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Drittes Kapitel

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Bei Oberstleutnants.

Nicht sehr weit vom alten städtischen Markte, am sogenannten Brink, einer etwas gebogenen Straße des überhaupt altertümlichen Ortes, stand die Hofapotheke, ein zweistöckiges, nicht unansehnliches Gebäude, dessen Parterrelokal der Besitzer selber, Hofapotheker Semmlein, bewohnte, während er die oberen Etagen an verschiedene Parteien ausgemietet hatte – gehörte ihm doch auch das Nachbarhaus, wo er sich mit seinem Laboratorium und Drogenlager ausbreiten konnte. Rhodenburg war allerdings, wie schon erwähnt, keine wirkliche Residenz, in welcher der Hof seinen bleibenden Aufenthalt nahm, aber das verhinderte keineswegs, dass man die Titel: Hoftapezierer, Hoffleischer, Hofschlosser usw. über einer großen Anzahl von Werkstätten sah, während Ausschnitthandlungen, Weingeschäfte, Krämer und Gott weiß wer sonst noch auf ihren Schildern und unter dem oft in Holz geschnitzten und bunt bemalten Landeswappen die wohlklingende, wenn auch sonst nichts bedeutende Aufschrift trugen: „Hoflieferanten“.

In der ersten Etage der Hofapotheke wohnte der Oberstleutnant von Klingenbruch mit seiner Familie, seiner Frau und zwei erwachsenen Töchtern, Henriette und Flora. Henriette mochte neunzehn, ihre jüngere Schwester siebzehn Jahre zählen, und beides waren ein paar wirklich hübsche Mädchen: Henriette mit prachtvoll dunklem, kastanienbraunen Haar und blauen Augen, was ihr einen ganz eigenen Reiz verlieh, Flora mit einem allerliebsten, fast noch dunkleren Lockenköpfchen und dunklen Augen. Beide junge Damen schauten denn auch mit voller, ungetrübter Lebenslust in die Zukunft hinein, denn bis jetzt sahen sie nur Rosen auf ihrem Pfad und hatten ja noch auf keinen einzigen Dorn getreten – es ging sich da gar so hübsch!

Ihre Eltern besaßen allerdings nur ein sehr geringes, kaum nennenswertes Vermögen und lebten außerdem von der auch nicht besonders hohen Gage des Vaters – wahrlich keine Kleinigkeit mit zwei erwachsenen Töchtern, wo deren Anstand außerdem, bei fast unnatürlich gestiegenen Bedürfnissen, noch gewahrt werden musste. Aber einen Zuschuss fanden sie glücklicherweise bei einer leider bürgerlichen Tante, die noch dazu einen vollkommen unaristokratischen Namen trug – einer verwitweten Mäusebrod. Diese half wenigstens den jungen Damen mit einem kleinen Taschengeld aus, hatte es aber schon außerdem offen ausgesprochen, dass Henriette wie Flora, wenn Gott sie einst zu sich nähme, ihre Universal-Erbinnen werden sollten. War sie doch die Schwester des alten Oberstleutnants, die aber als armes, adliges Fräulein einen schon ziemlich bejahrten, aber reichen Kaufmann geheiratet und ihn nach sehr kurzer Ehe durch den Tod wieder verloren hatte.

Henriette und Flora behaupteten in der Wohnstube, jede mit ihrem Nähtisch, die beiden Fenster und arbeiteten augenblicklich, wenigstens der Form nach, an einer für die Tante bestimmten Stickerei, da deren Geburtstag in die nächste Zeit fiel. Ihre Blicke glitten aber doch viel häufiger, als sich das mit der Arbeit eigentlich vertrug, nach der Straße hinüber, und die Aussicht dorthin war in der Tat fesselnd genug.

Gerade ihnen gegenüber, nur ein ganz klein wenig zur Rechten, stand ein eigentümlich gebautes Erkerhaus vollkommen frei auf der anderen Seite der Straße, aber doch in der richtigen Front, aus der es nur im oberen Stock um etwa zwei Fuß vorsah und dadurch ein Erker- oder ziemlich breites Eckfenster bildete.

Unten darin, mit einem ähnlichen Eckfenster, einem Lieblingssitz der Gäste, lag eines der bedeutendsten Cafés der Stadt, das besonders von den Offizieren frequentiert und von diesen auch zuletzt einfach im „Eckfenster“, wo man sich gewöhnlich traf, genannt wurde. Danach bekam dann natürlich das ganze Haus mit der Zeit den Namen.

Das ‚Eckfenster‘ hatte nun allerdings die volle Aussicht nach allen benachbarten Häusern hin, da aber die Seitenwände des Hauses schräg lagen, so gewann man von gegenüber dadurch nichts, denn die Scheiben blitzten zu sehr. Nur die eigentliche schmale Front, das wirkliche Eckfenster, lag den Blicken der Nachbarschaft offen und bot besonders durch das von bunten Uniformen belebte Café den interessantesten Anblick.

Über dem Café in der ersten Etage des Eckhauses wohnte ein alter Notar, Püster mit Namen, der, hier in Rhodenburg geboren, den größten Teil seines Lebens in fremden Ländern zugebracht. Erst seit einer Reise von Jahren war er zurückgekehrt, und die Zeit war vollkommen genügend gewesen, ihm einen Namen in seinem Fach nicht allein in Rhodenburg, sondern auch selbst in größeren Städten zu machen. Er galt als einer der geschicktesten Juristen Deutschlands. Übrigens war er ein eigentümlich verschlossener Mann, der nicht gern mit der Außenwelt in Form großer Gesellschaften oder geselliger Vereine verkehrte, und sein Eckfenster war ebenfalls durch eine große, wohl sehr dünne, aber doch nicht von außen durchsichtige Gardine verzogen, so dass man ihn eigentlich nur dann zu sehen bekam, wenn er selber es für gut hielt, den Kopf herauszustrecken.

Die beiden jungen Fräulein von Klingenbruch hatten ihre Plätze an den beiden verschiedenen Nähtischen inne, während die Mutter unfern davon in einem Fauteuil lehnte und einen Roman las.

„Da ist er wieder“, sagte Flora, die über ihre Stickerei hin einen Blick nach dem Eckhaus geworfen hatte. „Er geht heute nicht von dem Fenster weg, ich sage dir, Jettchen, mir wird der Mensch ordentlich unheimlich, und ich mag den Kopf gar nicht mehr dorthin wenden.“

„Ach, du bist ein Kind!“ sagte Jettchen, die aber ebenfalls hinübersah. „Was geht uns der alte, unangenehme Mann an! Du musst nur gar nicht tun, als ob du ihn siehst, dann bekommt er es von selbst satt.“

„Von selbst satt?“ wiederholte Flora. „Wie eine Spinne in ihrem Nest, so hockt er den ganzen Tag da drüben in seinem Zimmer, dass man gar nicht wissen kann, was er vorhat, und nur manchmal schiebt er die Gardinen ein wenig zurück, so dass eben die unheimlichen Augen dahinter hervorfunkeln, und spioniert dann im Nu die ganze Nachbarschaft ab.“

„Wenn es mich genierte, ließ ich meine Rollos nieder“, sagte Jettchen.

„Aber dann kann man selbst nichts sehen“, rief Flora. „Und manchmal...“ Sie schwieg plötzlich, und als Henriette den Blick zu ihr hinüberwarf, sah sie, dass Flora tief errötete und sich leise nach der Straße zu verbeugte. Unten aber, gerade jetzt am Café vorüber, schritt ein junger, bildhübscher Mann in einem kurzen, schwarzen Samtrock, mit langem, lockigen Haar und einem breiträndigen, schwarzen Filzhut auf – jedenfalls ein Künstler und wahrscheinlich ein Maler – vorüber und grüßte achtungsvoll hinauf.

Auch Henriette dankte, denn man konnte nicht genau unterscheiden, welcher der beiden Damen der Gruß galt – wahrscheinlich allen beiden. Die Mädchen äußerten übrigens kein Wort über den jungen Herrn da unten, vielleicht genierte sie die Mutter, als diese jetzt plötzlich ruhig sagte:

„Das ist in der Tat ein höchst unangenehmer Mensch und mir auch schon lästig gefallen – aber was will man machen!“

Die Blicke der beiden Schwestern begegneten sich, ihre Gedanken waren in diesem Moment unstreitig bei etwas anderem gewesen. Sie hatten sicher vergessen, über was sie noch kurz vorher gesprochen. Nur ein leises, halbverstohlenes Lächeln zuckte über ihre hübschen Gesichter, und Henriette sagte endlich:

„Von wem sprichst du, Mutter?“

„Von wem ich spreche?“ wiederholte diese erstaunt, indem sie ihr Buch sinken ließ. „Nun, sprecht ihr denn nicht von dem Alten da drüben, der fortwährend hinter der zusammengerafften Gardine nach der ganzen Nachbarschaft ausspäht?“

„Ach ja – gewiss!“ rief Flora und war über und über rot geworden. „Es ist ein Advokat, nicht wahr?“

„Gewiss, und unser Doktor Potter meinte neulich sogar, dass es ein sehr geschickter Jurist, aber auch ein absonderlicher Kauz wäre. Im Hause bei sich hat er wenigstens nur die alte Köchin und den kleinen, buckligen Menschen, der immer mit den großen blauen Heften unter dem langen Arm herumläuft. Wen grüßt du denn da, Jettchen?“

„Oh, erwiderte die Tochter und wandte den Kopf dem Fenster zu, „es war nur der Leutnant von Wöhfen, mit dem ich auf dem letzten Offiziersball ein paar Mal getanzt habe! Er ritt gerade vorüber...“

„Ein hübscher Mensch“, sagte die Mutter. „Aber blutarm.“

„Nun, mit der Schönheit geht es ebenfalls“, lachte Henriette, aber doch etwas erzwungen. „Er ist aber sehr lebendig und erzählt gern....“

„Und so fade!“ bemerkte Flora.

„Nun, es gibt fadere Menschen“, entgegnete die Schwester, aber doch wohl von der Bemerkung ein wenig unangenehm berührt. Das Gespräch schien ihr überhaupt nicht recht zu passen, und sie gab ihm rasch eine andere Wendung. „Da drüben fängt die Sängerin wieder an. Was die für eine merkwürdig starke Stimme hat!“

„Ja, sagte Flora, „sie schreit, dass man es auf dem Markt hören kann, und dabei reißt sie auch noch die Fenster auf!“

„Du lieber Gott“, meinte die Frau Oberstleutnant achselzuckend, „den Damen vom Theater liegt es ja eben daran, dass sie gehört werden!“

„Aber die Nachbarschaft brauchte sich das nicht gefallen zu lassen“, bemerkte das jüngere gnädige Fräulein.

„Aber sie singt wunderhübsch“, sagte Henriette.

„Ich kann die freche Person nicht leiden“, warf Flora ein. „Es ist auch immer rücksichtslos, sich so hören zu lassen.“

„Sag‘ einmal, Mama,“ unterbrach sie hier Henriette. „Wer wohnt uns denn schräg gegenüber in dem Eckhause an der anderen Seite des Gässchens, nach rechts zu? Es ist ein wenig zu weit, um es von hier aus genau zu erkennen, aber ich sehe da immer morgens eine wunderliche Gestalt in einem grellroten Schlafrock und mit einem voll-ständig von Papilloten bedeckten Kopf – es muss aber schon ein ältlicher Herr sein.“

Die Mutter hatte schon ihr Buch wieder aufgenommen und ihre Lektüre fortgesetzt. „Das ist, glaub‘ ich, der hiesige Theaterdirektor“, sagte sie. „Es muss ein wunderlicher Kauz sein, der Doktor erzählte neulich von ihm...“

„Und unter der Sängerin, links vom Café?“

„Das weiß ich nicht, Kind“, sagte die Frau Oberstleutnant. „Erstlich wohnen wir hier ja noch gar nicht so lange, und dann – was gehen uns auch die fremden Menschen an! In einer größeren Stadt bekümmert man sich nicht einmal um die Leute, die mit uns unter einem Dach wohnen, viel weniger um solche über der Straße drüben. Aber was ich gleich sagen wollte – ihr habt eure Tante die ganze Woche noch nicht besucht, und ihr wisst, wie sehr der Vater darauf hält.“

„Aber, Mama, was sollen wir dort?“ rief Henriette und zog das kleine Mündchen trotzig zusammen. „Es ist eine so wunderliche alte Frau, und wir sitzen da immer wie auf der Anklagebank, nur ihre Strafreden und Bemerkungen anzuhören! Über jede Schleife, jedes Band, das wir tragen, hat sie etwas zu erinnern, es ist ihr alles zu auffallend, zu herausfordernd, wie sie sich auszudrücken beliebt, und wir können doch wahrhaftig nicht wie die barmherzigen Schwestern herumlaufen!“

„Liebes Kind!“ sagte die Mutter langsam und mit Betonung jedes einzelnen Wortes. „Das verstehst du nicht, es schickt sich aber. Deines Vaters Schwester hat allerdings ihre Eigenheiten...“

„Du kommst ihr auch nicht zu nahe, Mama“, warf Flora ein.

„Weil ich – weil wir beide eigentlich nicht so recht zusammen passen“, erwiderte in einiger Verlegenheit die Mutter.

„Aber genau dasselbe ist ja auch mit uns der Fall!“

„Ihr habt aber trotzdem große Verpflichtungen gegen sie“, fuhr die Mutter fort. „Ja, werdet später noch viel mehr haben – wenn ihr euch eben ordentlich danach betragt. Die kleine Unannehmlichkeit, euch jetzt ihren Launen ein wenig zu fügen, könnt ihr euch dann schon gefallen lassen und sie ertragen.“

„Kleine Unannehmlichkeit, Mama?“

„Sie l ä ß t sich ertragen“, erwiderte die Frau Oberstleutnant. „Wenn ihr erst einmal älter werdet, tritt solcher Zwang wohl noch schärfer an euch heran.“

„Sag einmal, Mama“, fragte Henriette, „was für ein Mann war denn eigentlich der alte Mäusebrod – ein ganz schrecklicher Name! Die Tante erwähnt ihn nie, und der Vater scheint auch nicht viel von ihm wissen zu wollen.“

Die Mutter zuckte mit den Achseln. „Es mag wohl keine sehr glückliche Ehe gewesen sein“, sagte sie. „Er war sehr reich, aber auch sehr kränklich und dadurch vielleicht voller Launen, soll die Tante auch nicht besonders behandelt haben.“

„Wie alt ist die Tante, Mama?“ fragte Flora, und Henriette richtete ihre Augen ebenfalls auf die Mutter, als ob sie die Frage mit täte.

„Ach, so alt gerade noch nicht“, sagte diese, vielleicht demselben Ideengange folgend. „Und so rüstig ja dabei, dass sie noch lange leben kann! Sie muss etwa im Anfange der Sechziger sein.“

„Das ist freilich noch sehr jung“, bemerkte Flora treuherzig, und Henriette konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Nun, so sehr jung doch auch nicht mehr“, sagte sie. „Wir sind jünger. Aber mit der versprochenen Erbschaft, Mama, da wir jetzt doch einmal unter uns sind, liegt mir, wie es scheint, die Sache noch in weitem Felde. Erstlich können wir selbst darüber alt und grau werden, und dann – wer weiß, ob nicht auch am Ende noch etwas dahinter steckt.“

„Dahintersteckt?“ fragte die Mutter. „Wie meinst du das?“

„Ich habe neulich einmal einen Roman gelesen,“ sagte das junge Mädchen, indem sie dabei sehr nachdenklich mit dem Kopf nickte, „wo sich ein alter Herr von seinem Neffen mit dem Versprechen einer sehr großen Erbschaft bis zu seinem Tode pflegen ließ und den armen jungen Menschen bis zum Äußersten dabei quälte. Als er starb, fand man, dass er gar nichts hinterlassen hatte, denn selbst sein Silberzeug war unecht, und der große eiserne Geldschrank enthielt nichts als Likörflaschen.“

„Aber, Henriette“, sagte die Mutter vorwurfsvoll. „Du traust doch deiner eigenen Tante nicht etwas Derartiges zu?“

„Das war auch der eigene Onkel, Mama....“

„Aber ein Roman, eine erdichtete Geschichte, Kind, die nie im wirklichen Leben passiert ist.“

„Wer kann’s wissen!“ antwortete achselzuckend das junge Mädchen. „Es sollen im wirklichen Leben viel wunderlichere und merkwürdigere Dinge vorfallen, als sie nur irgendein Mensch erfinden könnte.“

„Und was sollte die Tante dabei haben? Nur dass ihr sie dann und wann einmal besucht? Denn zu uns kommt sie doch selten genug, und sie ist immer so freundlich und liebevoll gegen euch...“

„Wenn wir dort sind“, sagte Flora, „so tut sie weiter nichts, als dass sie auf die Männer schimpft und kein gutes Haar an irgendeinem von ihnen lässt. Was sie nur dabei haben mag?“

„Sie hat wohl bittere Erfahrungen in ihrem Leben gemacht“, sagte die Mutter seufzend. „Es gibt nicht lauter so gute Männer wie euer Vater ist.“

„Aber nach den Äußerungen der Tante wären es alle Ungeheuer“, sagte Flora eifrig, „die nur ein armes Mädchen hinterlistig in den Ehestand locken, um ihre Frau dann langsam zu Tode zu quälen. Papa hat dich aber nicht zu Tode gequält und der Herr Mäusebrod die Tante auch nicht; er ist tot und sie lebt noch und sieht mir auch überhaupt gar nicht so aus, als ob sie je schlecht behandelt wäre oder sich auch hätte schlecht behandeln lassen.“

„Flora!“ rief die Frau Oberstleutnant in einem halb vorwurfsvollen Ton. „Es ist deine Tante!“ Dann setzte sie ruhiger hinzu: „Ich glaube und hoffe, dass ihr beide vernünftig genug seid, einer alten Frau eine vielleicht etwas überspannte Ansicht nachzusehen. Sie meint es mit euch jedenfalls gut, und wenn ihr meinem Rat folgt, so setzt ihr die Achtung und Liebe, die ihr ihr schuldet, nie außer Augen. Wie wäre es, wenn ihr noch vor Tische einen Spaziergang zu ihr macht? Das Wetter ist freundlich, und es dauert noch wenigstens eine Stunde, ehe wir essen.“

„Ach ja, Jettchen, lass uns gehen!“ rief Flora, die eben wieder einen Blick durch das Fenster geworfen und erneut den jungen Herrn mit dem schwarzen Samtrock da unten entdeckt hatte. „Die Luft ist gar zu schön, und wir müssen uns ja doch noch etwas von dem Band holen! Es fehlen noch wenigstens sechs bis acht Ellen!“

„Nun, ich habe nichts dagegen“, erwiderte Henriette, indem sie sich von ihrem Sitz erhob. „Dann ist es wieder auf einige Tage abgemacht.“

„Pfui, schäme dich, Jettchen!“ rief die Mutter.

„Nun, ein V e r g n ü g e n kannst du es doch nicht nennen, Mama“, entgegnete die zärtliche Nichte und zog die Oberlippe etwas hoch. „Ich tue es auch wirklich nur dir und dem Papa zuliebe.“

„Dann dürfen wir aber unsere neuen Hüte nicht aufsetzen, Hetty“, sagte Flora, die Schwester noch mit ihrem Kindernamen nennend. „Oder die Tante hält uns wieder eine ellenlange Strafpredigt.“

„Na, das fehlte mir auch noch, dass ich deshalb gerade mit dem alten Deckel über die Straße ginge!“ lautete die Antwort. „Wir müssen doch anständig aussehen und nicht wie die Vogelscheuchen!“

„Die Tante sagt immer, dass die jungen Mädchen zu ihrer Zeit ganz anders gewesen wären als jetzt – ob das wohl wahr ist, Mama?“ lächelte Flora.

„Inwiefern anders, Kind?“

„Nun, nicht so putzsüchtig, wie sie es nennt, und die Moden, meint sie, wären auch nicht so verrückt gewesen – aber weißt du, Hetty, das Blatt, das wir neulich hatten, in dem die alten Modenbilder stehen – wenn ich mir die Tante in einem solchen Aufzug denke – hahahaha!“

„Anständig und seinem Stande entsprechend muss man sich immer kleiden“, sagte die Mutter mit Würde. „Die Tante geht darin jedenfalls ein wenig zu weit, aber sie meint es doch gewiss gut.“

„Da drüben steht der Alte wieder am Fenster“, sagte Henriette, die gerade vor dem zwischen den Fenstern befindlichen Spiegel ihre Toilette beendet hatte und den Blick über die Straße warf. „Wahrhaftig Mama, er hat ein Opernglas – das ist aber wirklich unausstehlich! Der spioniert ja die ganze Nachbarschaft aus! Jetzt guckt er nach dem Hause da drüben hinüber!“

„Zeigt ihm nur um Gottes Willen nicht, dass ihr auf ihn achtet!“ sagte die Mutter. „Eine kleine Unannehmlichkeit hat jede Wohnung, und diese ist sonst in jeder Hinsicht angenehm und passend für uns, dass wir eine so unbedeutende Nachbarschaft auch wohl ertragen können.“

„Also adieu, Mama!“

„Adieu Kinder – kommt mir nur nicht zu spät zum Essen.“

„Nein, gewiss nicht – aber da ist der Papa schon – guten Tag, Papa!“

„Guten Tag, Kinder, guten Tag!“ rief der Oberstleutnant, der eben in die Tür trat. „Wohin soll es denn noch gehen? Ein Spaziergang?“

„Wir wollen noch einen Besuch bei der Tante machen.“

„Das ist recht, Kinder, das ist recht“, sagte der Vater vergnügt und schien Lust zu haben, sich die Hände zu reiben, woran er jedoch durch den Helm in der einen und ein Paket Schriften in der anderen Hand verhindert wurde. „Aber“, setzte er plötzlich hinzu, „ihr werdet sie wahrscheinlich nicht zu Hause treffen, ich bin ihr vorhin begegnet.“

„Das schadet dann nichts, Papa“, lache Flora. „Sie erfährt doch jedenfalls, dass wir dagewesen sind!“. Und die beiden jungen Damen huschten die Treppe hinab.

Der Oberstleutnant war eine sehr kleine und etwas sehr korpulente Gestalt, die eigentlich gar nicht so recht in eine Uniform passte und auch nicht das geringste Militärische an sich hatte. An den sehr kurzen Beinen rutschten ihm außerdem auch die Höschen noch immer etwas zu viel hinauf, und die Straßenbrut machte sich sogar nicht selten über ihn lustig. Im aktiven Dienst stand er auch nicht mehr, sondern wurde nur im Kriegsministerium noch verwandt, wo man seine nicht unbedeutenden Kenntnisse benutzte und außerdem so wenig Staat als möglich mit ihm machte.

„Du kommst ja heute recht früh“, sagte seine Gattin, ohne einen weiteren Gruß für nötig zu halten. „Wie ist denn das? Sonst wird ja das Büro immer erst um zwölf Uhr geschlossen.“

„Wir haben heute großes Scheuerfest im Büro“, lächelte der kleine Mann vergnügt vor sich hin, während er der Gattin freundlich zunickte und seinen Helm auf den nächsten Stuhl, seine Papiere auf die nächste Kommode legte. „Auch den Nachmittag frei, das sind so Lichtblicke im Büroleben, Schatz.“

„So?“ sagte die Frau Oberstleutnant, ohne jedoch den freundlichen Blick zu erwidern. „Und wenn zu Hause gescheuert wird, so ziehst du jedes Mal ein Gesicht, als ob dir das größte Unrecht der Welt geschähe.“

„Ja, liebes Kind“, lächelte ihr Gatte, aber doch etwas verlegen dem sehr bestimmt auftretenden Wesen seiner schöneren Hälfte gegenüber, denn der Vorwurf war eigentlich gerechtfertigt und ließ sich nicht verleugnen. „Aber zu Hause ist das auch etwas anderes, denn hier habe ich gerade meinen Ruhepunkt, auf den ich mich, wenn äußerlich belästigt, in Frieden zurückziehen kann.“

„Und das nennst du also eine Belästigung, wenn dir daheim die eigene Wohnung reinlich gehalten wird?“

„Ich sage ja nichts darüber“, lenkte der Oberstleutnant vorsichtig ein, denn das war ein Kapitel, in das er sich nicht gern wagte, da er schon so oft den Kürzeren dabei gezogen. „Du hast mich ganz falsch verstanden, mein Herz.“

„Ich kenne dich“, brummte jedoch seine Gattin. „Wo nur irgendetwas in der Wirtschaft vorkommt, was dich im Geringsten geniert, so ist es dir gleich nicht recht.“

„Aber ich sage ja kein Wort mehr.“

„Ich brauche dich nur anzusehen, so weiß ich schon, woran ich bin. Aber wenn ihr heute keinen Bürotag gehabt habt, wo bist du denn da so lange gewesen?“

„Ich habe bei dem schönen Wetter einen Spaziergang gemacht, mein Herz, und war dann einen Augenblick bei Baumanns drüben, um ein paar Zeitungen zu lesen.“

Die Frau Oberstleutnant seufzte recht tief auf. „Also wieder im Bierhaus!“ sagte sie. „Du weißt doch, Heinrich, wie oft ich dich gebeten habe, solche Plätze nicht zu frequentieren.“

„Aber, liebes Herz, es ist ein sehr anständiger Platz. Alle Offiziere besuchen ihn.“

„Weil ihnen das junge, freche Geschöpf darin gefällt“, sagte die Dame mit Entrüstung. „Du aber, in deinem Alter, gehörst dort, meiner Meinung nach, nicht hinein.“

Der kleine, korpulente Oberstleutnant von Klingenbruch hatte in seinem ganzen Wesen wohl etwas sehr Gemütliches, aber keineswegs viel Altadeliges, und kein Mensch hätte leichter als er z.B. als würdiger Bäcker- oder Fleischermeister inkognito reisen können. Er war auch in der Tat von Herzen kein wirklicher Aristokrat, und nur seine Gattin hielt ihn noch, und manchmal wirklich mit Mühe, zu einem höheren Aufschwung seiner selbst an, der aber dann immer von Zeit zu Zeit einer Auffrischung bedurfte. Hauptsächlich aber lag ihm daran, den Hausfrieden zu erhalten, und mit beruhigender Stimme sagte er:

„Aber, bestes Kind, du nimmst die Sache zu schwer, ich gehe ja auch so selten hin. Weißt du übrigens, wer hier neben uns eingezogen ist? Als neulich die schönen Möbel in das Haus hier nebenan über der kleinen Gasse drüben eingetragen wurden, zerbrachen wir uns doch die Köpfe darüber, war das sein könnte.“

„Nun, und wer ist das?“ fragte die Frau Oberstleutnant, die darüber glücklicherweise das andere Kapitel vergaß.

„Der Herr von Schaller, der früher draußen vor dem Waldhofer Tor wohnte und mit dem wir eigentlich nie zusammen kamen, und doch ist er ein alter Jugendfreund von mir. Wir standen auch einmal in einem Regiment, aber er quittierte den Militärdienst. Es war ein etwas flotter Gesell und zog sich später nach Berlin zurück.“

„Ist er verheiratet?“

„Gewiss, er hat auch eine erwachsene Tochter, das wäre vielleicht ein Umgang für Hetty und Flora.“

„Und hat er jetzt noch eine Charge?“

„Ja, mein Schatz, danach habe ich ihn noch nicht einmal fragen können, er kam gerade von Bau.. – hm, ja, von Baumanns heraus, als ich hineinging, und wir wechselten nur eine kurze Begrüßung miteinander.“

„Die Etage da drüben ist brillant eingerichtet“, sagte die Frau Oberstleutnant. „Die Fenster standen gestern offen, es wurde gerade rein gemacht. Das müssen sehr reiche Leute sein.“

„Hm“, murmelte der Oberstleutnant, der an seine eigene gute Stube oder sein Empfangszimmer, wie es seine Frau nannte, dachte, in das er das ganze Jahr kaum zweimal hineinkam, während ihn die Möbel da drinnen fast ebensoviel Geld kosteten, als die ganze übrige Einrichtung. „Der Schein trügt manchmal.. Früher fehlte es immer am Besten, aber er wird wahrscheinlich eine reiche Frau bekommen haben, und seiner ganzen äußeren Erscheinung wenigstens nach muss es ihm gut gehen.“

„Und der besucht auch das Bierhaus?“

„Ich sage dir ja, man findet dort eine ganz ausgewählte Gesellschaft.“

„Ausgewählt! Ja, darin will ich dir recht geben“, bemerkte seine Frau mit einem ganz besonderen Nachdruck auf das Wort. „Aber, was ich dir eigentlich noch sagen wollte, Heinrich, wir sind hier gerade unter uns, und ich möchte eine Frage an dich richten, einen Rat von dir.“

„Von m i r ? Gewiss, mein Herz“, sagte der Oberstleutnant gespannt, denn um seinen Rat wurde er sonst nur dann in häuslichen Angelegenheiten gefragt, wenn er zu einer außergewöhnlichen Ausgabe Geld hergeben sollte. Übrigens war augenblicklich jede Unterhaltung wünschenswerter, als die über das besprochene Bierhaus, dessen Erwähnung er so unbedachterweise wieder herbeigeführt hatte.

„Die Kinder sprachen vorher so untereinander, und eine hingeworfene Bemerkung über die Tante, deine Schwester, die vielleicht nicht einmal so gemeint war, hat mich beunruhigt.“

„Eine Bemerkung, mein Schatz?“

„Sag einmal, Heinrich“, fuhr die Frau Oberstleutnant nach einer kurzen Pause fort, „bist du über die Vermögensverhältnisse deiner Schwester genau unterrichtet?“

„Ich? Über Sibylles Verhältnisse? Wie meinst du das, Schatz?“

„Nun, ich meine, ob du bestimmt weißt, dass sie ein bedeutendes Vermögen besitzt"“ ging die Frau Oberstleutnant direkt, wie ein wirklicher Oberstleutnant, auf ihr Ziel los. „Wir unter uns können doch darüber sprechen.“

„Aber wie kommst du nur zu der Frage?“

„In sehr natürlicher Art. Es ist nun einmal deine Schwester, wenn sie sich auch nicht gerade schwesterlich beträgt. Gegen die Kinder ist sie wenigstens gut, und ich bin deshalb auch selbst dafür, dass diese ihr die nötige Aufmerksamkeit erweisen. Sie hat ja auch versprochen, ihrer später noch reichlicher zu gedenken; bist du – bist du auch gewiss, dass sie wirklich die Mittel dazu besitzt?“

„Die Mittel?“ fragte der Oberstleutnant, der noch immer nicht recht begriff, wo hinaus sie eigentlich steuerte.

„Du bist aber auch heute gerade wie vor den Kopf geschlagen“, sagte seine zärtliche Gattin. „Das kommt vom vielen Biertrinken. Ich meine, ob sie wirklich ein so bedeutendes Vermögen besitzt, dass unsere Töchter – einmal später....“

„Aber, liebes Herz“, sagte der Oberstleutnant erstaunt. „Darüber waltet ja doch gar kein denkbarer Zweifel. Mäusebrod hatte ein sehr großes Geschäft und war ein sehr tüchtiger Kaufmann, alles dabei in der besten Ordnung, und Sibylle bezieht an Renten etwa das Dreifache, was sie wirklich braucht. Sie hat unstreitig durch die Heirat ihr Glück gemacht. Die Kinder können doch nicht daran gezweifelt haben.“

„Nein, Gott bewahre!“ wich die Frau aus. „Es war nur so eine hingeworfene Bemerkung Floras, die sich auf einen Roman bezog und mich selbst auf den Gedanken brachte. Aber was macht sie mit dem vielen Geld, wenn sie dreimal mehr einnimmt, als sie selber braucht?“

„Sie ist sehr wohltätig“, bemerkte ihr Gatte, der genau wusste, wie seine Frau über seine Schwester dachte, und immer nur zu vermitteln hatte. „Sie interessiert sich besonders für das Missionswesen in Afrika.“

„Ja“, nickte die Frau Oberstleutnant. „Der eine lange Schleicher mit der weißen Halsbinde rennt ihr fast das Haus ein, das weiß ich. Die gehen auch nirgends hin, wo sie nicht wissen, dass was zu holen ist, und wer kann sagen, ob sie nicht einmal später ihr Geld lieber den Hottentotten als unseren Kindern hinterlässt.“

„Liebes Herz“, erwiderte ihr Gatte. „Einen solchen Verdacht solltest du doch eigentlich nicht gegen sie aussprechen, sie hat allerdings ihre kleinen Schwächen, aber...“

„K l e i n e Schwächen, Heinrich?“ unterbrach ihn aber seine Gattin, die jetzt einmal in Zug kam. „Nimm mir das nicht übel, es ist allerdings deine leibliche Schwester, aber sonst auch...“

„Veronica....“

„Der größte alte Drache, den es auf der Welt gibt“, fuhr jedoch die Frau fort, ohne sich aufhalten zu lassen. „Einmal lässt sie an keinem Menschen ein gutes Haar, frag‘ nur die Kinder selbst, wenn du mir nicht glauben willst, und dann ist sie von einer Aufgeblasenheit und einem Hochmut, dass ich immer fürchte, ihre Nase kriegt einmal das Übergewicht und drückt ihr den Kopf hinten hinüber. Und auf was ist sie stolz, frage ich dich? Es kann nur ihr Geld sein, und das ist das Erbärmlichste, auf das ein Mensch stolz sein kann. Ja, sogar auf uns guckt sie vornehm herunter, die Frau Mäusebrod.“

„Auf uns, Veronica?“

„Ja, auf uns“, fuhr jedoch die Frau gereizt fort. „Den Kindern predigt sie ewig Einfachheit und hat ihnen auch schon ein paar Mal zu verstehen gegeben, dass eine Familie, wie die unsere, mit so geringem Vermögen, eigentlich gar nicht daran denken dürfe, einen solchen Aufwand zu machen.“

„Nun“, sagte der Oberstleutnant, der aber doch kaum einen leisen Seufzer unterdrücken konnte, wenn er auch nicht wagte, seiner Schwester in diesem Augenblick wirklich Recht zu geben. „Einen solchen Aufwand machen wir doch eigentlich nicht, wenn wir auch vielleicht in manchen Dingen....“

„Das ist ja auch gerade, was ich sage“, rief die Frau. „Und sie wahrhaftig hat sich doch darum am wenigsten zu kümmern.“

„Aber sie hat die Kinder so lieb.“

„Lieb? Die hat niemanden lieb, als sich selbst. Sie hasst alle Menschen, nur vielleicht die Hottentotten nicht, und das wird wohl gegenseitig sein. Ich glaube nicht, dass sie einen Freund in der ganzen Stadt hat.“

„Aber du bist doch immer so freundlich mit ihr, wenn ihr einmal zusammen seid, was freilich selten genug geschieht.“

„Weil ich sie nicht unnötigerweise vor den Kopf stoßen will“, bemerkte seine Frau. „Ich weiß wenigstens, was ich meinen Kindern schuldig bin. Ich sollte aber nur merken, dass sie falsches Spiel treibt!“

„Unsinn, Veronica“, sagte der Oberstleutnant jetzt, während er kopfschüttelnd, die linke Hand auf dem Rücken haltend, die rechte vorn in die Brust geschoben, im Zimmer auf und ab ging. „Wie du nur auf solche Gedanken kommen kannst! Sie hat mir selbst gesagt, dass sie ihr Testament gemacht und die Kinder, nach Abzug verschiedener Legate, zu Universalerbinnen eingesetzt hat."“ "Und für wen hat sie Legate zu machen?“ frug die Frau Oberstleutnant. „Wer steht ihr so nahe, als die Kinder ihres eigenen und einzigen Bruders? Legate für die Hottentotten vielleicht, und wie hoch belaufen sich die?“

„Ja, mein Herz“, sagte ihr Gatte, „woher soll ich das wissen? Das weiß niemand als sie selbst und der Notar, der das Testament aufgesetzt hat.“

„Und wer ist das?“ fragte die Frau Oberstleutnant rasch.

„Notar Püster.“

„Püster? Ein entsetzlicher Name, und wo wohnt er?“

„Du kannst ihm in die Fenster sehen“, erwiderte ihr Gatte, über die Straße deutend. „Dort im oberen Eckfenster, gerade über dem Café.“

„Der entsetzliche Mensch, der den ganzen Tag fast nichts tut, als die verschiedenen Fenster seiner Nachbarschaft abzuspionieren? Die Kinder sind schon ganz außer sich über ihn.“

„Aber wenn sie nicht ebensoviel zu ihm hinüberguckten,“ lächelte der Oberstleutnant, der dem Gespräch eine scherzhafte Wendung zu geben wünschte, „woher wissen sie es denn?“

„Du glaubst wohl gar, die gaffen nach dem Herrn Püster hinüber?“ sagte seine Frau beleidigt. „Sollte ihnen doch einfallen! Aber glaubst du nicht, Heinrich, dass man vielleicht mit dem Manne...“

„Mit welchem Manne, mein Herz?“

„Von diesem Herrn Püster, wie der schreckliche Mensch heißt, etwas – etwas Näheres über die Sache, über das Testament meine ich, erfahren könnte?“

Der Oberstleutnant schüttelte mit dem Kopf.

„Das ist Amtsgeheimnis, Veronica. Er hat da einen Eid geleistet.“

„Wenn man nur so ungefähr wüsste...“

„Er darf auch nicht einmal ungefähr darüber Andeutungen machen, oder er stände unter der größten Verantwortlichkeit. Aber, was ich doch gleich sagen wollte, wo nur eigentlich die Mädchen bleiben, essen wir denn noch nicht bald? Ich fange wirklich an, Hunger zu bekommen und der Tisch ist noch nicht einmal gedeckt.“

Die Frau Oberstleutnant klingelte. Das Dienstmädchen und zugleich Köchin kam herein und wurde beordert:

„Decken!“

Es stand nun wohl alles in der Stube, aber die gnädige Frau konnte natürlich nicht daran denken, selbst mit Hand anzulegen, wofür war das Mädchen da? Das musste freilich von seiner Arbeit fort, und die beiden gnädigen Fräulein flanierten indessen.

Jetzt aber kamen sie die Treppe heraufgestürmt, den Apothekerlehrling unten im Hause rissen sie bald um, sodass ihnen dieser unter seinen struppigen Haaren hervor ganz verdutzt nachsah. Lachend und kichernd hüpften sie über den Vorplatz, sie schienen sich ganz vortrefflich amüsiert zu haben. Das erste Wort aber, mit dem sie in das Zimmer förmlich einbrachen, lautete: „Sie war nicht zu Hause!“ Sie, natürlich die Tante.

„Und habt ihr eure Karten abgegeben, Kinder?“

„Gewiss, Mama, aber wisst ihr, wer gestern Nacht von seiner großen Reise hier in Rhodenburg angekommen ist? Ach, Hanna, ein Glas frisches Wasser!“

Das Mädchen musste vom Decken fort, um das Verlangte zu holen.

„Trink nur nicht zu hastig, nun, wer denn?“ sagte die Mutter.

„Der junge Solberg, er soll ganz braun aussehen.“

„Ja“, rief Flora. „In der Stadt erzählen sie, er hätte eine Negerin geheiratet und brächte drei schwarze Kinder mit.“

„Du meine Güte!“ sagte die Frau Oberstleutnant.

„Mir auch ein Glas!“ befahl Flora, als die Hanna mit dem Wasser kam, und sie musste noch einmal hinaus.

„Und heimlich ist er angekommen“, ergänzte Henriette. „Seine Eltern wussten gar nichts davon, und über das Gartengitter ist er geklettert, ordentlich eingestiegen.“

„Und die Nacht hat er in einer Fuhrmannswirtschaft, im Goldenen Löwen logiert“, sagte Flora.

„Und dritter Klasse ist er gefahren, weil er kein Geld mehr hatte“, lachte Henriette. „Rein der verlorene Sohn. Solbergs werden heute ein Kalb schlachten müssen.“

„Es ist doch erstaunlich!“ sagte die Mutter und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. „Aber woher wisst i h r das nur alles, Kinder?“

„Wir trafen Bertha von Noltje auf der Straße und begleiteten sie ein Stück, die wusste alles. Das soll eine schöne Szene im Haus gewesen sein, na, das lässt sich denken! Franziska wird sich besonders freuen.“

„Er war immer ein Tunichtgut!“ nickte die Mutter. „Aber was werden sie jetzt nur mit ihm anfangen?“

„Gott weiß es! Wie alt ist er eigentlich, Mama?“

„Ja, lass einmal sehen, mein Kind; als er damals fortlief, war er gerade zwanzig Jahre alt, und das war an dem nämlichen Tag“, setzte sie mit einem schweren Seufzer hinzu, „als das Kind, dein seliger Bruder, starb. Den Tag vergesse ich nie, das waren gerade gestern zehn volle Jahre, ja, eine lange Zeit!“

„Und so lange hat er sich in der Welt herumgetrieben?“ sagte Flora.

„Ja, Kinder, aber jetzt lasst mir den jungen Vagabunden laufen“, bemerkte der Vater. „Kommt zu Tisch. Ihr habt uns heute ein wenig warten lassen.“

Das Mädchen hatte, während die jungen Damen in allen Stadtneuigkeiten schwelgten und die Hüte und Schals nur auf die nächsten Stühle warfen, den Tisch fertig gedeckt und das Essen hereingebracht. Die Familie setzte sich jetzt zu dem allerdings sehr frugalen Mahl zusammen. Es bestand in der Tat nur aus einem einzigen kleinen Stück Fleisch für die vier Personen, etwas dünnem Gemüse und einem Glas einfachen Bieres für den Vater. Lieber Gott, der äußere Anstand musste der Welt gegenüber gewahrt werden, und wo hätte man da überhaupt anders sparen können, als am Essen und an der Wäsche. Das sah ja niemand, denn über Tisch nahm die Familie nie Besuch an.

Im Eckfenster

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