Читать книгу Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman - Gerlinde Marquardt - Страница 5

Hanjo

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Am nächsten Morgen war Hanjo plötzlich verschwunden. Ohne Vorankündigung, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Es war Sonntag. Isa hatte etwas länger geschlafen. Sie hatte nachts irgendeinen schlechten Traum, erinnerte sich aber nicht mehr daran. In ihr hing nun nur noch ein eigenartiges bedrohendes Gefühl. Ihre Beine und Arme lagen schwer auf der Unterlage Sie musste sich zum Aufstehen zwingen. Die Sonne war schon ein ganzes Stück am Firmament nach oben gestiegen. Oh, dachte sie, jetzt muss ich mich beeilen. Bald danach hatte sie den Frühstückstisch gedeckt. „He, Hanjo!“, rief sie laut. „Möchtest du heute nicht aus den Federn? Das Frühstück ist fertig!“ Als ihr Bruder nach einiger Zeit nicht erschien, rief Isa erneut. Aber Hanjo antwortete nicht. „He, du Langschläfer“, rief Isa, während sie ins obere Stockwerk ging. Sie klopfte an Hanjos Schlafzimmertür. Als immer noch keine Antwort kam, drückte Isa auf die Klinke. Der Raum war leer und das Bett unbenutzt. Die Bettdecke lag ordentlich zusammengefaltet. Isa suchte das Schlafzimmer der Mutter auf. Aber auch dort war das Bett unberührt. So wie es nach dem Zurechtmachen an jenem verhängnisvollen Tag hinterlassen wurde. Isa lief in Monas Zimmer. Vielleicht hatte Hanjo dort geschlafen. Doch Hanjo war nicht aufzufinden. Auch diese Bettdecke lag wie immer peinlichst geglättet. Mona würde ihr Zimmer nie unordentlich verlassen, das wusste Isa. Hanjo entgegen hatte in dieser Hinsicht eher eine lässige Art; also hatte er auf keinen Fall hier genächtigt. Angst und Übelkeit durchzogen nun Isas versteinerten Körper. Minutenlang konnte sie ihre Gedanken nicht ordnen. Als sich ihre Erstarrung löste, stürzte sie die Stufen hinunter und rannte, so schnell es die Beine zuließen, zum Nachbarhaus. Franz hatte sie wohl schon erblickt, denn bevor sie läuten konnte, öffnete er die Haustür. Isas Aufregung war für Franz nicht zu übersehen. Er machte einen Schritt vorwärts und schon wieder hatte Franz Isa im Arm. „Hanjo ist weg!“ „Wie weg? Ist er spazieren gegangen?“ Franz sah Isa verwundert an. „Er ist nicht in seinem Zimmer! Auch nicht in Monas.“ Isas Übelkeit verstärkte sich immer mehr. „Ich muss zur Toilette“, konnte sie gerade noch sagen und verschwand, um sich zu übergeben. „Es gibt sicher eine einfache Erklärung. Hanjo geht vielleicht wirklich nur spazieren und wird bestimmt bald wieder hier sein. Mach dir keine Sorgen!“, versuchte Franz die blass gewordene Isa, als sie zurückgekommen war, zu beschwichtigen. Doch Isa war weit davon entfernt, sich beruhigen zu lassen. Sie ging wie gehetzt auf und ab. „Aber wieso ohne Frühstück! Er ist noch nie ohne Frühstück aus dem Haus! Und weshalb sieht sein Bett so unbenutzt aus? Nein, ich glaube, er war vergangene Nacht überhaupt nicht in seinem Zimmer. Du weißt doch, wie er gestern so seltsam reagiert hat!“ Isas Angst wich nicht. Im Gegenteil, sie lag jetzt wie eine schwere einschnürende Kette um ihre Herzgegend. Sie war den Tränen nahe, wollte das aber Franz nicht zeigen. Als Franz jedoch erneut seine Arme um sie legte, verlor Isa ihre Beherrschung. Sie weinte so sehr, dass Franz Mühe hatte, sie durch langes Zureden einigermaßen in bessere Verfassung zu bringen. „Komm, ich gehe mit dir rüber. Sicher klärt sich alles schnell auf!“ An dem endlos scheinenden Nachmittag war Franz ständig an Isas Seite. Hanjo kam, auch als bereits die Dämmerung schon eingesetzt hatte, nicht zurück. „Du musst Mona verständigen. Und die Polizei anrufen“, hörte Isa die Stimme von Franz als käme sie aus weiter Ferne. Mechanisch funktionierte sie und rief Mona an. Isa hätte sich denken können, dass Mona wenig beeindruckt war. „Er wird schon wieder auftauchen. Du weißt ja, wie seltsam er manchmal sein kann!“ „Ja, aber Mona…“, wollte Isa weiter erläutern, aber Mona fiel ihr lachend ins Wort: „Wer weiß, wohin er wieder geflüchtet ist. Mach dir keine unnötigen Sorgen! Er nimmt sich zweifellos nur eine kleine Auszeit!“ Mona hatte wohl nicht den leisesten Zweifel, dass Hanjo wohlauf war. Isa meldete sich trotzdem bei der Polizei. Der Beamte sicherte ihr zu, die Meldung sofort weiterzugeben.

Abends, Franz hatte sich kurz zuvor verabschiedet, erschien Wellner. Er nahm es offenbar mit seinem Feierabend nicht so genau. „`n Abend“, grüßte er knapp, „na ja, manche Dinge entwickeln sich also doch weiter!“ Isa hätte ihn verfluchen können. So ein überheblicher Kerl! Mein Geschimpfe neulich war doch gerechtfertigt, dachte Isa erbost. Mit dem Kommissar kamen zwei weißgekleidete Männer, die alles in Augenschein nahmen. Auch das Treppenhaus wurde nicht ausgelassen. Wellners Vernehmung war kurz. Und Isa gab knappe Antworten. Die Angst drückte ihr noch immer die Kehle zu. Ansonsten war Wellner, im Gegensatz zu früheren Befragungen, seltsam wortkarg und von beachtenswerter Zurückhaltung. Nur seine scharf stechenden Blicke waren nicht verloren gegangen. Diese schossen sowohl durch die Räume als auch immer wieder in Isas bleiches Gesicht. Isa fühlte sich elend. Schob der Kommissar ihr vielleicht die Schuld an Hanjos Verschwinden zu? Sein Schweigen wurde für Isa zur Qual. Was, wenn sie ihn einfach ansprechen würde. Schon wieder peilte sein Blick Isa an. Ihre Unsicherheit wuchs. Welche Gedankenfülle sammelte sich im Kopf eines Kommissars wohl an, fragte sich Isa. Der müsste doch bis zum Bersten voll sein! Wie konnte Wellner alles in seinem Gedächtnis behalten. Er hat sich nicht einmal Notizen gemacht, sinnierte Isa. In seinen Gedanken muss doch alles stimmig bleiben! Doch halt, fiel Isa dann ein, der weiße Untersuchungstrupp fotografiert ständig. Auf diese Bilder war bestimmt allzeit Verlass, ohne Wenn und Aber! Spät zog Wellner, weiterhin fast wortlos, mit der Spurensicherung ab. Er nickte Isa nur kurz zu. Isa fragte sich, ob sie Wellner vielleicht gekränkt hatte, weil er sie einfach so „links liegen“ ließ. Warum gab er keine Erklärung ab? Es ging hier doch schließlich um das Verschwinden ihres Bruders!

Bei Franz brannte im Wohnzimmer noch Licht. Isa legte sich ihren Mantel um die Schultern und ging noch einmal hinüber. Aber Franz öffnete leider nicht, weder auf ihr Läuten noch auf ihr Klopfen. Sie ging um das Haus herum. Das Grundstück grenzte an einen kleinen Pfad. Dieser setzte sich, nach einem kurzen Wiesenstreifen, als Fußweg durch ein mit dichtem Unterholz und niedrigem Fichtenbestand durchzogenem Wäldchen fort. Es bewegte sich etwas im Dunkel! Isa glaubte eine Gestalt zu sehen, die schemenhaft durchs Unterholz huschte. „Hanjo!“ „Franz?“, es blieb still, keine Erwiderung drang an Isas Ohr. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Aber die Gestalt war doch deutlich zu sehen gewesen! Oder narrten sie ihre Sinne; hatte sie Hirngespinste? Als Isa wieder zu Hause war, versuchte sie nochmals, Franz telefonisch zu erreichen. Aber auch damit hatte sie kein Glück. Sie hätte ihn jetzt so gerne noch gesprochen.

Isa konnte an diesem Abend schlecht einschlafen. Setzten sich die Sinnestäuschungen fort? Sie vernahm plötzlich Geräusche im Untergeschoss, die sie sich nicht erklären konnte. Arme und Beine begannen zu kribbeln und ihr Herz schlug, den ganzen Brustkorb durchdringend, sehr heftig. Sie war nur noch fähig, schnell ihre Zimmertür von innen zu verschließen und vergrub sich dann wieder in ihre Kissen. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte von Mona. Sie sah, wie Mona und sie als Kinder Hand in Hand zur Schule gingen. Plötzlich kam ein kleiner Junge hinter einer Hecke hervorgeschossen. Er hatte in jeder Hand ein Schwert. Es war Hanjo. Als er Mona eines seiner Schwerter in den Bauch stieß, wachte Isa schweißgebadet auf. Ihre Augenlider brannten und waren schwer, aber sie wehrte sich gegen ein erneutes Einschlafen. Isa dachte an ihre Kindheit. Ihren Schulweg, den Mona und sie meist zusammen zurücklegten, hatte sie im Traum vorhin naturgetreu gesehen. Ihre hübsche Schwester war seit jeher ihrer Mutter sehr ähnlich gewesen. Mona hatte fraglos fast wie Mutter das gleiche Puppengesicht. Und gegen Monas dunkelbraune Locken und ihre dazu passenden braunen Augen war Isas nichtssagendes, gradlinig hängendes Aschblond auf ihrem Kopf weit abgeschlagen. Und Isas Gesicht zeigte keine markanten Punkte. Es hatte mit Monas Gesichtszügen keinerlei Ähnlichkeit. Zudem musste Isa stets Monas abgelegte Kleider tragen, was ihr manchmal peinlich war. Deshalb hatte sich Isa schon seit Kindertagen nie gleichrangig gefühlt. Ihre Persönlichkeit war dadurch sehr eingeschränkt. Fast so wie heute noch, dachte Isa düster und erinnerte sich gleich wieder an früher.

Viele Jungs hatten Mona umschwärmt, manch einer wollte sie auf dem Weg zur Schule oder auf dem Heimweg begleiten. Doch Mona hatte dies nie leiden können und ihre Abneigung durch ein herrisches: „Lass uns alleine!“ kundgetan. Und trotzdem war mancher Verehrer mit begehrlichen Blicken Mona weiterhin an der Seite geblieben. So lange, bis diese wütend gefaucht hatte: „Verschwinde nun endlich, du doofer Kerl!“ Sie war damals schon nicht sehr feinfühlig! Als Isa dachte, dass sie Monas schicke Kleider nicht mehr tragen könnte, weil sie sich erstens zu aufgedonnert darin fühlen würde, und zweitens, weil ihre und Monas Kleidergröße heute sowieso zu sehr auseinanderliefen, schlief sie nochmals ein.

Der nächste Tag war für Isa grauenhaft. Sie hatte heftige Kopfschmerzen und verkroch sich im Bett. Ich muss mich bei meiner Arbeitsstelle melden, überlegte sie. Dann entschied sie, es auf den nächsten Tag zu verschieben. Isa rief morgens bei ihrer Arbeitsstelle an. Sabine war am Apparat. „Hallo Isa“, kam sofort von Sabine, „tut mir leid, was passiert ist. Wie geht es dir heute? Der Chef ist nicht da!“ Oh, dachte Isa, Sabine ist schon informiert! Natürlich, wie konnte es anders sein! In dem kleinen Ort hatte sich Hanjos Verschwinden bereits herumgesprochen. „Sabine, ich habe einen Brief geschickt und den Chef um Verlängerung meines Urlaubs gebeten. Ich bin nicht fähig zu arbeiten.“ „Alles klar!“, Sabine war ständig am Kaugummikauen. Auch jetzt klang ihre Stimme danach. „Isa, ich schaue mal bei dir durch. Dann quatschen wir ein bisschen.“ „Ich würde mich freuen, ruf aber vorher an.“ Von wegen quatschen, Isa hätte lieber ganz anders geantwortet. Höflichkeit entschuldigt die Lüge, dachte sie. Sie wusste nur zu genau, dass Sabine bei ihrem voraussichtlichen Besuch viel mehr Neugier als Anteilnahme mitbringen würde. Das Telefon klingelte wieder schrill. Mona war am anderen Ende der Leitung. Als Isa ihr sagte, dass Hanjo immer noch nicht aufgetaucht war, machte Mona ihr Vorhaltungen: „Was war los? Hattest du Streit mit Hanjo? Du weißt doch, dass er sich immer seltsam verhält. Vielleicht bist du ihm mit deinem Getue zu stark auf die Nerven gegangen!“ Jetzt war es Isa, die den Hörer auf die Gabel knallte. Was bildete sich ihre Schwester eigentlich ein? Sie, Mona, die sich nie um die Familie gekümmert hatte! Isa war verärgert. Sie wusste, wie ihre Mutter unter dem unerwarteten Wegziehen von Mona gelitten hatte. Ausgerechnet Mona, der hübsche Liebling ihrer Mutter, ließ diese mit zwei jüngeren, unscheinbaren, in sich gekehrten Geschwistern zurück. Und eines davon war sogar ein Sorgenkind!

Isa wollte wieder zu Franz. Sie musste unbedingt mit jemandem sprechen. Am Haus der Schwestern bewegte sich wie von einem Hauch der Vorhang. Sicher stand Hilma, die kaum aus der Wohnung ging, hinter dem Fenster. Isa wusste, dass sie eine sehr fahle Gesichtsfarbe hatte und vermutete deshalb, dass Hilma etwas kränklich war. Ihre weißen zottigen Haare verstärkten diese Blässe noch. Hilma war selten ordentlich gekämmt. Sie sah seit jeher so aus, als würde Heidwig oder Helmine ihren Haarschnitt tätigen. Franz war wieder nicht zu Hause. Isa fühlte sich plötzlich sehr einsam. Franz fehlte ihr, Hanjo fehlte ihr und sogar Mona fehlte ihr jetzt. Sie drehte sich um, fühlte diesmal einen großen Druck in ihrem Hals und hoffte, dass sie die Tränen noch zurückhalten konnte, bis sie zu Hause war. Im Wohnzimmer kauerte sie sich auf die Couch, umarmte ihre angezogenen Beine und weinte bitterlich.

Nachmittags klingelte erneut das Telefon. „Ist Hanjo aufgetaucht?“ „Nein, ich habe große Angst, dass ihm etwas passiert ist!“ Isa sprach nicht weiter und Franz legte ebenfalls eine Pause ein. Dann kam endlich: „Komm mal schnell rüber!“ Die Stimme von Franz war jetzt eine Wohltat für Isas Ohren. Sie zog schnell den Mantel an und ging hinüber. Franz kam ihr von der Rückseite seines Hauses entgegen. Hinter ihm wirbelte ein kleines mehrfarbiges Etwas über den Rasen. „Du hast einen Hund?“ Isa staunte. Wusste sie doch, dass Franz nicht unbedingt der geborene Hundenarr war! Isa fixierte das Tierchen. Seine Ohren waren wie die Schlagzeile einer Zeitung, man erblickte sie zuerst. Dunkelbraun waren beide und im Verhältnis zum Kopf viel zu lang. Auf dem dazugehörenden Körper gab es mehrere Färbungen. Das Braun der Ohren wiederholte sich an den beiden langhaarigen Flanken. Den Rücken zierte ein helleres Braun. Vom Hals an bis über den Kopf war das Fell eher grau-braun meliert. Einige wenige graue Punkte verteilten sich unregelmäßig über den Rücken bis zu seiner Rute. Und die hellbraunen Läufe waren einfach drollig. Sie waren fast so kurz wie die Ohren lang waren.„Wie heißt er denn?“ „Nero!“, antwortete Franz nicht ohne Stolz in der Stimme. Es entstand ein kurze Pause. Dann sagte Isa stichelnd: „Toller Name, passt ausgezeichnet zu deinem riesigen reinrassigen Hund! N e r o ! Franz, wie bist du denn darauf gekommen?“

Quietschende Reifen rissen die Antwort von Franz weg. Das Auto kam direkt auf sie zu. Wellner sprang mit einer unglaublichen Sportlichkeit aus dem Wagen und griff nach Isas Arm. „Dachte ich mir doch, dass ich Sie hier finde. Ich muss Sie auf das Revier mitnehmen!“ Isa wollte sich wehren, aber Wellner lockerte seinen Griff nicht. „Soll ich mitkommen?“, fragte Franz. „Nein!“, schnappte Wellner glashart, fast atemlos, und zog Isas Arm fester zu sich, sodass sie ihm folgen musste. Der Kommissar war sehr hektisch. Seine dürren Finger hatten typische Arthrose-Gelenke und pressten sich so fest in das Lenkrad, als müsste er sich daran festhalten. Hoffentlich fährt er besser als er das Lenkrad züchtigt, dachte Isa. Als sie neben ihm saß entpuppten sich ihre Bedenken als unbegründet. Wellner konnte äußerst gut Auto fahren.

Neugierige Augen beäugten Isa, als sie mit Wellner das Gebäude betrat. Zum ersten Mal sah Isa eine Polizeidienststelle. Sie war mit Polizisten bisher nie in Berührung gekommen. Wellner führte sie wieder am Arm haltend durch den Raum. Ihr Herz klopfte spürbar und sie war froh, als sie im abgetrennten Büro des Kommissars angekommen waren. Wellner schob ihr, mit einer von Isa unerwarteten Höflichkeit, einen Stuhl zu. Er selbst nahm ihr gegenüber hinter seinem Schreibtisch Platz, fasste nach unten und zog ein blaues Bündel hervor. Wortlos, aber mit wachsamen Augen, schob es Wellner zu Isa hinüber. Isa schrie auf: „Hanjos Jeansjacke!“ „Eindeutig?“, forschte Wellner. Isa nickte, schluckte schwer und hatte Furcht, diese eine Frage zu stellen. Doch Wellner kam schon mit der Erklärung: „Wir haben die Jacke in dem kleinen Waldstück gefunden, das hinter dem Haus Ihres Nachbarn liegt.“ „Und Hanjo?“ Isa erblasste. „Ansonsten waren keine verwertbaren Spuren zu finden. Aber meine Leute suchen weiterhin das Gelände großräumig ab.“ Wellners Stimme klang jetzt sehr mild. Isas Augen füllten sich mit Tränen. Wellner überging ihre, ihm sehr wohl aufgefallene, Gemütsbewegung mit seiner weiteren Frage: „Fehlt bei Ihnen zu Hause sonst etwas von Hanjos Sachen?“ Isas Kopf bewegte sich verneinend und sie hob ihre Schultern. „Ich weiß nicht genau, was er bei seinem Verschwinden getragen hat.“ Abrupt stand Wellner auf. Er legte Hanjos Jacke, wie er sagte, für weitere Gutachten in den Schreibtisch zurück. Dann kam er schnell um den Schreibtisch an Isas Seite, fasste an ihre Stuhllehne und zeigte somit, dass sie wieder gehen konnte. „Ich bringe Sie nach Hause.“ Wie aus weiter Ferne hörte Isa Wellners Stimme und folgte ihm durch die Revierräume zurück. Blicke nahm sie nicht mehr wahr, ihre Augen waren noch sehr feucht. Wellner fuhr zügig an. „Haben Sie eigentlich im Zimmer Ihres Bruders noch etwas Auffälliges entdeckt?“, prallte die unerwartete Frage gegen Isas Verunsicherung. „Der kleinste Anhaltspunkt kann wichtig für uns sein.“ Wellner sah Isa ganz kurz an. „Nein“, musste sie kleinlaut eingestehen. „Seit Hanjo verschwunden ist, war ich nicht mehr in seinem Zimmer.“ Wellner war erstaunt: „Wieso nicht?“ „Es geht nicht! Mir wird übel, wenn ich nur daran denke. Ich kann es wirklich nicht!“ „Das sollten Sie aber, je eher Sie das Zimmer betreten, desto besser ist es für Sie. Sie können nicht ständig vor sich selbst davonlaufen!“ Isa zuckte zusammen. Sie war im Innersten getroffen. Der hat kein bisschen Verständnis, dachte sie und bemerkte, dass Wellner ihr von der Seite aus schmalen Augen seinen einmaligen durchbohrenden Blick zuwarf. Auch seine Augenbraue veränderte sich wieder forschend. Isa sank immer mehr in den Autositz. Hatte Wellner sie etwa als Verdächtige aufs Revier mitgenommen? Saß sie deshalb jetzt neben ihm im Auto? Als Wellner angehalten hatte, ging er zur anderen Seite des Autos und öffnete für Isa die Wagentür. Er streckte ihr seine Hand als Hilfe zum Aussteigen entgegen. Sie war angenehm warm. Seine Finger sind wirklich sehr lang; und er hat einen festen Händedruck, dachte Isa. „Also, übersehen Sie nichts! Schönen Abend noch, Frau Rieffert.“ Es war das erste Mal, dass er Isa bei ihren Namen nannte.

Isa war gerade eben ins Haus gegangen, da schrillte schon wieder das Telefon Das laute Klingeln ließ Isa jedes Mal zusammenzucken. Ich muss es leiser stellen, dachte sie und gab ihren Namen bekannt. „Mona!“, meldete sich darauf forsch ihre Schwester. „Hallo, Mona“, grüßte Isa etwas verhalten. „Wieso erreiche ich dich jetzt erst?“ Mona bellt schon wieder, dachte Isa und hielt es nicht für nötig, zu antworten. Aber Mona sprach sowieso sofort weiter: „Und?“, klang grell ihre Stimme. „Ist Hanjo inzwischen aufgetaucht?“ „Nein! Ich melde mich sofort, wenn er kommt!“, versprach Isa. Dann entstand eine verblüffend lange Pause. Durch die Leitung rauschte nur Monas heftiges Atmen. „Was ist mir dir?“, fragte Isa deshalb nun doch etwas besorgt. „Nichts!“ Dann war die Leitung wieder tot. Aha, dachte Isa, sie ist beleidigt, weil ich das letzte Gespräch einfach unterbrochen habe. Mona hat noch nie akzeptieren können, dass ihre Belange einmal nicht im Mittelpunkt standen. In dieser einen Hinsicht war sie, die Weltgewandte, mimosenhaft.

Isa fühlte, dass sie immer mehr von ihrer Energie verlor. Sie sehnte sich einfach nach Ruhe. Nach Ruhe und ausheulen können, was sie schon wieder tat, während sie den Hörer auflegte. Irgendwann wurde Isa ruhiger. Frühere Zeiten gingen durch ihren Kopf. Mutter hatte immer behauptet, dass Mona ihr selbst zwar sehr ähnlich sähe, aber das Naturell ihres Vaters hätte. Isa erinnerte sich nur ganz schwach an ihn. Er war groß; war, entgegen Mutter und Mona, hellhaariger gewesen und hatte sehr gut ausgesehen. Ein Foto, das Isa einmal von ihm gefunden hatte, stimmte ihrer Erinnerung bei. Sie war damals gerade mal etwas über vier Jahre alt, als ihr Vater nicht mehr nach Hause gekommen war. Verblassend hatte Isa heftige und lautstarke Auseinandersetzungen in Erinnerung. Sie hatte aber nie verstanden, weshalb die Eltern in Streit geraten waren. Der Versuch, sich jetzt die Stimme des Vaters ins Gedächtnis zu rufen, gelang nicht. Isa erwog weiter: ich glaube, er hatte eine dunkle Stimme. Und plötzlich keimte ein lautes Türzuschlagen in ihrer Erinnerung auf. Und jene seltsame Stille danach. Ebenfalls die Traurigkeit, die sie ab dieser Zeit in den Augen ihrer Mutter gesehen hatte. Damit endete nun Isas Erinnerungsvermögen. Sie schloss ihre Augen, weil jene eigenartige Angst sie wieder befiel. Dann schlief sie auf dem Sessel ein.

Sabine kam am Tag darauf natürlich ohne Voranmeldung, aber auch ohne Kaugummi im Mund, zu Besuch. Sie küsste Isa auf beide Wangen, ging dicht an ihr vorbei ins Wohnzimmer und warf sich, ohne Isas Aufforderung abzuwarten, auf die Couch. Und sie schlug die buntbestrumpften Beine übereinander, was ihren engen Rock fast peinlich in die Höhe rutschen ließ. Ihre langen kleinen rotgefärbten Locken umsäumten bis zu den Schultern ihr hübsches Gesicht, das durch die üppige Haarpracht sehr schmal wirkte. Richtung Schultern wurde ihre Frisur buschiger. Außerordentlich trapezförmig, dachte Isa. Als ob Sabine Gedanken lesen könnte, streifte sie rechts und links ihre Lockenpracht zurück, wobei Isa ihre genauestens passend zu den Strumpffarben lackierten Fingernägel sah. Isa sah an sich herunter. Sollte sie sich vielleicht etwas mehr um ihre Kleidung kümmern? Sie ging lieber lässig angezogen, musste aber ehrlicherweise zugeben, dass sie nicht nur gegen Mona, sondern auch gegen Sabine eintönig aussah und ihre Figur nicht zur Geltung kam. Ihre Arbeitskollegin dagegen hatte stets den neusten Schrei, den man aus Modezeitschriften ausgiebig entnehmen konnte.

Sabine rekelte sich lauernd in ihre Plauderstellung. Isa war allerdings auch heute wenig nach Unterhaltung zumute. „Der Chef grüßt dich. Du sollst dich erst vollständig erholen, bevor du wieder zur Arbeit kommst. Bis die ganze Angelegenheit ausgestanden ist, kannst du zu Hause bleiben“, plapperte Sabine und aalte sich genüsslich weiter in die Couch. Aha, Angelegenheit nennt man das; einfach ganz lapidar, Angelegenheit! Reichlich auseinander klaffendes Mitgefühl findet sich zwischen uns Menschen, obwohl wir uns schon so lange täglich bei der Arbeit sehen und uns gut kennen. Meine Verzweiflung stellt sich niemand vor, dachte Isa enttäuscht. „Danke, Sabine.“ Sabine nahm übergangslos Anlauf und reckte ihren schlanken, wahrscheinlich innen bis zum Rand vollen Hals. Sie wuchs zu einem Sitz-Riesen. Isa kannte die Anzeichen nur allzu gut. Komm schon, dachte Isa, bringen wir es hinter uns. „Ach Isa, es tut allen so leid, was mit deiner Mutter passiert ist. Auch die Probleme mit deinem Bruder. Hast du denn keine Ahnung wo er ist? Na, ja, er soll ja immer etwas anders geartet gewesen sein. Ich mache mir, entschuldige bitte, darüber meine eigenen Gedanken. Und stell dir vor, wo ich auch hinkomme werde ich gefragt, ob man nun weiß, wieso dein Bruder verschwunden ist. Es werden ja allerhand Theorien aufgestellt. Die Gerüchteküche brodelt! Viele denken ja, er hätte deine Mutter vielleicht wirklich …“, Sabine räusperte sich lauernd in ihrer kurzen Sprechpause, „du weißt schon! Aber ich gebe darauf keine Antwort. Es ist ja noch nichts bewiesen, deshalb denke ich steht es keinem zu, Theorien aufzustellen, denn…“ Ab hier schaltete Isa genervt ab und suchte sich ihren eigenen Gedankengang. Sie kannte Sabine nur zu genau. Alles konnte man ihr nicht glauben, denn Sabine wurde bei ihren Ausführungen nicht selten abschweifend. Dann konnten sich Sachverhalte dazwischen schieben, die nicht unbedingt der Realität entsprachen. Freilich war Sabine beständig von ihren fantasievollen Darstellungen überzeugt. Ihre Trugbilder waren ihre Wirklichkeit; ein Widerlegen war total zwecklos. Isa zwang sich irgendwann, die Aufmerksamkeit wieder auf ihre schwatzhafte Kollegin zu richten. Sie bemerkte dass Sabine bereits zu einem ganz anderen Thema gewechselt hatte.

„...ist er einfach gegangen. Dabei läuft diese Sache erst kurze drei Wochen. Da kann doch noch keine endgültige Entscheidung getroffen werden. Mir geht es gar nicht gut. Seither habe ich ständig Kopfschmerzen, aber das will ja keiner wissen. Es nimmt auch niemand Rücksicht auf mich! Von meinen Eltern bekomme ich keine Hilfe, die schieben eher mir alle Schuld zu. Ich weiß nicht mehr ein noch aus, was soll ich denn nur tun?“ Sabines Stimme wurde weinerlich, sie presste auch tatsächlich so etwas wie eine Träne aus einem Auge. Isa nahm ihre Arbeitskollegin einfach in den Arm. „Es wird sich schon alles wieder geben“, versuchte sie zu trösten, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was Sabine wirklich bedrückte. Aber diese schien sich damit zufrieden zu geben, denn sie wischte sich kurz mit einem Taschentuch über die Augen und fragte nur noch: „Meinst du?“ „Sicher, Sabine, ich mache uns jetzt einen starken Kaffee, der bringt uns beide auf die Beine“, fiel Isa ein. Sabine sah auf die Uhr. „Oh, so spät schon, dann muss ich bald gehen.“ Den Kaffee wartete sie, plötzlich sehr in sich gekehrt, aber noch ab. Dann trank sie ihn erstaunlich schnell aus und verabschiedete sich.

Der Vorhang bewegte sich wieder. Diesmal wurde er ein bisschen mehr zur Seite geschoben, aber Isa konnte keine ihrer Nachbarinnen wahrnehmen. Gleichzeitig öffnete sich die Haustür und Helmine trat aus dem Haus. Als sie Isa erblickte, steuerte sie direkt auf sie zu. Helmine hatte eine eigenartig gegerbte Haut. Ihr Gesicht war total mit Sommersprossen übersät. Und Isa wusste aus Sommertagen, dass dies auch für Helmines Arme galt. Diese Merkmale unterschieden sie, genauso wie auch ihre Frisur, sehr von dem Aussehen ihrer beiden Schwestern. Ihre sehr langen Haare trug sie zu zwei einzeln geflochtenen Zöpfen. Diese gaben, obwohl ineinander geschlungen, doch nur einen dünnen Kranz um ihren Kopf. Die Enden bildeten als Halsabgrenzung unten am Hinterkopf einen kleinen Knoten. Einzelne spärliche Strähnen rutschten jedoch immer heraus und hingen lose am Nacken hinunter. Manchmal entzog sich auch seitlich der Stirn ein kleiner Teil, von Helmines sonst so streng zusammengerafften Haaren. Der ließ sich dann locker vor ihren Sommersprossen nieder, was ein häufiges Zurückstreifen durch ihre Hand zur Folge hatte. Ihr Haar zeigte zwischen den grauen Strähnen noch eine leicht rötlichblonde Färbung. Und ihre rundliche Gesichtsform räumte einen weiteren Unterschied zu ihren Schwestern ein.

Helmines Mantel war nicht unbedingt modisch. Farblich glich er der Kleidung eines Försters. Ein sattes Dunkelgrün, über dem sich im Schulterbereich ein bunter Schal mit Fransen schlang, leuchtete Isa entgegen. Die Farben sehen an Helmine gut aus, bestimmte Isa für sich, auch wenn ihr Mantel bereits älter ist. Das konnte man am teilweise abgenützten Stoff an den Ärmeln erkennen. „Mein Beileid, Frau Rieffert zum Tode Ihrer lieben Frau Mutter.“ Helmine sprach immer sehr geschwollen. „Haben Sie von Ihrem Herrn Bruder etwas gehört?“ Die Nachricht verbreitet sich ja wirklich blitzschnell, dachte Isa. Sie sah Helmine an. „Nein, leider noch nicht, ich hoffe, ihm ist nichts zugestoßen. Ich bin mit meinen Nerven am Ende. Ich schlafe nachts kaum.“ Zum ersten Mal artikulierte Isa, wie verzweifelt sie war und wie sehr sie litt. Warum gerade zu Helmine? „Quälen Sie sich nicht so. Ihr Herr Bruder kann bestimmt auf sich aufpassen. Soll ich Sie einmal massieren? Das brächte Ihrem Körper etwas Entspannung. Ich mache es gerne! Ihre Nerven sind zurzeit bestimmt nicht die besten!“, wollte Helmine helfen. „Ich habe schon vielen Menschen beigestanden. Einen kleinen Jungen, den seine kranken Beine nicht tragen konnten, habe ich auch geheilt. Heute ist er ein sehr guter Sportler.“ Diese Geschichte kannte Isa schon, sogar noch ausführlicher mit genauesten Platzierungsangaben von einzelnen Disziplinen. Helmine fasste sich heute kurz. Isa sah zum Fenster hoch. Es war jetzt geöffnet. Hilma lächelte zu ihr herunter. Helmine folgte Isas Blick und rief nach oben: „Mach das Fenster zu, Hilma, es wird kalt im Wohnzimmer!“ Hilma veränderte ihren Gesichtsausdruck. Der Fensterflügel schloss sich klirrend. Wenn ich mit Mona zusammenleben müsste, ginge es uns genauso, dachte Isa. Dann fiel ihr ein, dass Helmine zuvor eine Frage gestellte hatte, die einer Antwort bedurfte: „Vielen Dank für Ihr Angebot, vielleicht komme ich einmal darauf zurück.“ Helmine drehte sich unvermittelt, auch seltsamerweise grußlos, um und stampfte davon. Sie trug Schuhe, die an der Innenseite auffallend verformt waren. Die Gelenke der Großzehen drückten nach außen; genau an diesen Wölbungen war das Leder abgeschabt. Isa dachte: Helmine ist nicht gut zu Fuß. Es sieht aus als hätte sie viel von ihrer Trittsicherheit eingebüßt. Als Isa sich zur anderen Richtung drehte, wusste sie, warum Helmine ohne Gruß gegangen war. Heidwig war auf dem Heimweg und kam direkt auf sie zu. Isa winkte ihr höflich und verschwand aber vorsorglich rasch in Richtung ihres Hauses. Ich habe die drei Schwestern wirklich noch nie zusammen auf der Straße gesehen, ging es ihr durch den Sinn. Kaum hatte Isa die Haustür geschlossen, klingelte es. Sicher kommt Franz auf einen Sprung herüber, dachte Isa noch beim Öffnen der Tür. Aber es war nicht Franz, Heidwig hatte geläutet und sang vor sich hin. Es war ein unverständliches wirres Singen. Isa war einen Moment entgeistert und Heidwig nutzte diesen Augenblick schamlos aus. Sie schlängelte sich geschickt an Isa vorbei in die Diele und nagelte sich dort fast triumphierend fest. „Schlaf, Kindlein, schlaf“, wurde das Singen deutlicher und gleich ging die unerwünschte Nachbarin über zu: „Sieh die gold`nen Sterne dort!“ Isa fühlte sich hilflos. Feuchtigkeit stieg in ihre Augen. Sie wurde mit dieser Situation nicht fertig und fuhr unter Tränen Heidwig barsch an: „Hören Sie auf mit Ihrer Singerei und lassen Sie mich alleine.“ Sie öffnete die Haustür und zeigte der alten Dame deutlich den Weg nach draußen. „Nicht weg..ssicken, Helmine tuts immer.“ Isa war verblüfft. Heidwig konnte sprechen! Und sogar verlangen: „Möchte hier bleiben, bitte!“ Pause! Eine Pause, während der Isa ihre unerwünschte Besucherin nur fragend anblicken konnte. „Ich weiß..sss“, danach erstarrte Heidwig. Als ob sie sich erschrocken hat, dachte Isa, und sicher hat sie schon lockere Zähne oder ein nicht gut haftendes Gebiss. Oder einen Sprachfehler? Aber beim Singen bemerkt man dies nicht, wälzten sich Isas Gedanken vor und zurück. Sie konnte sich keinen Reim auf Heidwigs Verhalten machen. „Oh, helfen`sss mir, ich helf` Ihn`n! Nicht weg..ssicken, Helmine tut immer“, wiederholte sich Heidwig. Nun stand sie da, das zierliche Persönchen. Was muss ich denn noch alles ertragen, dachte Isa, sagte dann aber: „Kommen Sie mit in die Küche, wollen Sie ein Glas Wasser?“ Heidwig trudelte ihr hinterher. Ohne Isas Aufforderung bemühte sie sich wendig, ihren Körper auf die Sitzfläche eines Stuhles zu schieben. Ihre kurzen Beine reichten, als sie endlich saß, kaum bis zum Boden. Isa fürchtete sich fast ein bisschen. Sie konnte Heidwigs Verhalten nicht einschätzen. Zudem war sie noch nie alleine mit ihr in einem Raum gewesen. Sie stellte ein Glas Wasser auf den Tisch, das Heidwig gierig austrank. „Wollen Sie etwas essen?“, fragte Isa. Heidwigs Gesicht entspannte sich freudig. Ihr Kopf nickte. Isa stellte eine mit Wurst belegte Brotscheibe auf den Tisch. Die gealterten Finger griffen schnell zu. So isst jemand, der ausgehungert ist, dachte Isa. „Möchten Sie noch eines?“ Wieder Nicken. Nach dem zweiten Brot stand Heidwig auf. „Danke, b`sss bald, Rösslein, Rösslein, Rö..hösslein.“ Sie sang nicht weiter, ging durch den Flur und öffnete sogar selbstständig die Außentür. Sie kam nochmals ein paar Schritte rückwärts und drehte ihren Kopf, als würde noch etwas Ungesagtes auf ihren Lippen brennen. Sie sagte aber nichts. Sie schob nur kurz ihren Unterkiefer vor und dadurch ihre unteren Schneidezähne sichtbar über die Oberlippe. Dann verschwand sie nach draußen, diesmal ohne sich umzusehen.

Der einfarbige Regenbogen, Kriminalroman

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