufgeflammt. Isa hatte sogleich erfasst, dass dieses stumme Signal gefährlich nahe bei ihrem Zuhause aufleuchtete. Nein, nein, hatte sich blitzschnell vom Hirn bis hinter ihre Magengegend hinuntergeschoben und als erschlaffendes Gefühl in ihrem Körper verteilt. An dem blinkenden Polizeiauto war sie starr vorbeigegangen. Und da war dann auch noch der angsteinflößende Mann, auf dessen eindringliche Fragen sie nicht mit klaren Gedanken hatte antworten können. Isa riss sich mühselig aus ihrer Erinnerung. Langsam schlug ihr Hauch sich am Fenster nieder. Es war nicht sehr warm im Zimmer. Isa sah, dass Hanjo ab und zu zusammenzuckte. Sie nahm ihn in den Arm, worauf durch seinen Körper ein stärkeres Zittern lief, das aber bald danach abflaute. Mona stand blass daneben, die ihr immer eigene Kühle ausstrahlend. Sie war in das intensive Betrachten ihrer lackierten Fingernägel versunken. Sogar auch heute kann sie noch keine Gefühle zeigen, dachte Isa. Obwohl die Geschwister nahe beieinander standen, hatte sich um jeden eine eisige Wand gelegt, die sich kreisförmig zu einer gefühllosen Stille schloss. Isa ging in die Küche und bereitete ein kleines Abendbrot zu. Ihre Schweigsamkeit am Fenster nahmen alle drei mit an den Tisch. Das Kauen ohne Appetit zog sich bei jedem von ihnen in die Länge.

Tage darauf – wie jeden Morgen zuvor – stand schon wieder in aller Frühe, ehe die Sonne noch richtig durch den Morgennebel hervorkam, ein Polizeiauto auf der Straße. Polizisten hielten taktlose Wissbegierige in Schach. Beamte der Spurensicherung, die sich durch ihre Kleidung farblich kaum vom noch winterlichen Bodenbelag abhoben, durchforschten den restlichen Schnee. Sie wühlten dadurch die blutdurchtränkte Stelle beim Baum immer wieder etwas auf. Und Kommissar Wellner, so hatte er sich an jenem Abend äußerst kurz vorgestellt, war mit seinem systematischen Untersuchungswahn schon wieder im Element. Der Kommissar hatte damals fürchterlich geflucht, als er gleich am Unglücksabend die verwischten Spuren entdeckte, die Franz in guter Absicht an der verhängnisvollen Stelle nahezu unsichtbar gemacht hatte. Dieses Handeln war natürlich außerordentlich erschwerend für kriminalistische Untersuchungen gewesen. Wellner hatte seine schmalen Augen seltsam weit geöffnet und außerdem sehr mürrisch eine Vielfalt zermürbender Fragen gestellt. Doch diese waren Isa jetzt nicht mehr im Gedächtnis. Da Mona außerhalb wohnte und zur Unglückszeit nachweislich nicht anwesend gewesen war, wurde sie bald aus der Schussweite von Wellners bohrenden Nachforschungen genommen. Als Wellner Mona zuvor einmal kurz gefragt hatte: „Wohnen sie hier im Ort?“ „Nein, Herr Kommissar“, war Monas forsche Antwort ausgefallen. Und mit einem gekonnten Augenaufschlag hatte sie angehängt: „Sie glauben doch nicht, dass ich mit dem Unglücksfall etwas zu tun habe. Was denken Sie denn von mir. Ich war bis zur Trauerfeier nachweislich über zwanzig Kilometer von hier entfernt.“ Damit war das Verhör auch schon beendet gewesen. Wellner hatte geschluckt und Mona einige Sekunden mit zusammengepressten Lippen betrachtet. Dann war er sichtlich widerwillig verschwunden. Aha, hatte Isa gedacht, Mona hat schon wieder einen Mann bezirzt!

Dass Isa erst nach dem Unfall zu Hause angekommen war, hatte Hanjo bestätigt. Diese Aussage war jedoch beim Kommissar durch ein kurzes Hochziehen seiner linken Augenbraue angezweifelt worden. Isa wurde getreu ihres Wesens sehr unsicher und hatte zu Boden gesehen. Meistens hatte Isa ein starkes Gespür für die Gefühlswelt ihrer Mitmenschen, doch sich noch nie getraut, dies zu äußern. So hatte sie Hanjos Widerwillen gegenüber dem Kommissar sofort bemerkt. Und sie hatte ebenfalls wahrgenommen, dass ihr Bruder immer trotziger wurde und geahnt, wie stark die Fragerei ihn belasten würde. Denn bei allen bisherigen Vernehmungen hatte Wellners starrkalter Blick fast immer nur Isas Bruder gegolten. Unzählige Male war Hanjos Aussage mit nur ganz knappen Worten von ihm wiederholt worden. Einmal hatte sich Wellner während seiner Befragung unvermittelt umgedreht und war mit raschen Schritten zu ihrem Nachbarn hinüber gegangen. Obwohl Isa diese ausführliche Unterredung aus einiger Entfernung beobachtet hatte, schwieg Franz eisern. Er hatte ihr gegenüber niemals ein Wort darüber verloren. Und Isa hatte gespürt, dass sie nicht fragen sollte. Diesen Vormittag war Hanjo deutlich unruhig. Als Wellner ins Haus kam und ihn wieder mit ähnlichen oder sogar gleichen Fragen wie Tage zuvor überschüttete, reagierte Hanjo plötzlich sehr heftig. „Ich habe meiner Mama nichts getan“, schrie er, „lass mich endlich in Ruhe!“ Wenn Hanjo wütend war, benutzte er als Anrede stets die vertrauliche Du-Form. Der Kommissar ließ sich auf das Du ein. „Warum hast du dann die Leiter umgeworfen?“, drang Wellner weiter in ihn. „Ich habe sie nicht umgeworfen, ich wollte doch nur...", Hanjo hielt inne, verschob seine Augenbrauen, lief rot an und drehte sich mit zu Fäusten geballten Händen weg. Er drückte beide Arme noch ruckweise nach unten. Dann ging er sichtlich erregt davon. Gedankenvoll sah Wellner ihm nach und schob eine Hand in seine Manteltasche. Isa wurde wütend. Sie musste Hanjo beschützen, Mutter war ja nicht mehr. Sie nahm all ihren Mut zusammen. „Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?“, fauchte Isa diesen mageren etwas nach vorne gebeugten Kommissar an. Der hielt Isas Blick mit seinen eisigen blauen Augen stand und presste wiederum seine Lippen zusammen. Seine Wangenmuskeln arbeiteten dementsprechend. Selbst seine knochigen Finger, die sich – fast wie Spinnenbeine – ständig bewegten, schienen in den Denkapparat seiner Untersuchung tastend eingeschlossen zu sein. Trotzdem gelang Isa noch: „Lassen Sie doch endlich Hanjo mit ihren Fragen in Ruhe, er hätte Mutter niemals etwas antun können! Es ist doch klar erkennbar, dass es sich um einen unglücklichen Sturz handelt. Das sieht doch ein Blinder! Sie können sich überhaupt vorstellen, wie uns zumute ist!“ Isas Wut steigerte jetzt sogar die Lautstärke ihrer Stimme. „Sie sind mit Ihren sonderbaren Gedankengängen bei uns hier total verkehrt am Platz!“ Kaum hatte sie ausgesprochen, bedauerte sie ihr Aufbrausen. Sie wurde innerlich wieder ganz klein. Schließlich tat der Kommissar doch nur seine Pflicht. Doch entschuldigen wollte Isa sich nicht. Aber es lag so etwas wie Bedauern in ihrem Blick. Ich habe ihm nicht einmal einen Platz angeboten. Wie unhöflich von mir, schämte sich Isa. Der Kommissar bemerkte Isas Befangenheit nicht, er starrte in diesem Moment aus dem Fenster. Dann drehte er sich behäbig zu Isa um. Kleine Querfältchen liefen über seine Stirn, um in der Verlängerung seitlich von seinen Augen zu den Schläfen auszustrahlen. Sein Gesicht war leicht gebräunt. Zu seinem blonden nicht gerade üppigen Haarwuchs bildete die Gesichtsfarbe einen fast attraktiven Gegensatz. Wellners Nase ragte scharfkantig aus dem Gesicht. Schnüffler ist die richtige Bezeichnung für ihn, dachte Isa, doch seine magere Figur mildert durch eine unübersehbare Schlichtheit das interessante Erscheinungsbild des Kopfes erheblich. Ein Auge drückte Wellner jetzt wieder zu einem schmalen Strich zusammen und sein Mundwinkel auf derselben Seite schien, leicht nach oben gezogen, etwas zu lächeln. Aber Isa entging trotzdem Wellners stechender Blick nicht. Wie ein Pfeil mit Widerhaken schoss er auf sie zu. „Sie waren doch nicht zu Hause, oder?“ Keine Antwort abwartend drehte sich Wellner um und stapfte hinaus, um seinen Leuten weitere Anweisungen zu geben. Angstvoll blickte Isa ihm nach. Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Sie fragte sich, warum Wellner so unendlich lange seitlich der Absperrung stehen blieb und vollkommen regungslos dem Untersuchungstrupp zusah. Geh weg, geh doch schon weg, dachte sie verzagt.

Mona hatte schon gepackt. Sie durfte wieder abreisen. In einem eleganten Hosenanzug trug sie ihren Koffer zu dem luxuriösen Auto. Isa mochte ihre Schwester gar nicht ansehen. Solch vornehme Kleidung hatte ihr eigener Schrank noch nie aufbewahrt. Kurz durchzog Isa der Gedanke, wie sie wohl in Monas Kleidern wirken würde. „Ich halte es hier nicht mehr aus!“, waren Monas Worte zum Abschied. Isa bekam ein überraschend kurzes Streicheln über einen Arm, Hanjo einen leichten Schlag auf die Schulter. Er drehte sich sofort um und ging ins Haus. Franz aber, der geradewegs auf Mona zukam, durfte rechts und links auf seinem Gesicht das flüchtige Anlegen von Monas Wange fühlen. Na ja, wenigstens er, dachte Isa und hob roboterartig kurz ihre Hand, als Mona in ihrem Sportwagen davon fuhr. Allerdings war sie sich sicher, dass ihre attraktive Schwester nicht in den Rückspiegel sehen würde.

Franz nahm Isa in die Arme. Sie waren gute, sehr gute nachbarliche Freunde. Beide lebten ohne feste Beziehung. Irgendwie war immer eine gefühlte kleine Schranke zwischen ihnen. Diese ließ es nicht zu, ihrer freundschaftlichen Zuneigung mehr Innigkeit zu geben. Doch seit Mutters Unglück hatte Isa nun das Gefühl, als keimte immer mehr eine neue, nie gekannte, Vertrautheit zwischen ihnen auf. Eine Vertrautheit, die keiner Worte bedurfte. Isa spürte, dass Franz sich um sie sorgte. Er war ihr in diesen trostlosen Tagen abermals eine wirklich große Hilfe. Vielleicht wird einmal später mehr aus…, brach Isa ihren Gedanken ab und sagte: „Danke Franz, für alles, ich muss zu Hanjo.“ Weil Isa in Franz` Armen etwas irritiert war, machte sie einen kleinen Schritt nach hinten. Franz spürte durch diese Bewegung Isas Unsicherheit. „Nichts zu danken!“, erwiderte Franz und öffnete seine Arme wesentlich weiter als zur Beendigung der Umarmung nötig gewesen wäre. Dann ging er langsam in sein Haus zurück. Er war eine beträchtliche Anzahl von Jahren älter als Isa. Und erfahrener! Er wusste, dass er sie sehr behutsam behandeln musste, denn der Tod ihrer Mutter hatte in ihr eine tiefe Verzweiflung hinterlassen. Und die nun auf sie übergegangene Verpflichtung für Hanjos Betreuung belastete Isa gewiss. Franz wusste auch, dass er lange Zeit benötigen würde, um endlich ihr vollständiges Vertrauen zu ihm erfolgreich wachsen zu lassen. Isas Gedanken schweiften, als sie zu ihrem Haus ging, sehr weit in die Vergangenheit zurück. Franz hatte seit dem jähen Tod seiner Eltern weiterhin in dem zweistöckigen Nachbarhaus gewohnt. Ganz früher, als Isas Vater noch bei ihnen zu Hause war, hatte er häufig Besuch von Franz. Die beiden Männer hatten sich meistens – die Welt vergessend – in ein Schachspiel verbissen. Isa glaubte sich zu erinnern, dass eine Störung durch sie nicht geduldet gewesen war. Zu gerne hätte sie damals die hübschen Holzfiguren selbst über die schwarz-weißen Karos geschoben. Damit die Männer aber nicht gestört wurden, hatte sich Isas Mutter während des Brettspiels stets liebevoll mit ihr beschäftigt. Als Vater seine Familie verlassen hatte, waren Schachspiele und somit auch nachbarliche Besuche von Franz total abgebrochen. Die Menschen in der kleinen Ortschaft waren Franz damals sicher zu klatschfreudig gewesen. Jedenfalls hatte es Isa einmal nach Jahren für sich so zurecht gelegt. Hanjo stand an einem Fenster und Isa winkte ihm automatisch zu. Als Isa ins Haus kam, lag Hanjo auf der Couch. „Hanjo, weshalb bist du so plötzlich ins Haus zurückgegangen? Du hättest wenigstens auf mich warten können!“ „Warum? Keine Lust dazu!“ Isa war klar, dass Hanjo jetzt sein Sperrschild benutzte. Weitere Anfragen würde er über die Reling seiner Mitteilungsbereitschaft werfen. Also schwieg Isa. Hanjo ahnte nicht, dass er seiner Schwester gerade das Gefühl gab, auch ihm gleichgültig zu sein. Isa schleppte sich ins Bad, um sich etwas zu erfrischen. Ihr Spiegelbild war nicht gerade vorteilhaft, musste sie sich eingestehen. Sie sah abgespannt aus. Ihre Augenringe unterstrichen ihre Erschöpfung. Aber das war heute der einzige Unterschied zu ihrem üblichen Aussehen. Ihre Frisur umrahmte wie stets ihr blasses Gesicht. Wie Mona einmal sagte, mit einer „Prinz-Eisenherz-Frisur“. Zum waagrecht geschnittenen Pony über der Stirn hingen ihre aschblonden Haare seitlich glatt herunter. Und niemand – sofern es nicht bekannt war – käme auf den Gedanken, dass sie eine Schwester Mona hatte. Beim Zurückgehen ins Wohnzimmer fiel Isa noch ein, dass sicher auch niemand Hanjo als ihren Bruder vermuten würde. Verdrießlich ging sie zum Fenster des Zimmers und sah zu ihrem Nachbarn Franz hinüber. Er stand an seinem Haus und begutachtete seinen Garten. Regungslos, mit seinen beiden Händen in den Hosentaschen wirkte er im momentanen Gegenlicht wie eine Skulptur. Isas Gedanken schweiften zu dem schrecklichen Unglück ab, das die Eltern von Franz ereilt hatte. Isa hatte zu jener Zeit kaum verstanden, worüber sich alle Nachbarn unterhielten. Doch der unheilvolle Klang, der in den Stimmen gelegen hatte, ließ sie heute noch jene Angst von damals verspüren. Während ihres allgemeinen Schockzustands war bei den grauenhaften Darstellungen des Unglücks nie auf Isas Anwesenheit geachtet worden. Über die kleine verwundbare Kinderseele hatte sich niemand Gedanken gemacht. Und kein Mensch hatte sich dafür interessiert, ob die Vorstellung, die sich fantasievoll in ihren Kinderkopf eingebrannt hatte, der Wirklichkeit entsprach. Erst Jahre später hatte Isa mit ihrer Mutter einmal über den Unglücksfall sprechen können. Wieso belasten mich die Erinnerungen gerade heute, fragte sich Isa.

Von der Couch her kamen Geräusche. Isa drehte sich um. Hanjo war aufgestanden und ging bereits Richtung Diele. „Hanjo, wohin gehst du?“ Isa erwartete eigentlich keine Antwort. Hanjo gab auch keine; er hob nur lässig eine Hand und winkte ab. Kurze Zeit später kam er zurück, stellte sich ein Glas Mineralwasser auf den Couchtisch und legte sich behäbig wieder nieder. Isa wurde etwas wütend. „Du hättest mir auch ein Glas Wasser mitbringen können!“ Auch darauf kam keine Reaktion. Hanjo drehte sich nur um und streckte Isa nun seinen Rücken entgegen. Isa atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie spürte, dass es nutzlos war, das Verhalten ihres Bruders zu beanstanden.

Isa sah wieder zu Franz. Er pflückte vereinzelte unschöne Pflanzenzweige ab. Isa dachte, dass auch Franz schon lange ein düsteres Verhängnis verkraften müsste. Ob es ihn auch immer noch beschäftigte? Und, ob dieser plötzliche Unglücksfall von Mutter wieder eine schmerzende Erinnerung bei ihm wachgerufen hätte? Die Eltern von Franz waren in den Dolomiten bei einer Bergtour abgestürzt. Durch ein plötzlich aufkommendes Gewitter mit Platzregen waren sie vom glitschigen Weg abgerutscht. Sehr lange hatte die Bergwacht nach ihnen gesucht. Als man sie endlich gefunden hatte, lagen sie mit verschlungenen Händen nebeneinander. Kurz danach war Isas Vater dann unerwartet verschwunden. Jedes Haus hatte damals einen Schicksalsschlag erlitten!

Franz war nach dem Tod seiner Eltern lange Zeit nicht ansprechbar gewesen und deutlich erkennbar seinen Nachbarn aus dem Weg gegangen, als wollte er übersehen werden. Und er hatte geflissentlich auch Mutter, Mona, Isa und Hanjo unbeachtet gelassen. Daran erinnerte sich Isa nur vage. Nur das Unglück hatte sich eingeprägt. Mona hatte ihr lange Zeit später erzählt, dass Franz nach dem Tod seiner Eltern seinen Garten total zerstört hätte. Und, dass ihre Mutter einmal zu einer Nachbarin gesagt hätte: „Das Haus von Franz sieht schrecklich aus, wie unbewohnt. Und seinen Garten lässt er total verwildern!“ Die Nachbarin wäre beipflichtend gewesen: „Tja, und man könnte meinen, er hätte seine freundliche und gesellige Art verschluckt. Ich denke, es fehlt ihm eben eine Frau! “ „Ja, ja“, war die Erwiderung ihrer Mutter ausgefallen. Dann wurde das Gespräch abgebrochen und Mutter hatte Mona an der Hand genommen und sich eiligst von der Nachbarin entfernt. So schnell, dass Mona kaum hatte mithalten können. Mona hatte auch einmal ihre Mutter gefragt, ob Franz nicht mehr mit ihr spricht, weil sie etwas Falsches zu ihm gesagt hätte. Mutter hatte sie dann auf ihren Schoß hin und her gewiegt und gesagt: „Nein mein Mädchen, du hast bestimmt keine Schuld daran, Franz ist eben traurig.“

Isas Gedanken wanderten nun zu jener Zeit, als Franz hinter seinem Haus einen kleinen Pool installiert hatte. Mona, Isa sowie Hanjo hatte es natürlich zu diesem Pool hingezogen. Doch von ihrer Mutter wurde dies offensichtlich nicht so gerne gesehen. Weshalb war niemals erwähnt worden. Mutter hatte nur fortlaufend Ausreden gefunden, die ihren Kindern den Gang zu Franz hinüber verhindern konnten. Aber Kinder waren von jeher erfindungsreich. Und meist erfolgreich beim Durchsetzen ihrer Begehren. Kurzum, da Franz seinen Beruf von zu Hause ausführen konnte, gab es den ganzen Tag über Möglichkeiten, um zu planschen. Doch bald war für Franz die Pflege zu kostspielig geworden und auch zu lästig. Deshalb hatte er den Pool verkauft und an der Stelle Bodenplatten ausgelegt und Gartenmöbel aufgestellt. Wie es sich später ergeben hatte, dass Franz in Mutters Garten den Rasen mähte und die Hecken schnitt, blieb für Isa ein Geheimnis. Hauptsache, Franz war wieder da! Für Isa war das wichtig gewesen. Allmählich hatte Franz seine schweigsame Zurückhaltung verloren. Doch an die unbeschwerte kindliche Verbundenheit vorheriger Zeiten konnte nie ganz angeknüpft werden. Isas Vermutung war, die Zeitspanne zwischen Kindheit und Erwachsenwerden hatte die Veränderungen gebracht. Denn Menschen entwickeln sich in diesen Lebensabschnitten enorm, sie werden feinfühliger. Zwischen Franz, Mona und Isa war damals eine etwas andersartige Freundschaft entstanden. Und für Hanjo war Franz zum männlichen Berater und zu seinem Vorbild geworden.

Isa sah nach ihrem Bruder. Er war nicht mehr da. Aber auf dem Couchtisch stand ein Glas mit Mineralwasser. Isa erschrak. Sie war so tief in Gedanken versunken und hatte nicht einmal wahrgenommen, dass Hanjo weggegangen ist. Sie fühlte sich für ihren Bruder jetzt verantwortlich. Sie, die lieber zurückgezogen lebt, musste nun die Mutterrolle übernehmen. Ob sie das schaffen konnte, fragte sich Isa immer wieder und eilte in die Diele. Sie rief: „Hanjo!“ Sogleich wurde im oberen Stockwerk eine Tür zugestoßen. Na, wenigstens ist er noch im Haus, beruhigte sich Isa aber wie wird sich die Zukunft mit Hanjo gestalten? Mit dem ihrer Meinung nach nicht unbegründeten Bedenken kehrte sie ans Fenster zurück.

Franz hatte inzwischen schwerere Gartenarbeit aufgenommen hat. Er war fast zu jeder Jahreszeit im Freien tätig. Isa bewunderte auch jetzt wieder seine muskulöse Figur. Die Körperhaltung von Franz deutete, genauso wie sein Gesicht, auf eine mächtige Willensstärke hin. Vielleicht empfand Isa deshalb seine Nähe stets als sehr angenehm und irgendwie wohltuend. Dunkle, etwas struppige, am Oberkopf auseinander fallende Haare machten ihn interessant. Manchmal fielen Strähnen über seine Augen, die er durch eine Kopfbewegung lässig zur Schläfe hin wegschüttelte. Franz` Augenfarbe war undefinierbar. Bei näherer Betrachtung fand sich ein Mischmasch aus grau und grün mit leicht bräunlichen Tönungen; also farblich kaum zu entschlüsseln, wusste Isa. Seine akkurat gewachsenen Zähne dagegen zeigten besonders beim Lachen ein makelloses Weiß. Entsprechend korrekt war stets, außer bei der Gartenarbeit natürlich, auch seine Kleidung. Sie passte immer bestens zu seinem sportlichen Typ. Allerdings spannte sich um seinen Bauch seit neustem manches Hemd; ganz besonders, wenn es tailliert war. Franz versuchte zwar, den Umfang zu vertuschen. Es gelang jedoch nicht immer. Plötzlich sah Franz zu ihr herüber. Als er Isa am Fenster stehen sah hob er winkend seinen Arm. Isa winkte zurück und fragte sich, wie schon so oft: komisch, dass Franz keine feste Beziehung hat. Warum lebt er so ganz alleine? Aber das könnte Franz ja auch sie fragen! Und ein bisschen ungern musste Isa sich eingestehen, dass Franz gut zu Mona passen würde. Sie selbst dagegen würde neben ihm sehr fad und bescheiden aussehen. Aber irgendwie fühlte Isa ein Begehren. Sie konnte nur nicht genau deuten nach was sie sich sehnte.

Einige Tage später taute es kräftig. Überall fanden kleine Rinnsale ihren Weg zu tiefer liegenden Abzugsgräben. Letzte Schneereste hafteten aber noch vereinzelt wie weiß-graue wahllos verstreute Tupfer an Schattenplätzen. Isa musste einfach hinaus an die Luft, sie hielt es im Haus nicht aus. Sie zog ihre Jeanshose an. Dann holte sie ihre Gummistiefel, denn draußen sah es sehr nass aus. Und sie schlüpfte in ihre Regenjacke. Hanjo war immer noch kaum ansprechbar. Er saß regungslos am Fenster und stierte fortwährend nach draußen zu dem Baum, von dem Mutter den Ballon herunterholen wollte. Isa legte ihre Hand auf Hanjos Schulter und redete auf ihn ein, dass er zu dem Spaziergang mitgehen sollte. Hanjo wich jedoch keinen Millimeter von seinem Blickfeld ab. Er brachte nur ein kurzes „Nein!“ zustande und zeigte durch schnelles unmissverständliches Schulterzucken, wie unangenehm ihm Isas Berührung gerade war. Isa hat einmal das kleine Wohnviertel umrundet und kam von dem kurzen Spaziergang in ihre verkehrsberuhigte Straße zurück. Zwischen einzelnen Häusern gab es noch nicht bebaute Grundstücke, die meistens mit sehr alten Obst- und Nussbäumen bestückt waren. Das Wohnhaus von Isa stand, wie auch das Haus von Franz, auf der Straßenseite, die erst viele Jahre später als Baugebiet erschlossen wurde. Auf der zuerst bebauten Seite hatten alle Häuser nahezu einen ähnlichen Baustil. Früher hatte diese Häuserzeile die Ortsgrenze gebildet. Es war angenehm, hier am Rand dieses beschaulichen Schwarzwaldortes zu wohnen. Knapp eine halbe Stunde Gehzeit wurden benötigt, um nicht nur erste höhere Hügelketten bewältigen zu können, sondern auch, um in der Gegenrichtung die im Flachland liegenden Flussauen zu erreichen. Egal welche Richtung eingeschlagen wurde, es gab überall schöne idyllische Gebiete, in denen man sich einfach im Nichtstun räkeln konnte. Isa liebte ihre heimatliche Landschaft sehr. Ich möchte mit niemand tauschen, dachte sie gerade. Ich möchte in keiner größeren Stadt wohnen, so wie Mona. Obwohl, manchmal wäre es auch gut, es würden mich nicht so viele Leute kennen, waren Isas weitere Gedankengänge. Sie schüttelte diese ab und dachte wieder an frühere Zeiten, bei denen es im Rahmen der Familienspaziergänge viele geographische Erklärungen von den Eltern gab. Isa hatte damals noch nicht so viel davon verstanden. Mona hingegen hatte immer fleißig mit ihrem Kopf genickt.

Eines Sonntags war die gesamte Familie auf tannen- und buchengesäumten Waldwegen steil bergauf gewandert. Dadurch hatte sie eine waldfreie langgezogene Hochebene erreicht, die weite Aussicht über den Heimatort und in die Rheinebene zuließ. Nach Wanderungen hatte es als Belohnung für den Aufstieg in einer Gartenwirtschaft stets ein Eis gegeben. Die angrenzende Wiese war zur Sommerzeit voller weidender Kühe und Schafe. Isa musste nun unwillkürlich lächeln. Sie dachte an ihre Schwester. Für Mona hatte sich eine überhaupt nicht angenehme Sache ereignet. Sie hatte einmal den Eltern ihr turnerisches Können beweisen wollen, indem sie sich auf der Kuhweide zu einem Handstand aufschwang. Allerdings hatte sie versehentlich eine Hand in die Hinterlassenschaft einer Kuh gesetzt. Mit einem weit von sich gestreckten Arm und weinerlich verzogenem Gesicht war sie schreiend zur Mutter gelaufen. Doch das Malheur war durch einen Gang zur Toilette bald Vergangenheit. Hanjo hatte noch Tage später seine Schwester deshalb verspottet und über ihr Missgeschick gelacht. Natürlich hatte er seinen Spaß daran gehabt, Mona als „Handstandplatsche“ zu bezeichnen. Isa fragte sich, ob die hübsche Mona wohl heute noch ihren Handstandversuch in Erinnerung hatte. Vielleicht sollte sie sich gelegentlich einmal danach erkundigen. Aber sicher würde sie, wenn Mona irgendwann wieder einmal erschien, das Vorhaben längst vergessen haben.

Als Isa bereits nahe am Haus war, lief ihr Heidwig entgegen, die mit ihren Schwestern Hilma und Helmine schräg gegenüber im Obergeschoss eines älteren Gebäudes wohnte. Das Haus hätte dringend einer Renovierung bedurft. Aber das gab das Budget der drei älteren Damen nicht her. Denn wie Isa beobachtet hatte, lebten die drei betagten Damen recht bescheiden. In ihr Haus gelangte man über zwei Sandsteinstufen und durch eine dunkle Holztür. Diese stand bei schönem Wetter manchmal offen und gab den Blick in einen den ganzen Hausgrundriss umfassenden Raum frei. In dessen hinterer rechten Ecke führte eine recht abgenutzte Holztreppe nach oben zur Wohnung. Bis auf eine Luke besaß der erdgeschossige Eingangsbereich keine Lichtquelle. Er lag in entsprechendem Dunkel. Und er wirkte durch abgestellte, teilweise durch Tücher abgedeckte Möbelstücke wesentlich kleiner als er tatsächlich war. Isa hatte einmal gedacht, dass man sicherlich einiges als Sperrmüll entsorgen könnte. Und dann, etwas mit hellerem Mobiliar geschmackvoll hergerichtet, würde der Raum bestimmt sein düsteres Aussehen verlieren.

Heidwig war nun fast bei Isa angekommen. Sie war klein, zierlich und hatte altersgerechte O-Beine. „Säbelbeine“, dachte Isa immer belustigt. Beim Gehen ließ Heidwigs Körperhaltung die Gebrechlichkeit ihrer Knochen erahnen. Isa dachte, dass jeder Schritt Heidwigs Hüfte wehtun müsste. Es gab für Isa keine Möglichkeit, auszuweichen. Ihr dazu angesetzter Versuch misslang kläglich. Heidwig konnte trotz ihres hohen Alters sehr flink sein. Sie stellte sich nahe vor Isa und begann auch schon zu singen: „Röslein, Röslein, Rö-höss-lein tot“, dabei drückte sie ihre Finger in Isas rechten Arm und sah sie listig an. Durch ein kurzes Angrinsen vermehrten und vertieften sich Heidwigs Gesichtsfalten. Normalerweise fing Isa mit ihr eine Unterhaltung an. Dadurch gelang es meistens, Heidwigs Gesang in einem Murmeln verstummen zu lassen. Dann wackelte ihr kleiner, mit zarten lila-grauen Löckchen überzogener Kopf beständig auf und ab, als würde er allem Gesagten zustimmen. Der leichte violette Ton, der auch in ihrer gesamten, teilweise etwas verblassten, Bekleidung zu finden war, vollendete zusammen mit ihren lila Strümpfen und dunkel-lila Schuhen bestens Heidwigs einheitlich farbiges Erscheinungsbild. Hanjo betitelte Heidwig stets nur als „Lila-Tante“. Diese Bezeichnung schob sich zuweilen auch in Isas Gedanken.

Heute widerstrebte Isa die Begegnung. Sie empfand keine Lust, sich mit ihrer Nachbarin abzugeben. Deshalb zog sie unhöflich ruppig ihren Arm aus der Umklammerung und drehte sich wortlos weg. Weiterhin unter Heidwigs Blicken und ihrer musikalischen Begleitung flüchtete Isa zu ihrem Haus. Als sie sich an ihrer Haustür nochmals umdrehte sah sie, dass ein Fenster der Wohnung der drei Schwestern geöffnet war. Kurze scharfstimmige Worte drangen durch die üppige winterharte Grünbepflanzung auf dem Fenstersims nach unten. Isa konnte sie nicht verstehen. Anders aber Heidwig. Während sich eben noch ihre Arme dirigierend im Takt ihres Gesangs bewegten, ließ sie diese plötzlich fallen, drehte sich wie ein Kreisel einmal um ihre Achse und eilte auf ihren kurzen Beinen kopfnickend Richtung ihres Hauses. Isa grübelte, ob Heidwigs Lied einen besonderen Sinn hatte? Bestimmt wäre, selbst wenn sie nachgefragt hätte, von der „Lila-Tante“ keine aufklärende Antwort gekommen! Hanjo lag schlafend auf der Couch, als Isa nach ihm sah. Sie dachte, dass Wellners Fragen ihn wirklich total überfordert hatten. Vorsichtig schloss sie wieder die Zimmertür. Sie wollte ihn nicht aufwecken.

Isa besaß noch ein altes Telefon, bei dem sie nicht ersehen konnte, wer anrief. Die Überwindung, sich den Neuerungen auf diesem Gebiet anzuschließen, war zu groß. Franz hatte sie deshalb schon oft geneckt, allerding immer nur, wenn Mutter nicht zugegen war. „Mensch, Isa“, hatte er vor einiger Zeit gesagt, „was das Telefon betrifft, seid ihr richtige altmodische Drahtamseln!“ „Was ist das?“, hatte Hanjo verdutzt gefragt. „Franz meint, wir haben für neue Dinge eine zu lange Leitung“, war damals. Isas lachende Antwort gewesen. „Ach?“, hatte sich Hanjo zufrieden gegeben. Natürlich könnte der Apparat längst gegen eine moderne Anlage ausgetauscht sein. Isa waren damals nur starke Bedenken gekommen, ob ihre Mutter mit der Erneuerung überhaupt umgehen könnte. Deshalb wurde die Entscheidung stets hinausgeschoben. Isa schrak aus ihren Gedanken auf, als das Telefon klingelte. Mona rief an. „Du brauchst mir den Wellner nicht mehr zu schicken!“, schrie diese in den Hörer. „Ich habe ihn doch überhaupt nicht…," setzte Isa gerade mit ihrer Antwort an, als ihre Schwester die Leitung auch schon wieder getrennt hatte. Wellner bei Mona? Was sollte sein Besuch in der Stadt? Woher kannte er bloß Monas Adresse, grübelte Isa und nahm sich vor, ihn demnächst danach zu fragen. Abends klingelte Franz. „Na, Hanjo, wollen wir Computer spielen?“, fragte er, um Hanjo aus seinen offensichtlich trüben Gedanken zu reißen und krabbelte ihm den Nacken. Hanjo schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Dann drehte er sich um und warf Franz einen kurzen Blick zu, den Isa nicht zu deuten wusste. Ihr Bruder griff zu einer Flasche Mineralwasser. Und er ging, ohne ein weiteres Wort, mit geräuschvollen Schritten die Treppe hinauf. Gleich darauf schloss sich seine Zimmertür. Isa und Franz sahen ihm verständnislos hinterher. Isa empfand die Situation als sehr peinlich. Ganz so unhöflich kannte sie Hanjo nicht. „Entschuldige Franz, er will bestimmt nicht unhöflich sein. Er vermisst Mutter sehr und ich denke, dass die Fragerei des Kommissars ihn enorm verunsichert hat. Er geht wahrscheinlich schon zu Bett. Ich glaube, dass es lange Zeit dauern wird, bis er Mutters Tod verarbeitet hat.“ „Bestimmt Isa, das denke ich auch! Er ist sehr sensibel, wir müssen ihm einfach äußerst viel Zeit lassen“, war Franz nachdrücklich ihrer Meinung.

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman

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