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Viertes Kapitel
ОглавлениеDas Eckhaus.
Auf dem Brink in Rhodenburg, der Apotheke fast gerade gegenüber, stand jenes schon früher erwähnte Eckhaus, das man aber kaum ein Eckhaus nennen konnte, da es, fast allein stehend, in eine dumpfe Spitze nach dem Brink zu auslief und eine Straße an jeder Seite hatte. Ja, selbst im Rücken wurde es durch eine kleine Quergasse, den sogenannten Geistersteg, von den dahinter liegenden Gebäuden getrennt, so dass es vollkommen isoliert von allen übrigen Häusern blieb.
Gerade voraus, der abgestumpften Spitze gegenüber, die genau nach Westen zeigte, also ebenfalls nach Westen zu, lief eine sehr kleine, enge Gasse, die sogenannte Rosentwete, sie mochte kaum mehr als sechs Schritt breit sein, die rechte Ecke daran bildete die Hofapotheke, die linke ein ebenfalls hübsches, aber nur zweistöckiges Haus. Links von diesem wieder lag die Hauptgasse, die man aber auch noch recht gut von hier aus übersehen konnte.
Die beiden, vom Brink ab schräg an dem einzelstehenden Haus hinlaufenden Gassen hießen links die Bären-, rechts die Mühlgasse, waren aber ebenfalls nicht breit, und von dem Eckhaus aus konnte man also auch nach Nord und Süd zu die gegenüberliegenden Gebäude vollständig überblicken, ja ihnen in die Fenster hineinsehen.
Das alte, wunderlich gebaute und vorn an der stumpfen Spitze mit reicher Steinhauerarbeit gezierte Haus lag solcherart wie eine Warte zwischen den übrigen Gebäuden, und im vorigen Jahrhundert sollte auch einmal eine Spukgeschichte damit in Verbindung gestanden haben, wonach wohl die Gasse dahinter der Geistersteg genannt wurde. Jetzt freilich waren so viele Jahrzehnte darüber hingegangen, dass sich selbst die Sage so ziemlich verloren hatte oder durch nur ganz unbestimmt in der Erinnerung alter Bewohner von Rhodenburg eine kümmerliche und durch jeden Todesfall mehr bedrohte Existenz fristete. Stand es früher vielleicht einmal eine Zeit unbewohnt, so fürchtete sich jetzt kein Mensch mehr vor den neu hergerichteten Räumen, und das Parterrelokal entsprach sogar mit seinen großen Spiegelscheiben, brillanten Gaskronleuchtern, eisernen Tischen mit Marmorplatten und einem glänzenden Buffet den erhöhten Ansprüchen der Neuzeit und machte dadurch all‘ den übrigen ähnlichen Wirtschaften, besonders für die höhere Gesellschaft, eine gefährliche Konkurrenz.
Das ganze Äußere des Hauses machte durch den unten neu angelegten Luxus, während oben noch die Jahrhunderte alte solide Steinarbeit darüber hinausragte und große eiserne, jetzt abgeleitete Dachrinnen in Drachenform ein Stück vom Dach abstanden, einen merkwürdigen Eindruck, und Fremde besonders verfehlten nie, es aufzusuchen.
Die erste Etage dieses Eckhauses bewohnte, wie schon erwähnt, ein Notar, der unten in der Bärengasse, wo sich der Eingang zu den oberen Stockwerken befand, ein einfaches Porzellanschild mit der Inschrift hatte: „Püster, Advokat und Notar“.
Selbst der Vorname fehlte, keine Andeutung war dabei gegeben, ob der Mann Doktor sei oder nicht, oder sonst einen anderen Titel führte, und doch wusste man in ganz Rhodenburg schon längere Zeit, dass dieser einfache Püster ein ganz vortrefflicher Advokat sei, der die schwierigsten und verwickelsten Fälle mit einem fast wunderbaren Scharfsinn durchschaute und eigentlich keinen einzigen Prozess verlor. Das Geheimnis lag freilich darin, dass er nicht jede Klagesache annahm und manches, trotz aller Aussicht auf größeren Gewinn, von der Hand wies, sobald er selber fühlte, dass die Sache faul sei. Was er aber annahm, führte er auch durch, und der geschäftliche Verkehr in seinem Comptoir, so abgesondert er sich sonst von der eigentlichen Gesellschaft hielt, war deshalb ein nicht geringer.
In einem der größeren Zimmer, die nach der Bärengasse hinaus lagen, befand sich das Comptoir, oder vielmehr die Schreiberstube, denn sechs junge Leute, unglückliche Menschen, denen der liebe Gott weiter nichts als eine gute Handschrift gegeben, und die jetzt um wenige Taler Gehalt das ganze Jahr lang geisttötende Eingaben abschreiben mussten, hatten dort mit wenig Licht und viel Arbeit ihre tägliche Beschäftigung, während der Notar selbst das Eckfenster wie das daranstoßende größere Gemach zu seinem Privatcomptoir gemacht hatte und nur mit einem einzigen seiner Leute, einem kleinen, verwachsenen Menschen arbeitete.
Sonst besorgte ihm eine alte Köchin die Wirtschaft, und ein junges Ding von dreizehn oder vierzehn Jahren, die der Notar als Waise zu sich genommen, hatte wenig mehr zu tun, als die Etage rein zu halten, und besuchte dabei noch immer die Schule. Sie schlief mit der Köchin in einer Kammer nach der Bärengasse hinaus.
Püster saß in seinem Zimmer am Privatpult und hatte einige offene, eben gebrachte Briefe vor sich liegen, von denen zwei seine besondere Aufmerksamkeit zu fesseln schienen. Er nahm wenigstens bald den einen, bald den anderen vor und las sie mehrere Male wieder durch. Jetzt stand er auf und trat in sein Eckfenster, von dem aus er, heute aber mit ganz anderen Dingen beschäftigt, den Blick, mehr wie in alter Gewohnheit, bald da, bald dorthin über die im Augenbereich liegenden Häuser schweifen ließ.
Das Comptoir selbst war ein sehr einfach und nur geschäftsmäßig eingerichtetes Arbeitszimmer mit hohen, von Aktenstücken gefüllten Regalen, einer kleinen juristischen Bibliothek an den Wänden und ganz einfachen, nur lackierten Möbeln, zwischen denen sich aber doch ein paar bequeme Lehnstühle, jedenfalls für Klienten, befanden.
Hübsch gelegen war es übrigens, besonders in der Aussicht, denn das große, die abgestumpfte Spitze des Hauses bildende Eckfenster bot einen prächtigen Blick nach allen Seiten und war mit einem grünen, jetzt zurückgeschlagenen Vorhang versehen, der aber niedergelassen werden konnte und dann den ganzen Erker wie ein kleines Gemach abschloss.
Da öffnete sich die Tür, und sein Faktotum, der kleine, verwachsene Mensch, der nur sehr einfach Mux genannt wurde, trat herein.
Mux war eine ganz eigentümliche Erscheinung, mit einem Gesicht, in das man hätte stundenlang hineinschauen können, ohne zu ergründen, was darin lag. Es spielte eigentlich fortwährend durch jeden Ausdruck und legte sich dabei oft so in Falten, dass man die kleine, kaum vier Fuß hohe Gestalt mit den hoch aufgezogenen, unregelmäßigen Schultern und den unverhältnismäßig langen Armen manchmal geneigt war, für einen Mann in den Vierzigern zu halten, während er dann wieder das reine Kindergesicht zeigte, als ob er dem Knabenalter kaum entwachsen wäre. Nur das klare, dunkle Auge funkelte unter einem Paar wirklich schön geschnittener Brauen immer gleich klug und aufmerksam hervor.
Der Notar wandte sich gegen ihn.
„Nun“, sagte er. „Wie war’s? Hast du etwas erfahren?“
Mux zuckte mit den Achseln, das heißt, er hob sie ein klein wenig höher, als sie überhaupt gewachsen waren.
„Nicht viel, Herr Notar“, erwiderte er. „Der Herr aus Amerika erinnert sich allerdings, einen Mann namens Rehberg in Amerika, und zwar in Cincinnati gekannt zu haben, was aber aus ihm geworden sei, könne er nicht wissen. Dort drüben wechselten die Menschen ja so rasch durcheinander, und wenn einer nur an Bord eines Dampfschiffes gehe, so sei er so gut wie verschwunden, denn eine Kontrolle finde natürlich nicht statt.“
„Von der Frau weiß er nichts?“
„Nein, nicht einmal, ob jener Rehberg verheiratet gewesen sei oder nicht. Es ist übrigens ein komischer Kauz und mischt eine solche Menge von englischen Wörtern ein, dass man, wenn man nicht wenigstens ein klein wenig Englisch kann, gar nicht versteht, was er sagt.“
„Und du verstehst Englisch, Mux?“ fragte ihn der Notar etwas erstaunt.
„Nicht viel“, antwortete der Bucklige und errötete dabei wie ein Mädchen.
„Hm, und wo hast du das gelernt?“
„Ich treibe es abends.“
Der Notar erwiderte nichts darauf, seine Gedanken flogen schon wieder nach anderer Richtung hin.
„Ja“, sagte er, fast weniger zu Mux, als mit sich selber redend. „Dann werde i c h der armen Frau wohl keinen besonderen Trost schicken können. Was wäre sie imstande, zu tun, was irgend ein anderer? Dein Amerikaner hat Recht, Mux, wer sich dort drüben verborgen halten will, der kann es leicht genug. Was kann’s helfen, es ist eben ein armes, betrogenes Wesen mehr in der Welt. Sonst nichts vorgefallen, Mux?“
„Doch! Gestern Nacht ist der junge Baron Solberg aus Amerika oder Afrika, Gott weiß, woher – sie erzählen darüber die tollsten Geschichten in der Stadt – zurückgekommen und hat seine Eltern überrascht.“
„Der Hans Solberg?“ fragte der Notar erstaunt. „Alle Wetter, wo hat sich der Junge so lange herumgetrieben? Aber was hast du denn Mux, du siehst ja so merkwürdig blass aus, fehlt dir was?“
„Nein, Herr Notar“, sagte der Bucklige ruhig. „Vor ein paar Minuten wurde mir nur so sonderbar zumute, es ist aber jetzt schon wieder vorüber.“
„Hast du etwa nichts gefrühstückt?“
„Doch, ich weiß nicht, was es war, ich habe es zuweilen.“
„Hm, der Hans Solberg“, fuhr Püster nachdenklich fort. „Wird eine Umwälzung in der Familie hervorbringen, und ich bin neugierig, was aus ihm geworden ist. War sonst ein ganz tüchtiger, aufgeweckter Junge. Kennst du die Familie, Mux?“
War der kleine, bucklige Bursche früher bleich geworden, so veränderte er seine Farbe jetzt umso rascher, er war blutrot geworden, aber sagte mit vollkommen ruhiger Stimme: „Ich war nie dort im Hause.“
Püsters Blick haftete auf ihm, aber er machte keine Bemerkung, und anscheinend auf einen anderen Gegenstand überspringend, der aber doch nur in der Reihenkette seiner Gedanken lag, fragte er: „Apropos, Mux, hast du dich bei der Näherin nach meinen Hemden erkundigt?“
„Ja, Herr Notar.“
„Wie geht es ihr?“
Der kleine Mann schüttelte mit dem Kopf. „Wohl nicht besonders, dem armen Ding. Sie hatte ganz rote Augen, und kein Wunder, denn als ich die Nacht einmal aus dem Fenster sah, brannte da oben noch Licht in ihrem Zimmer. Sie muss die ganze Nacht durchgearbeitete haben.“
„Lumpenvolk“, brummte der Notar vor sich hin. „Du hast sie doch nicht getrieben?“
„Fällt mir nicht ein, die treibt sich schon selber.“
Püster trat ans Fenster und sah nachdenkend auf die Straße hinaus. „Die Frau Mäusebrod hat heute noch nicht nach mir geschickt?“ fragte er dann endlich.
„Nein, Herr Notar.“
Die Straße herauf kamen die beiden Fräulein von Klingenbruch und fegten das Trottoir mit ihren seidenen Schleppen.
„Es ist gut, Mux, es wird wohl gleich Essenszeit sein, du kannst gehen“, und er wandte den Kopf gar nicht mehr um, sondern hielt den Blick fest auf die beiden jungen Damen geheftet.
Kurz vorher, ehe sie ihr Haus betraten, begegnete ihnen der junge Mann mit dem schwarzen Samtrock wieder. Püster kannte ihn recht gut, es war der junge Maler von Heidewald, ein nicht besonders talentvoller und dabei blutarmer Mensch, der die beiden jungen Damen auf das Ehrfurchtsvollste grüßte. Er hatte das schon fünfmal an diesem Morgen getan, denn er war ihnen überall nachgegangen und manchmal in wahrhaft fieberhafter Eile durch schmale Seitenstraßen gerannt, um ihnen nur immer wieder erneut zu begegnen.
Die jungen Damen betraten das Haus, der Herr in dem Samtrock kehrte aber unmittelbar danach wieder um, ging jedoch sehr langsam und nahm seine Brieftasche heraus, als ob er sich etwas notieren oder nachsehen wolle. Plötzlich blieb er stehen und drehte den Kopf herum, als ob er nicht sicher wäre, dass er beobachtet würde. Jetzt bückte er sich und hob etwas, das neben ihm am Boden lag, auf. Der Notar hatte noch ausgezeichnete Augen, war ihm der Bleistift aus der Hand gefallen? Nein, das, was er aufhob, glich eher einem zusammengewickelten Streifen Papier, sollte einer der jungen Damen – es war doch nicht gut denkbar.
Der junge Maler warf aber keinen Blick auf das Gefundene, er schob es in die Westentasche, es konnte der Bleistift nicht sein, und schritt dann wieder langsam die Straße zurück, der Richtung zu, von der er zuletzt gekommen war.
Püster hatte das Fenster aufgemacht und ihm fast unwillkürlich nachgesehen, als er links von sich etwas räuspern hörte. Er wandte den Kopf dorthin und bemerkte in dem Eckhaus links über der Bärengasse drüben, aber in der zweiten Etage, den Theaterdirektor Sußmeier, der in seinem rotseidenen Schlafrock, einen ebenso grellfarbigen Fez mit blauer Quaste auf, und eine lange, türkische Pfeife haltend, aus dem Fenster sah und den Rauch in die frische Morgenluft hinausblies.
Jedenfalls musste er den Notar an seinem Fenster bemerkt haben, denn als der ihm nur den Kopf zubog, grüßte er gnädig, indem er die bis fast zur ersten Etage niederhängende Pfeife aus dem Munde nahm und die große Bernsteinspitze so huld- und würdevoll gegen ihn neigte, als ob er hätte sagen wollen: „Lebe weiter, elender Sterblicher, ich erhalte dir noch meine Gnade.“
Püster schüttelte leise und unmerkbar mit dem Kopf und brummte für sich: „Es ist doch eigentlich merkwürdig, wie viel wirklich verrückte Menschen in der Welt herumlaufen, ohne dass man einen festen Halt an ihnen bekommen und sie einsperren lassen könnte. Der Kerl da drüben ist doch augenscheinlich rein toll, aber er hat noch niemand gebissen oder Menschen auf der Straße angefallen, und der Staat kann ihm deshalb nichts anhaben. Eigentümliche Sache das, um das Gehirn eines Menschen, und eine wunderbare Einrichtung von der Natur, dass es kein Arzt revidieren und kontrollieren kann, gäbe auch sonst wahrscheinlich eine heillose Verwirrung im Staats- wie im Familienleben!“
Der Direktor im Fenster da drüben stand auf, zog die Pfeife vorsichtig ins Zimmer hinein und trat zurück. Dadurch aber bekam Püster für einen Moment den größeren Teil der Gestalt zu sehen.
„Verdammt will ich sein“, rief er halblaut aus, „wenn der verfluchte Kerl nicht einen persischen Dolch in seiner Schlafrockquaste stecken hat! Dass Leute ihren Orden am Schlafrock tragen, davon habe ich schon gehört, aber einen Dolch – es ist doch zu toll!“
In dem Augenblick klopfte es an seine Tür, und als er sich danach umdrehte, trat einer seiner Schreiber herein und meldete:
„Herr Notar, der Herr Semmlein, der Apotheker von gegenüber, ist unten und möchte Sie gern einmal auf einen Augenblick sprechen.“
„Lassen Sie ihn hereinkommen.“
Der Schreiber verschwand wieder, und nach einigen Minuten klopfte es herzhaft an.
„Herein...“
„Morgen, Herr Püster!“ sagte Herr Semmlein, eine kleine, breitschultrige Gestalt, aber mit einer etwas lispelnden Stimme, indem er, sein Morgenkäppchen in der Hand, mit dem er nur so über die Straße gekommen war, in die Tür trat. „Haben Sie einen Augenblick Zeit?“
„Für Sie immer, Herr Nachbar, womit kann ich Ihnen dienen?“
„Hm“, lispelte Semmlein. „Ich – möchte Sie in etwas um Rat fragen, ist aber eine verdammt kitzlige Geschichte.“
„Kitzlige Geschichte?“ lachte der Notar, indem er auf einen Stuhl zeigte. „Wieso, Herr Nachbar? Aber bitte, nehmen Sie Platz!“
„Ja, sehn Sie“, erwiderte Herr Semmlein und leistete der Einladung Folge. „Kennen Sie meinen Nachbar über der Gasse drüben – Nr. 16, von hier schräg gegenüber -, den Herrn von Schaller, der erst vor kurzer Zeit dort eingezogen ist? Er wohnt meinswegen da drüben eine Treppe hoch.“
„Nicht näher, nur vom Ansehen, Herr Nachbar.“
„Halten Sie ihn für gut?“
„Ich sage Ihnen ja, dass ich den Herrn nur von Ansehen kenne.“
„Hm ja – na, dann wissen Sie meinswegen auch nichts.“
„Aber weshalb fragen Sie danach? Will er etwa Geld bei Ihnen borgen?“
„Geld bei mir? Ne!“ lachte der Hofapotheker und drückte sein gesticktes Morgenkäppchen zu dem geringst möglichen Kubikinhalt zusammen. „Aber sehen Sie, da schickt mir ein Schwager von mir, der Apotheker Reuter in Berlin, der meinswegen eine Schwester meiner Frau geheiratet hat, eine Rechnung für den Herrn Baron, die ich hier einkassieren oder einklagen soll, und das ist mir höchst fatal. Der Herr Baron kauft ebenfalls bei mir, und ich weiß selber nun nicht recht, wie ich eigentlich mit ihm stehe.“
„Hat er denn so viel Krankheit im Hause?“
„Na nu, ne“, sagte Herr Semmlein, indem er versuchte, sein Käppchen vollständig entzwei zu drehen. „Außer einer Schachtel Pillen zum Abführen ist von Medizinen noch gar nichts vorgefallen, aber vier Dutzend Selterswasser und meinswegen ein Dutzend Magenbitter, wie Pfefferminzplätzchen und Morsellen scheint er viel zu brauchen – auch manchmal gebrannte Mandeln. So viel macht das ja auch nicht, und es ist mir nur um die spätere Kundschaft. Bei meinem Schwager stehen aber meinswegen hunderteinundachtzig Taler zweiundzwanzig Groschen und sieben Pfennig – auch meistenteils für so Kram -, und jetzt weiß ich nicht recht, wie man die Sache am besten anfinge.“
„Hunderteinundachtzig Taler ist freilich schon eine bedeutende Summe, aber haben Sie denn den Herrn von Schaller schon gefragt, ob er die Rechnung anerkennt und sich weigert, zu bezahlen?“
„Gott bewahre, noch nicht!“
„Nun, sehen Sie mal, es könnte ja doch möglich sein, dass er die Sache früher, in dem Gewirr des Umzuges, einfach vergessen hat.“
„Hm“, lächelte Herr Semmlein verlegen. „Ist mir eigentlich nicht recht wahrscheinlich, und ich habe bei den Herren Adeligen schon meinswegen ein ganz hübsches Sümmchen sitzen lassen, wobei ich ihrem Gedächtnis doch immer dann und wann zur Hilfe kam. Mein häusliches Kriegsministerium meinte übrigens auch, ich sollte doch erst einmal höflich anfragen.“
„Nun, versteht sich von selbst“, sagte der Notar. „Das ist doch das Einfachste und Natürlichste. Weigert er dann die Zahlung oder hält er den Termin, den er Ihnen vielleicht stellen könnte, nicht ein, nun gut, dann müssen wir uns vor allen Dingen von Ihrem Schwager eine Vollmacht kommen lassen, und wenn Sie es dann noch wollen, verfolgen wir den Rechtsweg.“
„Sehr schön“, nickte der Hofapotheker vor sich hin, „sehr schön, wenn ich nur erst meinswegen drüben gewesen wäre. Es ist eine verzweifelte Geschichte, und ich mahne überhaupt so ungern jemand. Nur meine Mietsleute. Wenn die nicht pünktlich zahlen, sitze ich ihnen wie ein Wetter auf dem Halse!“
„Haben Sie Not mit Ihren Mietsleuten?“ fragte der Notar. „Oben in den Dachstuben wohnen freilich einige ärmere Leute.“
„Nein, mit denen geht’s“, sagte Herr Semmlein. „Der Schuster lässt sich wohl meinswegen manchmal ein wenig drücken, ehe er die landesübliche Münze herausgibt, aber die kleine Näherin, die Peters, zahlt auf die Minute. Morgens um acht Uhr an jedem Ersten klingelt sie mit dem Glockenschlage und bringt ihre paar Groschen – nein, die Part in der zweiten Etage, der alte Kommerzienrat, zahlt auch pünktlich, und von meinem neuen Mietsmanne, dem Oberstleutnant, weiß ich’s noch nicht, aber die vor ihm darin wohnten, die adlige Familie, der konnte ich meinswegen das Logis einlaufen, ehe ich die Miete kriegte. Aber was kann’s helfen! Also werde ich wohl in den sauren Apfel beißen und Herrn von Schaller mahnen müssen.“
„Wenn ich für Sie hineinbeiße“, lächelte der Notar, „wird er noch saurer.“
„Da haben S i e wieder Recht!“ nickte Herr Semmlein, indem er sich vom Stuhl erhob. „Na, nichts für Ungut, Herr Nachbar, werde die Sache noch einmal mit meiner besseren Hälfte – hahaha! – bereden, und es wird nachher wohl so herauskommen. Sie haben doch hier meinswegen eine prachtvolle Aussicht“, setzte er hinzu, als er in das Eckfenster hineintrat und den Blick umherwarf. „Bei mir drüben können Sie die Kaffeekannen auf dem Tische sehen, und die ganze Nachbarschaft, und meinswegen auch die hübschen Mädchen da oben“, bemerkte er mit einem halbverschmitzten Seitenblick auf den Notar, wonach er dann wieder zu Klingenbruchs hinaufsah. Dort, an dem offenen Fenster, stand eben Henriette und beschäftigte sich mit einem Blumenstock.
„Allerliebstes Kind“, fuhr der Hofapotheker fort. „Auch sehr ordentliche Leute, sehr anständige Familie – die Kleine dort ist aber meinswegen ein Prachtstück. Der Teint, die Augen und das Haar – sehn Sie nur einmal, wie hübsch sie den Stock festbindet und wie graziös!“
Püster sah hinauf und bemerkte ebenfalls, dass sie den Blumenstock mit einem ziemlich breiten und roten Band befestigte, was man doch eigentlich sonst nicht zu diesem Zweck benutzt.
„Ja, ein recht nettes Mädchen, aber nur...“ nickte er.
„Wird einmal eine famose Partie“, fügte Herr Semmlein hinzu und stieß den Notar dabei, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog, mit seinem Ellbogen an.
„Meinen Sie?“ sagte Püster trocken.
„Wenn die Alte stirbt, die Mäusebrod“, flüsterte Herr Semmlein. „Heidenmäßig viel Geld, sage ich Ihnen, heidenmäßig viel Geld, Herr Notar, und die beiden Mädchen kriegen meinswegen alles, die Frau Oberstleutnant hat es schon meiner Frau erzählt.“
„Das wäre allerdings ein Glücksfall“, bemerkte der Notar. „Aber so viel ich weiß, ist jene Dame noch in den besten Jahren und kann vielleicht die jungen Damen, so jung sie auch sein mögen, überleben.“
Herr Semmlein sah sich vorsichtig im Zimmer um, als ob er einen Horcher befürchte, dann bog er sich zu dem Notar über und sagte leise: „Die nicht.“
„Die nicht?“ erwiderte Püster verwundert. „Und weshalb nicht?“
„Weil sie Opium nimmt“, versicherte der Apotheker. „Und alle Wochen zwei Flaschen Magenbitter braucht, und die Flaschen sind meinswegen ziemlich groß.“
„Opium?“ sagte kopfschüttelnd der Notar. „Unsinn – ohne ärztliches Rezept kann sie den ja gar nicht bekommen!“
Herr Semmlein zuckte mit den Achseln. „Einmal verschreibt ihr der Doktor etwas – denn vorgeschwatzt wird sie ihm genug haben, - und dann kann sie es sich auch meinswegen unter der Hand verschaffen; aber das sage ich Ihnen, Herr Notar, wer einmal richtig anfängt, Opium zu nehmen, der treibt es auch nicht mehr lange, und dann werden aus den jungen Backfischen da drüben meinswegen Goldfische. Doch ich muss wahrhaftig fort“, sagte er, und versuchte, sein kleines, inzwischen fast bis zur Größe eines Hühnereis zusammengedrehtes Käppchen wieder auseinander und in Form zu bringen. „Muss ja doch auch mit dem Ministerium meiner häuslichen Angelegenheiten die Rechnungssache in Ordnung bringen und überlegen – aber was ich Ihnen noch sagen wollte, Herr Nachbar, Sie kennen doch den Schreinermeister Handorf?“
„Gewiss“, erwiderte Püster. „Er arbeitet auch für mich und ist ein sehr braver und zuverlässiger Mann.“
„Sie wissen, dass er einen Sohn im Zuchthaus hatte?“
„Ja, allerdings, deshalb ging er auch immer so gedrückt einher, ich habe ihn eigentlich nie lachen sehen.“
„Der Sohn ist jetzt freigekommen und zurückgekehrt.“
„Lieber Gott, das wird auch ein schwerer Tag im Hause gewesen sein! Wenn man keine Kinder hat, bedauert man es manchmal, und wenn man sie hat, wie furchtbare Sorgen machen sie uns oft!“
„Der Junge hat noch als ganz junger Bursche einen Juden totgeschlagen und beraubt.“
„Ja, ich weiß es, er ist daraufhin verurteilt worden, aber er hat die Tat nie gestanden.“
„Soll er wohl nicht“, sagte Herr Semmlein. „Weil er wusste, dass er dann meinswegen gehenkt wurde. So ein junger Bösewicht – und die braven Eltern! Das ist auch ein angenehmer Zuwachs für Rhodenburg, und in dem letzten Monat haben wir außerdem drei Einbrüche gehabt.“
„Ich glaube nicht, dass wir etwas derartiges von dem jungen Handorf zu befürchten haben.“
„Wer weiß!“ sagte Herr Semmlein, sehr bedeutungsvoll mit den Achseln zuckend. „Wenn ich Stadtverordneter wäre, würde ich jedenfalls beantragen, ihn auf noch wenigstens zwei oder drei Jahre unter polizeiliche Aufsicht zu stellen.“
„Das ist ein gefährliches Experiment!“ sagte der Notar. „Und mag bei einem wirklich schlechten Menschen geboten erscheinen. Wer aber noch einen Funken von Ehrgefühl übrig behalten hat, den treiben sie dadurch vollkommen zur Verzweiflung. Man muss doch erst abwarten, wie er sich benimmt.“
„Die armen Eltern tun mir leid“, sagte Herr Semmlein. „Das sind so brave und durchaus rechtschaffene Leute – und jetzt den Jammer mit dem einzigen Sohn! Der Alte ging auch die ganzen Jahre wie vor den Kopf geschlagen herum. Ich bin nur neugierig, ob der Junge hier bleiben wird; wer soll ihn freilich in Arbeit nehmen – aber ich muss wahrhaftig nach Hause! Nein, wie die Zeit vergeht, da schlägt’s draußen schon meinswegen zwei Uhr! Also nichts für Ungut, Herr Nachbar – gesegnete Mahlzeit!“
Und damit verschwand der Hofapotheker wieder durch die Tür.
Püster trat ans Fenster und sah ihm nach, wie er über die Straße trippelte und drüben in die Apotheke fuhr, als seine Aufmerksamkeit durch einen lauten und wie zornigen Ausruf wieder dem Fenster seines Nachbars in der zweiten Etage links zugelenkt wurde. Er sah dort nur eben noch, wie der Direktor in seinem roten Schlafrock, die blaue Quaste seines Fez hinten ausfliegend, in der linken Hand die lange türkische Pfeife, in der Rechten jedoch den jetzt gezückten Dolche schwingend, ausrief: „Ha, so stirb, Verräter!“ Dabei sprang er aber in die Mitte der Stube hinein und entzog sich dadurch seinen Blicken.
Püster achtete aber nicht weiter auf ihn. „Rein verrückt!“ murmelte er nur leise vor sich hin und schritt dann, in tiefes Nachdenken versenkt, in seinem Zimmer auf und ab.