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Zweites Kapitel
ОглавлениеEine andere Heimkehr.
An dem nämlichen Tage, Mittags um zwölf Uhr, stand beim alten Tischlermeister Handorf der Tisch in der großen Stube gedeckt. Es war ein Sonntag, die Frau und Tochter kamen eben aus der Kirche zurück, legten ihre Bücher und Tücher ab und setzten sich still und schweigend ans Fenster. Sie sahen beide bleich aus und hatten rotgeweinte Augen.
Der Vater, ein Greis mit silberweißen Haaren, ging mit langsamen, festen Schritten in der Stube auf und ab; er bot den beiden nicht einmal einen guten Tag, als sie das Zimmer betraten, und hörte auch wohl nicht ihren so leise geflüsterten Gruß. Er war in tiefen Gedanken, aber sie mussten peinlicher Art sein, denn er hielt die Lippen fest übereinander gepresst und das Auge stier und finster am Boden haftend, und doch dachte er auch noch an anderes, denn dann und wann flog sein Blick nach der alten Schwarzwälder Uhr hinüber, die in einem langen Gehäuse in der einen Ecke stand und einige Minuten noch vor zwölf Uhr zeigte.
Ein kleines Mädchen von vierzehn Jahren stand am Tisch und sah scheu nach den Eltern hinüber, ein dicker, pausbäckiger Junge von etwa sechs Jahren, der Enkel der alten Leute und der Sohn einer verstorbenen Tochter, spielte in der Ecke mit ein paar schon zerbrochenen hölzernen Soldaten, wahrscheinlich Überbleibseln vom letzten Weihnachtstisch, und der war es auch, der das Schweigen zuerst brach: „Essen wir noch nicht bald, Großmutter?"
„Ja, recht bald, Max, warte nur noch ein klein wenig, bist du so hungrig, so will ich dir indes ein Stück Brot geben."
„Ne, ich will kein Brot", brummte Max. „Heute ist Sonntag, heute essen wir Fleisch."
„Um wie viel Uhr kommt der Zug?" fragte der Vater plötzlich mit heiserer Stimme und blieb vor der Uhr stehen, zu der er aufsah. Es war, als ob er seine Frau nicht anschauen konnte.
„Um elf Uhr sechsundvierzig Minuten steht es im Plan", antwortete sie leise. „Er muss schon da sein, wenn er sich nicht verspätet hat." Und sie holte dabei aus tiefer, voller Brust Atem, als ob sie die Last nicht ertragen konnte, die darauf lag.
Der Mann erwiderte nichts, sondern setzte seinen unterbrochenen Gang im Zimmer wieder fort, herüber und hinüber, und: „Großmutter, essen wir noch nicht bald?" fragt Max mit weinerlicher Stimme wieder. „Ich halt’s jetzt nicht mehr aus."
„Gleich, mein Kind, gleich", erwiderte die Frau. „Dein Onkel kommt ja heute wieder zu uns zurück, willst du denn nicht warten, dass du mit ihm essen kannst?"
„Aber ich bin hungrig, warum kommt er denn nicht früher?"
Draußen ging die Haustür und fiel wieder ins Schloss. Der Mann blieb nicht weit von der Uhr, die Arme jetzt auf der Brust gekreuzt, im Zimmer stehen. Er war ganz fahl im Gesicht geworden und die Augen hefteten sich stier auf die Tür. Die Mutter hatte die Hände fest und krampfhaft zusammengefaltet, und auch ihr Auge hing mit peinlicher Spannung an der Türklinke, während Margarete, die Tochter, ein junges Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren, mit der rechten Hand angstvoll ihr Herz gefasst hielt und dabei nur nach dem Vater hinüberschaute.
Draußen durch das mit Steinplatten belegte Vorhaus kam ein schwerer, langsamer Schritt näher und näher – jetzt hielt er vor der Tür.
Die Mutter atmete schwer und rasch, aber keiner im Zimmer sprach ein Wort, wohl eine volle Minute lang, ja, wagte kaum ein Glied zu regen oder mit den Wimpern zu zucken.
Jetzt drückte sich die Klinke an der Stubentür langsam nieder, es klopfte niemand an. Die Tür öffnete sich Zoll nach Zoll, jetzt zeigte sich eine bleiche, in einen grobtuchenen, grauen Rock gekleidete Gestalt, die auf der Schwelle stand und den dunklen Blick aus den tiefliegenden Augenhöhlen über die Stube schweifen ließ.
Niemand da drinnen regte sich, kein Willkommen nach jahrelanger Trennung ward ihm entgegen gerufen. Die zusammengefalteten Hände der Mutter lösten sich allerdings und hoben sich langsam empor, aber sie richtete sich nicht auf, hätte es auch nicht vermocht, denn wie eine Zentnerlast von Blei lag es ihr auf den zitternden Gliedern.
Das kleine Mädchen hatte den rechten Zeigefinger zwischen die Lippen genommen und blickte scheu und halb abgewendet nach dem 'Fremden' hinüber, und Margarete saß regungslos auf ihrem Stuhl, während ihr die vollen Tränen langsam an ihren Wangen niedertropften.
Wie aus Stein gehauen aber stand der Vater, keine Muskel seines Körpers regten sich oder zuckte nur, nicht die Wimper seines stieren Auges, das er fest und eisern auf den Sohn geheftet hielt. Er sprach nicht, aber er erwartete auch keine Anrede. Er war da, das schien alles, was er in dem Augenblick fühlte, und für das, was ihm jetzt die Seele zermarterte, hatte er keine Worte. Ebenso schweigend stand der Sohn auf der Schwelle, was in dem Blick lag, den er jetzt über die Gruppe sandte und abwechselnd von einem zum anderen gleiten ließ, wer hätte es ergründen können? Scham? Scheu? Schmerz? Zerknirschung oder Trotz? – Aber lange hielt er das nicht aus; der Hut entfiel seiner Hand, und an den kleinen Geschwistern vorbei, die ihm scheu auswichen, eilte er auf die Mutter zu, sank neben ihrem Stuhl auf die Knie nieder, umschlang sie mit seinen Armen, und den Kopf an ihre Seite legend, hielt er sie, ohne ein einziges Wort zu sagen, krampfhaft umfasst.
„Mein Sohn, mein armes, verlorenes Kind", sagte die Mutter mit zitternder, kaum hörbarer Stimme, legte ihren rechten Arm über sein Haupt und weinte leise vor sich hin. Max, dem alles unheimlich wurde, und der den fremden Mann gar nicht kannte oder begriff, dass das sein Onkel sein sollte, drängte sich furchtsam zu der Margarete und hielt sie, die Augen immer auf den Knieenden geheftet, fest am Kleide gepackt.
„Aus dem Z u c h t h a u s !" sagte da endlich der alte Tischlermeister mit hohler, dumpfer Stimme. „Bist du endlich von deiner Wanderschaft zurück? Die hat lange gedauert und du musst viel in der Welt gesehen haben."
Der Sohn antwortete nicht, nur fester umschlang er die Mutter, deren Arm er auf sich ruhen fühlte. Es war, als ob er bei ihr Schutz suchen wollte gegen den Vater und dessen Vorwürfe.
Der Tischlermeister mochte es auch so verstehen; langsam, den Blick noch immer auf den Sohn geheftet, nickte er vor sich hin und sagte dann düster: „Ja, versteck' dich, Karl, versteck' dich, weiter bleibt dir auch von jetzt an nichts übrig. Versteck' dich vor der Welt, vor dir selber, nur vor deinem Gewissen bist du es nicht imstande. Oh, mein Gott, oh du allmächtiger Gott!" Und der alte, starke Mann konnte den Anblick nicht länger ertragen, er sank auf den nächsten Stuhl, schlug beide Hände vors Gesicht und konvulsivisch fast arbeitete seine Brust gegen das erdrückende Gefühl an, das ihn zu ersticken drohte.
Da richtete sich der Sohn langsam in die Höhe, sein Gesicht war mit Tränen überströmt und totenbleich; er strich sich langsam die Haare aus der Stirn, und sein glanzloser Blick suchte des Vaters ineinander gesunkene Gestalt. Endlich sagte er mit leiser, heiserer Stimme, indem sein Auge langsam im Kreise der Seinen umherglitt:
„Also haltet auch i h r mich alle für schuldig – für fähig, ein solches Verbrechen zu begehen?"
Keiner antwortete, der Mutter Blick hing angstvoll an seinen Zügen. Da schritt Margarete, seine Schwester, leise auf ihn zu, sie sah ihm fest ins Auge, und als sie dicht bei ihm stand, lehnte sie ihren Kopf an seine Brust und sagte schüchtern: „Ich habe es nie getan, Karl, ich war damals noch jung, wie mir aber in jener schweren Zeit die Kinder auf der Straße nachschrieen und mich verspotteten, mein Bruder hätte einen Menschen totgeschlagen und käme ins Zuchthaus, da habe ich still für mich geweint, aber geglaubt habe ich's doch nicht, auch wenn ich noch ein Kind war."
„Gretchen", sagte ihr Bruder, schlang seinen Arm um sie und drückte sie an sich. „Mein liebes, liebes Gretchen, und bist du's denn wirklich? Wie hoch aufgeschossen in der langen Zeit!" setzte er scheu hinzu.
Der Vater hob den Kopf, aber jetzt hielt sich die Mutter auch nicht länger.
„Nein!" rief sie. „Wo ich jetzt sein treues, ehrliches Gesicht wiedersehe, wo ich es selber aus seinem Munde höre, dass er unschuldig ist, jetzt, jetzt glaub ich's ihm, mag die Welt über ihn urteilen, wie sie will, die eigene Mutter kann ihn nicht verdammen!"
Und von ihrem Sitz emporfahrend, warf sie sich an die Brust des Sohnes und umschlang ihn mit ihren Armen.
„Meine gute, gute Mutter!"
„Es war eine furchtbare Zeit", flüsterte die Frau, ohne aber ihre Stellung zu verändern oder den Kopf zu heben. „Als wir die erste Kunde hörten und hier von der Polizei ein Leumundszeugnis über dich verlangt wurde. Damals hielt dich hier freilich kein Mensch für schuldig, selbst nicht die Polizei, aber dann, als Berichte über Berichte kamen, das Verhör von den Geschworenen mit all den Zeugenaussagen gegen dich hier sogar in den Zeitungen gedruckt wurde, so dass es alle Menschen lesen konnten, oh, mein allmächtiger Gott! Was habe ich da gelitten, was ausgestanden, und nicht einmal aus dem Fenster wagte ich zu sehen, aus Furcht, dass ich dem Auge eines anderen Menschen begegnen könnte. Und dann kam das Urteil – sechs Jahre Zuchthaus..." Sie konnte nicht weiter, sondern drückte nur ihr Antlitz fest, fest an des Sohnes Brust, als ob sie dort das ganze ausgestandene Elend bergen wolle.
„Und doch unschuldig, Mutter!" sagte Karl ruhig und resigniert.
„Und wagt du das n o c h zu behaupten?" fuhr da der Vater empor, und es war fast, als ob er mit den rauen Worten selbst in ihm aufsteigende Zweifel bekämpfen und niederdrücken wolle. „Wagst du das zu behaupten, Junge, wo nicht die Richter hinter verschlossenen Türen, sondern Männer unseres Standes, Bürger und Handwerker, brave, unbescholtene Leute, die kein Interesse für oder gegen dich haben konnten, wo die Geschworenen dich selbst nach allen Zeugenaussagen und Beweisen für schuldig der furchtbaren Tat befunden haben?"
„Ja, Vater", sagte Karl und sah dem Vater ruhig und fest ins Auge. „So wahr da droben Gottes Himmel über uns ist, so wahr ich hoffe, dass er dich und die Mutter noch lange Jahre gesund erhält, so wahr sage ich dir, ich bin an der schrecklichen Tat, für die ich büßen musste, so unschuldig wie du oder Margaret."
„Oh, mein Sohn, mein Sohn!" klagte die Mutter.
Der alte Tischler schaute ihn betroffen an. Das klang allerdings nicht wie das freche Leugnen eines Schuldigen, und es war sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut. Aber ließ es sich denken, dass alle jene furchtbaren Beweise, die, jeden Menschen überzeugend, aufgebracht worden, nur eben so viele Lügen und Täuschungen gewesen wären? Ließ es sich denken, dass die Gerichte einen Menschen für sechs Jahre in das Zuchthaus sperren und damit für ewig ehrlos machen würden, wenn auch nur der Schatten einer Möglichkeit vorgelegen hätte, dass er unschuldig sein könnte? Nein, wieder schüttelte er finster mit dem Kopfe und sah brütend vor sich nieder – es war nicht möglich.
„Ich habe", sagte da der Sohn leise und schmerzlich, „bis jetzt recht hart über die Richter gedacht, dass sie meinen heißen Beteuerungen nicht glauben wollten und mich wie einen gemeinen Verbrecher verdammen, ich kann es jetzt nicht mehr, wo selbst der eigene Vater seinen Blick von mir abwendet; das ist hart, recht hart."
Der Mann kämpfte noch eine Weile mit sich, endlich sagte er, aber mit leidenschaftlich bewegter Stimme: „Gott ist mein Zeuge, wie ich gekämpft und gerungen habe gegen alle Beweise, wie ich nicht glauben konnte und wollte, dass mein eigener Sohn, den ich, wie ich fest glaubte, zu einem braven und rechtlichen Menschen erzogen, ein gemeiner Verbrecher, ein Mörder habe werden können; aber die Geschworenen, brave, unbescholtene Männer aus dem Volke, haben sich selber davon überzeugt und ihr Urteil gesprochen, und nur dein jugendliches Alter, wie es in der Zeitung stand, und dein früherer unbescholtener Wandel hat die Richter dahin vermocht, dich nicht die ganze Strenge der Gesetze fühlen zu lassen. Du bist damals zu sechs Jahren Zuchthaus nicht b e s t r a f t, sondern b e g n a d i g t worden, und du wärst unschuldig?"
„Und trotzdem, Vater, bin ich unschuldig verurteilt worden!" sagte Karl mit voller Ruhe, während sich die Mutter jetzt wieder aufgerichtet hatte und ihn mit peinlicher Spannung anschaute. „Weißt du, was ich zu meiner Verteidigung gesagt habe?"
„Hundert und hundert Mal habe ich's durch und wieder und wieder gelesen", rief der Vater rasch und heftig. „Aber hast du die Geschworenen damit überzeugen können? Hat dir auch nur einer die Gründe gelten lassen?"
„Doch, Vater", sagte Karl. „Drei von ihnen räumten wenigstens die Möglichkeit ein...."
„Erklärten aber selber, dass es unwahrscheinlich sei. Die Uhr wolltest du von dem Juden gekauft, deinen eigenen Stock aber, womit das Verbrechen verübt worden, an einen Fremden, der nie aufgefunden werden konnte, und den kein Reisender an der ganzen Straße weiter gesehen hat, verkauft haben."
„Ja, Vater."
„Und in dem Hause, wo der Jude zurückblieb, hatte er noch seine Uhr und bot sie den Leuten selbst zum Handel an."
„Ich weiß es", sagte Karl. „Die Zeugen haben es ausgesagt, aber haben diese Leute nicht oft mehr Uhren bei sich, um Handel damit zu treiben?"
„Und das Geld, das du bei dir hattest?"
„Es war ehrlich verdient, Vater, und nicht der fünfzigste Teil von dem, was der Jude bei sich gehabt haben sollte."
„Man behauptet, du hättest es im Walde versteckt."
„Und würde ich dann die Uhr behalten haben?"
„Das war das einzige, was dein Verteidiger für dich geltend machte. Oh, wie oft und wieder und wieder habe ich dessen Worte gerade gelesen, bis ich sie auswendig kannte und selbst im Traum hersagte, aber es war kein Beweis. In der Aufregung nach einer solchen Tat konntest du so wenig an die Uhr gedacht haben wie an den Stock, den du bei der Leiche liegen ließest."
„Ich! Vater?" sagte Karl mit einem unbeschreiblich wehen Ton.
„Der Mörder", flüsterte der Vater scheu.
„So sag uns jetzt, Karl", bat da die Mutter mit tränender Stimme, „so wahr und ehrlich, als ob du unter dem furchtbarsten Eide vor deinem einstigen Richter stündest, wie es war. Nimm uns die Angst und den Schmerz von der Seele, und der Vater wird dann auch deinen Worten glauben."
Karl atmete hoch auf, aber seine Kräfte ermatteten, er sah sich nach einem Stuhl um, auf den er mehr sank als dass er dort Ruhe suchte, und sagte endlich nach kurzer Pause:
„Ich habe alles schon vor Gericht ebenso treu und wahr geschildert, Mutter, aber ihr sollt es noch einmal hören, steht es doch auch noch so scharf und lebendig vor mir, als ob erst gestern all' das Furchtbare geschehen wäre, und doch sind sieben lange Jahre darüber hingegangen. Du erinnerst dich Vater, aus dem Verhör, dass ich mit dem Juden in einer ziemlich schlechten Dorfschenke übernachtete, dort in Schlesien gibt es noch weite, öde Strecken, und der Verkehr ist, besonders bei schlechtem Wetter, kein großer auf den Straßen. Dass der Unglückliche viel Geld bei sich hatte, konnte ich natürlich nicht wissen, und was hätte ich mich auch darum gekümmert? Wir zehrten den Abend zusammen, es war ein komischer Kauz, der den Kopf voller Schnurren hatte, und da ich auch aus meinem Handwerksleben erzählte, blieben wir bei ein paar Gläsern Bier bis spät in die Nacht hinein munter.
Am nächsten Morgen wollte ich früh aufbrechen, ich war auf dem Heimweg", setzte er mit bewegter Stimme hinzu, „und hoffte, euch bald, recht bald wieder begrüßen zu können, deshalb eilte ich so. Mir lag nur daran, schnell die nächste Eisenbahn zu erreichen.
Der Jude, der sich Moses nannte, erklärte aber, wenn er auch nicht gerade in so großer Eile selber sei, wolle er mich doch noch ein Stück bis zum nächsten Dorf begleiten, wo er wieder Geschäfte habe, und durch den Wald, der vor uns lag, ginge es sich besser in Gesellschaft. Er musste dort in der Gegend bekannt sein. Nach zwei Stunden scharfen Marschierens erreichten wir das Dorf, gingen aber ziemlich hindurch bis zum letzten großen Hause, wo Moses vor der Hand bleiben wollte. Unterwegs hatte er mir aber noch richtig seine Uhr aufgeschwatzt. Ich hatte außerdem keine, und der Preis, den er dafür forderte, war billig genug. Bei Kasse war ich außerdem, denn ich hatte fleißig gearbeitet und knapp gelebt, und wir wurden endlich handelseinig. Ich konnte nicht ahnen, wie gefährlich der Kauf für mich werden sollte.
Ich wanderte jetzt allein weiter. Es ging sich nicht besonders auf dem schlechten Weg, und ich überlegte mir schon, wie ich in dem nächsten größeren Dorfe Mittag machen und eine Stunde ausruhen wollte. Ich musste hier wieder durch eine Strecke Wald, der teils aus Birken, Kiefern und Erlen bestand, nur vereinzelt standen ein paar Eichen dazwischen. Leute hatte ich bis jetzt sehr wenige auf der Straße getroffen – ein paar Juden mit einem Karren und zwei kleinen, mageren Pferden war mir begegnet, und ein Reiter hatte mich überholt, war aber scharf vorbeigeritten. Ich musste auch zu viel auf den Weg achten, um einzelnen Schlammlöchern auszuweichen, als dass ich richtig auf ihn geachtet hätte. Jetzt begegnete mir ein anderer Fußgänger, der aber plötzlich wie aus dem Wald herauskam, was mir jedoch auch nicht auffiel, denn ich war schon selbst ein paar Mal über den Graben und in die Büsche hineingesprungen, um dort vielleicht etwas trocknere oder doch härtere Bahn zu finden. Er mochte in meinem Alter sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, und ging fast wie ein Städter gekleidet. Der Weg schien ihm aber gar nicht zu passen, kurz vorher, ehe ich an ihn herankam, war er in einem Schlammloch stecken geblieben, und als ich ihm Guten Tag bot, rief er:
„Ach, Kamerad, ihr könntet mir einen großen Gefallen tun! Ihr habt da einen prächtigen Stock, verkauft mir den, ich komme in dem verdammten Weg ohne Stock fast gar nicht von der Stelle!“
Der Stock war ein richtiger, aber sehr hübsch gewundener Knotenstock, den ich mir im letzten Städtchen selbst erst gekauft und dafür einen Taler und zehn Groschen bezahlt hatte. Er war nur eigentlich etwas zu schwer zum Marschieren, mit einer dicken, eisernen Zwinge unten dran. Ich meinte auch, ich würde den Stock wohl selbst nötig haben, um fortzukommen, er aber bot mir einen so hohen Preis – etwa die Hälfte von dem, was ich dem alten Juden für die Uhr gegeben – dass ich mich endlich überreden ließ. Ich dachte mir: Im nächsten Dorf kannst du immer einen Stock kriegen, und wenn du einen aus der Hecke ziehen musst. Damit schieden wir, ich ging meinen Weg voraus und er zurück, und da die Straße dort viele Biegungen machte, verloren wir einander bald aus den Augen.
Gegen Mittag erreichte ich endlich ein kleines Nest. Wie es heißt, habe ich vergessen, es waren nur ein paar einzeln stehende Häuser mit einem Wirthaus dazwischen, aß dort etwas und ruhte mich dann wohl eine volle Stunde aus.“
„Auch das hat dein Verteidiger zu deinen Gunsten vorgebracht“, sagte der Vater.
„Ich weiß es,“ erwiderte der Sohn leise. „Aber der Staatsanwalt behauptete, dass jemand, der eine solche Tat vollbrachte, wohl die Kräfte verlassen konnten, so dass er gezwungen wäre, auszuruhen. Nach Tisch nun ging ich weiter, aber der Weg wurde so schlecht, dass ich nur langsam vorrücken konnte, bis mir ein paar Holzschläger, die ich an der Straße traf, den Rat gaben, ich sollte den nächsten Fußweg, den ich träfe, rechts durchs Holz nehmen, wenn ich an eine kleine, hölzerne Brücke mit einem Pfahl daran käme. Von da hätte ich besseren Weg und käme früher zum nächsten Ort, als wenn ich die breite Straße hielte. Den Weg fand ich denn auch und folgte ihm, aber er lief aus, ich muss ihn in dem nassen Grund vielleicht auch verfehlt haben, kurz, ich kam in einen anderen Pfad, hielt aber immer die Richtung, die ich als richtig empfand, bis ich aus dem Holz herauskam, ein anderes Dorf vor mir sah und darauf zueilte.“
„Ich weiß“, sagte der Vater. „Du hattest angegeben, dass du dich verirrt hättest...“
„Und das hatte ich auch, Vater“, sagte Karl. „Ich war ein tüchtiges Stück aus meinem Weg gekommen, wusste aber auch, dass ich dort bei den Häusern wieder eine Straße finden würde, und arbeitete mich darauf zu. Als ich das Dorf aber nur betrat – und es war schon fast dunkel geworden – kam mir ein berittener Gendarm entgegen und hielt mich an, ich musste ihm folgen, und – das weitere wisst ihr“, setzte er scheu hinzu. „Ich wurde eines Raubmordes angeklagt, ein volles Jahr in Untersuchung gehalten, und was ich dabei ausgestanden habe, könnte ich euch nicht mit Worten sagen. Dann kam das Gericht, ich wurde trotz allem, was ich zu meiner Verteidigung vorbringen konnte, verurteilt, und jetzt bin ich, nachdem ich meine Strafe abgesessen, in die Welt wieder ausgestoßen – elend, gebrandmarkt, ein Zuchthäusler....“
Er schwieg und barg das Antlitz in den Händen, und kein Ton im Zimmer wurde laut, selbst die Kinder wagten kaum zu atmen. D a s sollte der Bruder und Onkel sein, von dem ihnen die Margaret schon erzählt, der bleiche Mann mit den eingefallenen Wangen und hohlen Augen? ...
„Und wer, glaubst du, hat den Mord verübt?“ sagte der Vater endlich. „Wenn du – wenn du wirklich unschuldig so Furchtbares erduldet hast.“
Der Sohn schaute wild empor. „Jener Mann“, rief er mit heiserer Stimme, „der mir den Stock abgekauft! Es ist nicht anders möglich, denn mein Stock, mit Blut bespritzt, lag neben dem zerschmetterten Schädel des armen Juden, und kein anderer kann den Schlag geführt haben als der Fremde."
„Und man hat ihn nie aufgefunden?“
„Nein“, sagte Karl tonlos. „Sie glaubten mir ja die ganze Sache nicht und haben vielleicht kaum nach ihm gesucht. Wo er aber hergekommen, wohin er gegangen ist – wie kann ich es wissen! Manchmal war es mir freilich, als ob es derselbe sein müsste, der vorher zu Pferde an mir vorbeigesprengt, aber ich hatte ihn nicht deutlich genug gesehen, um das beschwören zu können.“
„Und wie sah er aus?“
„Ich weiß es nicht“, hauchte der Unglückliche. „Ich wurde schon damals vom Gericht aufgefordert, eine genaue Beschreibung seiner Person zu geben, aber ich war nicht imstande. Ich weiß, ich bin fest überzeugt, dass ich sein Gesicht in dem Moment wiedererkennen würde, wo er vor mich träte, so deutlich stehen seine Züge vor meiner Seele; aber ich kann mich nicht besinnen, was er für Haar, was er für Augen gehabt, wie er gekleidet war. Ich habe mir nie die Menschen im Einzelnen betrachtet und das behalten können.“
„Aber wenn du ihn wiedererkennen wolltest, müsstest du doch auch sagen können, wie er ausgesehen hat“, sagte finster der Alte.
„Nein, Vater, ich weiß nur, er war städtisch gekleidet, besser als ich; ich wunderte mich damals, dass er mit dünnen Stiefeln in die schmutzige Straße kam und doch nicht so aussah, als ob er schon einen langen Weg darin gemacht hätte – aber Fremde achten ja doch nicht so aufeinander. Wir gingen außerdem verschiedene Wege, er nach Osten, ich nach Westen, was konnte er also für mich anderes sein als ein Mann, dem man einmal im Leben und vielleicht nie wieder begegnet!“
Der Alte nickte langsam vor sich hin, es klang alles möglich, was ihm sein Sohn sagte. Außer der Uhr hatte man auch nur eine geringe Summe Geldes bei ihm gefunden, und der Stock war eigentlich der Hauptbeweis gegen ihn gewesen, da man den in dem Wirtshaus, in dem die beiden übernachtet hatten, genau kannte. Und was jetzt? Wenn er selbst jenem Fremden im Leben wieder begegnet wäre und ihn erkannt hätte, wie konnte er nach den langen Jahren auf ihn schwören? Und selbst das angenommen, wie hätte er ihm je beweisen wollen, dass er die Tat verübt? Er wusste ja selbst nicht einmal, ob er es getan!
Die Kinder hatten der ganzen Erzählung, dem ganzen Gespräch mit scheuen Mienen zugehört; sie verstanden den Sinn nicht, aber sie fühlten trotzdem heraus, dass etwas Schweres und Furchtbares verhandelt würde, das man nicht stören durfte. Jetzt erst, da das Gespräch ins Stocken kam, erinnerte sich Max an seinen Magen, denn das Essen war heute auf unverantwortliche Weise hinausgezögert worden. Wer von allen, die Kinder vielleicht ausgenommen, dachte auch daran!
„Essen wir denn noch bald, Grete?“ knurrte er und zupfte dabei die Tante an der Schürze.
„Das Kind hat Recht“, sagte der Vater, welcher die Worte gehört hatte. „Lass das Essen hereinbringen, die Leute dürfen nicht so lange warten.“
Das junge Mädchen verließ das Zimmer, um den Auftrag zu besorgen, und Karls Blick haftete jetzt zum erstenmal auf den Kindern.
„Und das ist die Bärbel?“ sagte er, als er mit tränenden Augen das kleine Mädchen betrachtete. „Du großer Gott, sie wurde noch auf dem Arm herumgetragen, und den kleinen Burschen kenn‘ ich nicht einmal!“
„Es ist deiner toten Schwester Lisbeth Kind, der Max. Wir haben ihn erst vor zwei Jahren zu uns genommen.“
„Komm her zu mir Max – willst du nicht deinem Onkel die Hand geben?“
„Nein!“ schrie der Knabe. „Ich fürchte mich vor dir!“ Dabei barg er sein dickes, rotes Gesicht in der Schürze der Großmutter.
„Und Bärbel kennt mich auch nicht mehr?“
Das kleine Mädchen wich ebenfalls scheu vor ihm zurück und hielt die Hände hinter sich, dass er keine davon ergreifen konnte.
Karl seufzte aus voller Brust, und still vor sich niedersehend, sagte er leise und kaum hörbar: „Oh, das tut weh, recht weh!“
„Bärbel, geh hin zu ihm“, bat die Mutter.
„Nein, ich mag nicht!“ rief das Kind verdrossen.
„Aber warum nicht, Herz?“
„Die Gesellen sagte heute morgen, er wäre im Zuchthaus gewesen.“
„Bärbel, um Gotteswillen!“
Gretchen kam wieder herein, sie trug die Suppe auf, sah aber totenbleich aus.
„Kommen die Leute?“ fragte der Vater eintönig.
„Nein, Vater, ich – ich soll ihnen ihr Essen in die Werkstatt geben.“
„In die Werkstatt?“ rief der Meister auffahrend. „Weshalb?“
Karl war sich auf den Stuhl am Tische nieder und stützte sein Gesicht in beide Hände.
Der Tischlermeister nahm seine Unterlippe zwischen die Zähne – er hatte jedenfalls ein hartes Wort auf der Zunge, aber er bezwang sich. „Gut“, sagte er nach einer kleinen Pause, die er aber brauchte, um die Worte herauszubringen. „Gut, trage ihnen das Essen heute hinaus, und morgen...“
Er stand neben dem Sohn, der noch immer regungslos in seiner Stellung verharrte, nur das konvulsivische Zittern seines Körpers verriet, dass Leben ihn ihm war.
„Karl!“ sagte er plötzlich mit nicht so lauter Stimme. Der junge Mann rührte sich nicht. „Karl!“
Karl hob scheu den Kopf zu ihm empor – da breitete der alte Mann die Arme nach ihm aus.
„Vater!“ schrie Karl und sprang in die Höhe.
„Junge, Kind!“ rief der Alte noch einmal, und fest, fest umklammerten sich die beiden Männer und hielten sich so umschlungen.