Читать книгу Keine Lust und trotzdem fit - Gert von Kunhardt - Страница 10
Mut zur Langsamkeit
ОглавлениеWeil ich der Kleinste und Schwächste in der Klasse war, wollte mich keiner in seiner Fuß-, Hand- oder Basketballmannschaft haben. So blieb ich oft als Reservemann auf der Seitenbank sitzen. Als ich dann im Abschlusszeugnis mit der schlechtesten Note der ganzen Klasse im Sport entlassen wurde, war dies keine günstige Voraussetzung, um lebenslang Sport zu treiben. Ich war, wie meine Frau übrigens auch, in diesem Sinne ein „Schulsportgeschädigter“. Ob das heute in der Schule wirklich besser gemacht wird?
Dann aber musste ich bei der Bundeswehr doch fast jeden Tag Sport treiben. Als auch dort körperlich Schwächster wurde ich bei den Wahlen zu Ballspielen wieder geflissentlich übersehen. Aber der Unteroffizier befahl mich einfach in irgendeine Mannschaft. Und so spielte ich recht und schlecht mit. Spaß hat es nicht gemacht. Es traute sich niemand, mich anzuspielen, weil ich so schnell den Ball verlor …
Ich schaffe auch dummerweise nicht die Bedingungen für das Deutsche Sportabzeichen. Es gelang mir einfach nicht, die geforderten 4,75 m weit zu springen. Das war aber die Voraussetzung für die Karriere. Ohne Sportabzeichen war an eine Beförderung nicht zu denken.
Dieser sportliche Misserfolg fand durch einen Zufall ein überraschendes Ende. Bei einem Waldlauf gelang es mir, einen fünf Meter breiten Bach mühelos zu überspringen, obwohl ich diese Weite vorher auf dem Sportplatz nicht geschafft hatte. Dass es gelang, hatte den einfachen Grund, dass ich mich beim Sprung nur auf die Landung im Trockenen auf dem anderen Ufer konzentriert und damit mir unbewusste Kräfte mobilisiert hatte. Ich konnte viel weiter springen als sonst. Ein echtes Aha-Erlebnis.
Das war der Beginn einer neuen Sichtweise. Ich bekam größeres Zutrauen und gewann Freude an sportlichen Übungen. Und es machte mir Mut, mich zu einem Training als Moderner Fünfkämpfer einladen zu lassen. Der Moderne Fünfkampf bestand damals aus den Disziplinen Reiten, Geländelaufen, Degenfechten, Kraulschwimmen und Duell-Pistolenschießen und wurde an vier aufeinanderfolgenden Tagen abgeleistet.13 Das 300-Meter-Kraulschwimmen war die für mich größte Schwierigkeit. Ich schaffe anfangs nämlich nur 25 Meter an einem Stück. Dann war die Luft raus, die Kraft weg. Alle noch so großen Anstrengungen waren vergeblich. Ich kam monatelang nicht weiter.
Aber dann hatte ich ein weiteres Schlüsselerlebnis im Urlaub mit Freunden am Montiggler See in Südtirol. Der See war mit 27 °C sehr warm. Er ist knapp 200 Meter breit. Wieder versuchte ich mich im Kraulschwimmen. Diesmal aber entspannt ohne jegliche Kraftanstrengung, gewissermaßen Hand über Hand, die Beine locker wie Flossen pendelnd, den Kopf im Wasser, nur zum Luftholen zur Seite drehend. So glitt ich langsam durch den See. Mit einem Mal stieß ich ans Ufer. Von jetzt auf gleich hatte ich die 200 Meter hintereinander „durchgekrault“. Das war nicht schnell, aber die Distanz geschafft. Der Knoten war geplatzt.
Sofort kraulte ich zurück und berichtete meinen Freunden begeistert von meinem Erfolg. Leider hatte es niemand gesehen. So ein Pech! Sie glaubten mir nicht, wie so oft in meinem Leben. So musste ich tatsächlich noch einmal hinüberschwimmen. Insgesamt habe ich die 200-Meter-Strecke also viermal hintereinander, sozusagen aus dem Stand, gekrault. Ein unerwarteter Leistungssprung. Der Knackpunkt: Ich war bewusst langsam und kraftlos gestartet.
Das Prinzip der subjektiven Unterforderung war geboren. Dadurch konnte sich mein Organismus leichter anpassen und seine Möglichkeiten im Wasser optimal entfalten. Wieder ein entscheidendes Aha-Erlebnis, und es hat mein ganzes Leben verändert. Ich erkannte nämlich, dass ich vielmehr leisten konnte, wenn ich das Gas wegnahm. Durch reinen Zufall wurde ich mir meiner wirklichen Möglichkeiten bewusst. Ich konnte viel mehr, als ich es mir bisher zugetraut hatte. Mein Mut zur Langsamkeit hat dazu geführt, dass ich größeres Selbstbewusstsein bekam, eifrig trainierte und schließlich in die Nationalmannschaft der Modernen Fünfkämpfer berufen wurde. Dort wurde ich sogar mit der Mannschaft Vizeweltmeister. Anscheinend nur eine Kleinigkeit, aber sie hatte gewaltige Auswirkungen. Durch diese Erkenntnis habe ich dann eine interessante Karriere begonnen. Fortan beobachtete ich natürlich auch die mir unterstellten Soldaten und konnte sie ganz anders fördern. Ich habe es schließlich bis zum Sportdezernenten der Bundeswehr gebracht.
Die Lehre: Die meisten Menschen wissen nicht, was sie wirklich können. Und wenn einer nur wenig leistet, wird er sich damit nicht auch noch in der Fitness-Szene zur Schau stellen. Wer will schon ein Versager sein? So kann keine Freude aufkommen, von Lust gar nicht zu sprechen.
Schlussfolgerung: Es macht Sinn, dir klar zu werden, was du kannst. Das erfordert nur deine Bereitschaft, Neues zu lernen und auszuprobieren. Das lohnt sich. Oft habe ich erstaunliche Erfahrungen gemacht. Meine Frau und ich fragen uns jeden Abend: Was haben wir heute Neues gelernt? Henry Ford wusste es: „Wer nicht mehr lernbereit ist, ist alt.“ So nicht!