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EIN RING WIRD GESTOHLEN

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Es regnete an diesem Mittwoch im Oktober seit Stunden und die Herbstmelancholien fielen mit den ersten Blättern der Bäume auf den Boden. Für das Münsterland war dies kein ungewöhnliches Wetter und für die Natur war es, nach dem abermaligen trockenen Sommer, ein Segen. Für mich als Ridgeback sind solche Witterungsverhältnisse jedoch eine kleine Katastrophe. Ich war noch nie ein Freund von Wasser, noch nicht einmal in meinem Trinknapf. Da ziehe ich einen gut temperierten Primitivo aus dem Bestand meines Leinenhalters vor. Sturmwarnungsverdächtige Unwetter oder gewöhnlicher Nieselregen, dies habe ich mit den meisten Mitgliedern meiner Rasse gemeinsam, sind mir schlichtweg unsympathisch. Sie rangieren bei mir auf der gleichen Negativstufe wie Fußball im Fernsehen oder Spaziergänge an der Leine. Im warmen Zuhause lässt sich solch ein Schmuddelwetter ja noch ertragen, aber der Nachmittagsspaziergang stand noch aus. So wie ich meinen Leinenhalter Gernot kannte, würde er auch bei diesem Regen mit mir einen Gassigang im sogenannten Hundewald machen wollen.

Mein Besitzer ist Junggeselle in seiner zweiten Lebenshälfte, der aufrecht einen Meter neunzig misst und sich selbst als sportlich bezeichnet. Ich sehe das etwas anders. Seine besten Jahre liegen hinter ihm, was durch seinen Bauchansatz für jedermann ersichtlich ist. Gernots Vorliebe für Wein, gutes Essen und vor allem für Schokolade, die mir mit der fadenscheinigen Begründung vorenthalten wird, sie sei für mich extrem ungesund – dabei habe ich noch keinen Hund getroffen, der an dieser Leckerei gestorben ist –, fordert halt ihren Tribut. Eins nur muss man ihm lassen: Er ist konsequent. Ich schwanke, ob ich dies als Vor- oder Nachteil werten soll. Wenn ein Gassigang bei Regen anstand, wäre ich jedenfalls etwas flexibler gewesen als er.

Beim Hundewald, den nur mein Leinenhalter so nennt, handelt es sich um ein kleines Waldgebiet in Roxel, einem westlich gelegenen Stadtteil von Münster. Zumindest einmal am Tag trifft sich dort ein Großteil der vierbeinigen Bevölkerung mit ihren Leinenhaltern zum Gassigang. Genau genommen ist dieses Waldstück eine riesige Toilette, denn fast jeder Vierbeiner hinterlässt an seinem Lieblingsplatz seine unverdaulichen Nahrungsreste. Deswegen hat dieses kleine Waldstück für unsereins eine sehr vielseitige und anziehende Geruchspalette.

Gernot saß an seinem übervollen Schreibtisch vor seinem PC und hatte Mühe, zwischen dem Durcheinander auf der Arbeitsfläche einen freien Untergrund für seine Kaffeetasse zu finden. Von meiner bequemen Hundeliege aus, die seitlich neben seinem Schreibtisch stand, konnte ich sowohl den Garten wie auch meinen Leinenhalter und den PC sehen. Es war immer wieder berauschend zu beobachten, was der Monitor in der Lage ist zu zeigen: Die unendliche Vielfalt des Cyberspace, die bewegten Bilder, Fotos und Texte in mannigfaltigen Formaten und Farbtönen. Viel besser als Fernsehen, da der Nutzer das Geschehen teilweise selbst gestalten kann. Ich beobachtete, wie Gernot mit wenigen Klicks durch die verschiedenen Seiten navigierte. Alleine das Wort ‚navigieren‘ erweckte in mir das abenteuerliche Gefühl von grenzenloser Freiheit und die erregende Vorstellung einer Expedition in unbekannte Gegenden dieser Welt, die von fremden Hunderassen bevölkert werden. Ein Leben jenseits der Diktatur der Hundeleine.

Gernot war vom Internet zum Schreibprogramm gewechselt und bediente eifrig die Tastatur. Bei schlechtem Wetter empfand ich die dezenten Computergeräusche als besonders anheimelnd. Wenn sie verstummten, hob er den Kopf und blickte über den Bildschirmrand durch das große ebenerdige Fenster in den regennassen Garten. Er schrieb an seinem Kriminalroman, kam damit aber offenbar nicht weiter und dachte nach. Schreiben ist das Handwerk der Gaukler. Ein Bücherschreiber formt die Realität immer wieder neu, verheddert sich in den Fallstricken seiner eigenen Logik, bis die Welt schließlich Kopf steht. Tiefe Falten hatten auf seiner Stirn die Oberhand gewonnen, als er mit starrem Blick nach draußen schaute, ohne irgendetwas zu sehen. Er musste wohl mit sehr intensivem Nachdenken beschäftigt sein.

»Mäuschen, du musst ja noch raus, die Pflanzen wässern«, sagte er nach einer Weile zu mir und realisierte erst in dem Moment, dass diese Aufgabe bereits von Mutter Natur in reichlicher Form wahrgenommen wurde.

»Komm steh auf, dann gehen wir nur kurz raus und fahren danach Christine besuchen. Die Seniorenresidenz hat leckeren Apfelkuchen.« Ich stieg aus meiner flauschigen Hundeliege und streckte mich. Das klang nach einem Kompromiss. Vom Apfelkuchen bekam ich zwar nichts ab, aber dafür würde der Spaziergang bei diesem unangenehmen Wetter nur kurz ausfallen. Christine, die Mutter meines Leinenhalters, eine sehr warmherzige Person, wohnte seit einigen Jahren im Altersheim. Zwei Mal die Woche besuchten wir sie. Sie und die anderen Heimbewohner freuten sich stets, wenn ich dabei war. Fast immer fiel dabei ein Kauknochen für mich ab. Eine halbe Stunde später stellten wir unseren Wagen auf dem letzten freien Parkplatz vor dem Heim ab. Die Fahrzeuge standen so eng aneinander, als wollten sie Nachwuchs zeugen. Schnell waren wir im Eingangsbereich der Seniorenresidenz, ließen den Fahrstuhl, den man nicht mal auf eigene Gefahr benutzen sollte, rechts liegen und gingen in den ebenerdigen C-Flügel.

Wir klopften an die Tür, die in Kopfhöhe mit dem Foto eines Herbststrauches und dem verzierten Namenszug 'Christine' den Eingang zum Privatbereich von Gernots Mutter anzeigte. Wir lauschten auf Antwort, aber das erwartete 'Ja, bitte' blieb aus. Vorsichtig öffnete Gernot die Tür. Niemand war im Zimmer. Christine musste es vor kurzem erst verlassen haben. Auf dem runden Tisch neben dem Sessel, den sie von zu Hause hierhin mitgenommen hatte, lag ein aufgeschlagenes Buch neben der Lesebrille und einem halb vollen Glas Wasser. Die Jugendstil-Wanduhr verkündete dezent den Lauf der Zeit im Sekundentakt. Diverse Fotos, eines davon in Farbe, zeigten drei aneinander geschmiegte Gestalten mit dem heiteren Gesicht von Gernots Freundin Jule, dem ausdruckslosen in der Mitte mit heraushängender Zunge, natürlich von mir, und dem lachenden von Gernot. Auf anderen Bildern war mein Leinenhalter in Kindertagen mit kurzer Lederhose zu sehen, außerdem seine früh verstorbene Schwester sowie Christine mit Ehemann Hans in teilweise verblichenem Schwarz-Weiß und silbern geränderter Fassung. Alle diese Fotografien hatten sich vor längerer Zeit auf der Kommode aus der Gründerzeit zum trauten Zusammensein versammelt. Gehäkelte Kissen zierten das kleine Sofa und ein großformatiges romantisches Landschaftsgemälde eines längst verstorbenen Künstlers blieb selbst einem flüchtigen Besucher nicht verborgen. Hier hatte sich die Erinnerung ihren Alterssitz geschaffen.

Ich konnte Christine noch ganz deutlich riechen. Für einen Hund war dies nun wirklich keine Leistung. Sogar mein Zweibeiner, der zu der Rasse der olfaktorischen Analphabeten gehört, die nur gehaltvolle Pupser mitbekommen, die von lauten schallschwingenden Tönen begleitet werden, hätte das in diesem Falle wahrscheinlich auch geschafft. Gerüche sind im Universum meiner Artgenossen von zentraler Bedeutung und haben eine Aussagekraft, die außerhalb der Reichweite der menschlichen Vorstellung liegt. Wenn ich sage, dass der Geruchssinn eines Hundes hunderttausendmal feiner als der eines Menschen ist, dann wird der Unterschied nur unzureichend beschrieben. Wenn ich aber darlege, dass ich mit meinen Artgenossen Krankheiten, Angst, Verzweiflung, Enttäuschung und Lügen riechen kann, dann wird klarer, was ich meine. Mein vierbeiniger Freund Einstein, von dem später noch zu berichten sein wird, kann zuweilen sogar Gedanken riechen. Aber zurück zu Christine. Ihr typischer Geruch war auch bei ihrer Abwesenheit ein ständiger Gast in ihrem Zimmer im Altenheim. Es musste irgendetwas Unangenehmes passiert sein, denn es roch auch nach Ärger und Aufregung. Davon bekam mein Leinenhalter natürlich nichts mit. Gernot sah unschlüssig durch das reich beblumte Fenster nach draußen, als wenn er dort irgendwo seine Mutter im immer noch anhaltenden Nieselregen entdecken könnte. Dann ging er wieder zur Tür zurück und trat in den gefeudelten Korridor, der nach Sparsamkeit und Lysol roch.

Seine Miene hellte sich für einen kurzen Moment auf, als er seine Mutter sah und ihre Stimme hörte, die im Näherkommen auf Anna, eine Pflegerin, einredete. Aber dann realisierten mein Leinenhalter und ich, dass Christines Stimme lauter klang als sonst und gewürzt war mit einer Prise Verärgerung.

»Ich habe schon zwei Mal alles durchsucht. Er ist einfach weg«, redete sie mit einer Träne im Auge auf Anna ein.

»Wir schauen gemeinsam noch mal nach«, antwortete Anna ruhig mit ihrem harten polnischen Akzent, um dann mit ihrer Gebissspange ein schüchternes Lächeln aufzusetzen und uns zu begrüßen.

»Hallo Herr Beger, hallo Chaka, großes Prinzesschen. Gehen wir bald mal spazieren?« Sie bückte sich, um mich hinter den Ohren zu kraulen.

»Ihre Mutter kann Ring nicht finden, aber er wird ja nicht weggelaufen sein«, sagte sie zu uns. Gernot herzte seine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Mutter, was machst du für Sachen. Warum ziehst du den Ring überhaupt aus?« Gernot versuchte, einen sanften Ton anzuschlagen, was ihm nur mäßig gelang. Er glaubte seit geraumer Zeit, bei seiner Mutter die ersten Anzeichen von Demenz festzustellen und ließ bei diesbezüglichen Äußerungen oftmals das nötige Taktgefühl vermissen. Ich für meinen Teil hielt Christine weder für dement noch für vergesslich. Immer wenn ich sie zusammen mit Gernot besuchte, dachte sie daran, mir einen Kauknochen zu geben. Ganz im Gegensatz zu Gernot, den ich allzu oft an meine Fütterungszeiten erinnern musste.

»Ich habe den Ring doch gar nicht ausgezogen«, antwortete Christine. »Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, es getan zu haben«, fügte sie kleinlaut hinzu. Mein Leinenhalter machte ein Gesicht, als wenn er denken würde: ‚Sage ich doch‘.

Der Ring blieb verschollen. Anna, Christine und Gernot hatten jeden Winkel des Zimmers durchsucht, in allen Schubladen sorgfältig nachgesehen, alle Schränke durchstöbert, sogar die Wäsche neu sortiert und den Papierkorb kontrolliert. Selbst ich hatte mich an der Suche beteiligt, obwohl Ringe keinen besonderen Eigengeruch besitzen. Gefunden wurden dafür Sachen, die wir gar nicht gesucht hatten. Einen Fünfzig DM-Schein aus dem vorigen Jahrhundert fand Gernot in einer Holzschatulle mit Intarsienarbeiten zwischen Postkarten, die nach der Art der Briefmarken noch älter als der Geldschein waren. Ich entdeckte eine graue Ratte, die eingeklemmt zwischen Couch und Eckwand die letzten Wochen in einer unbequemen Lage verbracht haben musste. Trotz dieser Umstände hatte sie sich gut gehalten. Ich freute mich, sie wiedergefunden zu haben und sie erneut in den Kreis meiner Stofftiere aufnehmen zu können. Aber das interessierte von den Zweibeinern offensichtlich niemanden.

Sie zeigten sich mit etwas anderem beschäftigt: mit Ratlosigkeit.

»Das war das wichtigste Andenken an Papa«, meinte Christine leise. »Er hat mir diesen Ring zur Verlobung geschenkt. Das war der teuerste Schmuck, den ich je besessen habe«, fügte sie hinzu.

»Vielleicht hast du den Ring in der Cafeteria oder beim Mittagessen verloren«, warf Gernot mit bemüht warmer Stimme ein. »Dann müsste er ja gefunden werden.« Gernot und ich konnten uns gut an das schlichte, zeitlose Schmuckstück erinnern. Ein goldener Ring mit einem funkelnden Diamanten besetzt, einem Einkaräter, den Christine stets mit Hingabe trug.

»Wir müssen auf jeden Fall bei der Heimleitung nachfragen und sie über den Verlust informieren«, meinte er abschließend.

»Wenigstens der Apfelkuchen schmeckt«, bemerkte Gernot mit vollem Munde, nachdem er in der Cafeteria für Christine und sich selbst ein großes Stück an der Kuchenausgabe geholt und zuvor die Heimleitung, Frau Dinkelkötter, in ihrem Büro aufgesucht hatte. Leider war kein Ring gefunden worden.

»Mutter«, sagte Gernot zu Christine und nahm ihre Hand, die er zärtlich streichelte. »Nun gib die Hoffnung mal nicht auf. Der findet sich bestimmt wieder und dann lachen wir beide über die ganze Sache.« Christine saß zusammengesunken in ihrem Stuhl und schüttelte unmerklich den Kopf.

»Gut, dass Papa das nicht mitbekommt.« Lustlos probierte sie den Kuchen und nippte gedankenverloren an ihrem Kaffee.

Am Nachbartisch saß der Heimbewohner Anselmus von Lukowitz, ein feingliedriger Typ mit dichtem Fell auf der Oberlippe, der selten Besuch bekam, alleine mit einer aktuellen Ausgabe der Westfälischen Nachrichten und trank seinen Kaffee. Bei Anselmus von Lukowitz‘ Namen denkt man an den Besitzer eines weitläufigen pommerschen Landgutes mit Privatbibliothek, in der sich Wolfshunde vor einem prasselnden Kaminfeuer ausstrecken. Tatsächlich wohnte er sein Leben lang in einer Dreizimmerwohnung in Münster und war in seinem Berufsleben Mitarbeiter der örtlichen AOK gewesen, und zwar einer der gewissenhaftesten überhaupt. Er besaß das rigide Temperament eines Briefmarkensammlers und die Ausdauer eines Taubenzüchters. Beide Hobbies pflegte er in seiner aktiven Zeit mit Leidenschaft. Die Briefmarken hatte er ins Heim mitgenommen, bei seinen Tauben war das nicht möglich.

Die Unterhaltung an unserem Tisch war ihm nicht entgangen. In seiner wenig dezenten Art empfahl er, nicht nur die Heimleitung, sondern auch die Polizei zu informieren. Den vielen Ausländern in dieser Anstalt, wie er das Seniorenheim nannte, wäre nicht zu trauen.

Zu weiteren Kommentaren kam Anselmus von Lukowitz nicht, da Frank, einer der für Christine zuständigen Stationspfleger, den Eingangsbereich des Heims betreten hatte und mit schnellen Schritten die gut besetzte Cafeteria betrat. Die große Gestalt des siebenundzwanzigjährigen Mannes überragte sogar die meines Leinenhalters und sein fotogenes Aussehen – er wäre der geeignete Kandidat für den Fernsehbachelor gewesen – ließ die Blicke der weiblichen Heimbewohner aufleuchten. Beim Näherkommen scherzte er kurz mit Waltraut und Marta, zwei Freundinnen von Christine, die ihre Bewunderung für Frank offen zur Schau trugen. Als er unsere kleine Gruppe sah, kam er lächelnd auf uns zu.

»Guten Tag Herr Beger, guten Tag Christine, geht es Ihnen nicht gut? Sie machen so einen bekümmerten Eindruck.«

»Ich habe meinen Ring verloren, er ist einfach weg«, seufzte Christine. Dabei hob sie ihre linke Hand und spreizte den leeren Ringfinger ab, an dem ein schmaler umlaufender Streifen ungebräunter Haut ihre Aussage bestätigte.

»Den Ring mit dem Diamanten haben sie verloren?« In Franks Gesicht mit seinen braunen Augen spiegelte sich Bestürzung und Mitleid. »Aber der kann doch nicht weg sein. Den sehe ich in meiner Erinnerung noch ganz deutlich an Ihrer Hand«, sagte er fassungslos. Es wurden noch ein paar mitfühlende Bemerkungen von Frank gemacht, bevor er sich von Gernot verabschiedete. Mich hatte der Schönling gar nicht beachtet. Dafür war meiner Nase etwas aufgefallen. Bei manchen Menschen kommt die Falschheit ja schon aus den Poren raus. Frank gehörte dazu. Er roch nach Lack, nach klarer Lackfarbe. Dabei hatte er bestimmt nicht gerade seine Wohnung renoviert. Dieser Geruch steht bei Menschen für Unaufrichtigkeit.

Als Gernot und ich das Altenheim verließen, blieb eine traurige Christine zurück, die sich nachhaltige Vorwürfe wegen ihrer Vergesslichkeit machte. Ihr Ring, dessen ideellen Wert Christine deutlich höher als den materiellen einschätzte, blieb erst einmal unauffindbar. Als er dann später doch wieder auftauchen sollte, würde ich mir unschlüssig sein, ob die Tatsache des Wiederfindens oder dessen Umstände für mich überraschender waren.

Mörderjagd in Mecklenbeck

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