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1 Annika
ОглавлениеSie hörte ein scharfes Klicken, erschrak, als er ihr die Hand auf den Mund legte. Der Junge drückte sie zu Boden, lag halb über ihr. Panik schoss in ihr hoch; sie meinte zu ersticken. Wieder erklang das Klicken, näher jetzt, der Boden vibrierte. Sie konnte spüren, dass der Junge zu seiner Waffe griff. Sie roch Erde, modriges Holz, den Körper des Jungen und noch etwas. Plötzlich war da ein strenger Geruch – wonach? Sie erstarrte. Es raschelte in den Blättern, ein Ast krachte, dann hörte sie, wie jemand – etwas? – schnaufend die Luft einsog. Eine weitere Welle der Angst flutete durch ihren Körper, lähmte sie. Tiefer drückte der Junge sie zu Boden, lag nun schützend über ihr. Wieder klickte es, dann folgte ein lautes Schaben. Der tote Baumstamm über ihr schwankte, Holzsplitter und Erde rieselten. Wieder das Schnaufen, danach ein hartes „Krak – Krak“, dann Stille. Angespannt verharrten sie so, lagen bewegungslos, wagten kaum zu atmen. Nach einer Zeit, die ihr ewig vorkam, raschelte es, knackten Zweige und Äste. Dumpf klangen Schritte und die Geräusche entfernten sich. Dann war wieder Stille.
„Komm!“, drängte der Junge, erhob sich. „Wir müssen hier weg!“
Das Mädchen unterdrückte einen Schauer, krabbelte aus der tiefen Mulde unter dem umgestürzten Baum. Der Junge hielt ihr die Hand hin, half ihr hoch. Sie sah sich um: Pflanzen waren niedergetreten, in der Borke waren drei Kerben zu sehen. Entsetzt blickte sie auf die tiefen Kratzer, stützte sich mit zitternden Knien am Holz ab.
„Komm!“, wiederholte der Junge. Schon hatte er sich abgewandt, setzte sich in Bewegung. Das Mädchen holte tief Luft und lief hinter ihm her. Leichtfüßig eilte der Junge durch den Wald. Bald keuchte sie, konnte nicht mehr Schritt halten. Er wartete, nahm dann ihre Hand. Weiter liefen sie, die ganze Zeit durch einen Wald, in dem unter hohen, mächtigen Bäumen dichtes Unterholz und Büsche wuchsen. Sie liefen am Ufer eines kleinen Baches entlang, platschten durch das Wasser, weiter und immer weiter. Schließlich hielt der Junge an. Schwer atmend blieb das Mädchen stehen, hielt sich die Seite. Über ihnen ragte ein uralter Baum auf, riesig, mit gewaltigem Stamm und Ästen, dicker als manch einer der Bäume umher.
„Da rauf!“, sagte der Junge, lehnte sich an die Rinde, faltete die Hände zur Räuberleiter. „Kommst du da hoch, wenn ich dir helfe?“
Das Mädchen nickte, trat in die gefalteten Hände und ließ sich hoch drücken. Sie zog sich auf den untersten Ast, klammerte sich an einen anderen. Nur wenig später tauchte der Junge auf, hatte den Baum mit Leichtigkeit erklommen. „Wir müssen noch ein Stück höher, hier kommt er noch an“, erklärte er und kletterte weiter hinauf, bis zu einem anderen starken Ast, der ebenfalls fast waagerecht aus dem Stamm ragte. Das Mädchen folgte ihm. „Wir bleiben hier“, bestimmte der Junge und ließ sich rittlings in der Astgabel nieder, den Rücken an den Stamm gelehnt, „Setz dich zu mir, ich halte dich. Wir müssen heute Nacht hier oben bleiben.“ Rot schien die Sonne durch die Blätter, tauchte das Laub um sie herum in feuriges Licht. Es wurde Abend.
Nach einem kurzen Zögern kletterte das Mädchen zu dem Jungen, lehnte sich an seine Brust. Ein wenig unsicher legte er seine Arme um ihren Körper. Jetzt erst, wo sie in Sicherheit waren, begann das Mädchen zu zittern. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. „Was war das?“, fragte sie mit bebender Stimme.
„Das war ein Großschnabel. Die fressen alles, was sie erwischen. Sie sind unsere Feinde. … Sie haben mächtig scharfe Augen und Ohren, aber zum Glück war der Baum da.“
„Ein was-Schnabel? … Das … das war ein Vogel?“, fragte sie ungläubig.
Der Junge nickte. „Großschnabel. Die sind echt riesig. Sie können nicht fliegen, aber sie laufen irre schnell. Springen können sie auch, aber nicht so hoch, wie wir jetzt sitzen. Sie sind echt gefährlich; sie fressen alles, was nicht schnell genug abhaut.“
Das Mädchen schluckte. Sie war froh, dass sie den Vogel nicht hatte sehen können, als der Junge sie plötzlich in das Versteck unter den Baum gedrängt hatte. Allein die Geräusche waren so schrecklich gewesen, dass sie beim Gedanken daran immer noch zitterte.
„Ah!“, schrie das Mädchen plötzlich, „Da! Was ist das? … Au!“ Voller Angst schlug sie um sich, traf mit dem Handrücken etwas Hartes.
„Au!“, rief nun auch der Junge. Er duckte sich, „Das war mein Kopf. Wedel nicht so rum.“ Dann lachte er leise: „Das sind doch nur Nachtfalter“, aber er scheuchte einen der großen grau-braunen Schmetterlinge weg, der auf dem Arm des Mädchens gelandet war.
Eine Weile schwiegen sie. Wieder schrie das Mädchen auf, streckte entsetzt die Hand aus. Etwas kleines Schwärzliches krabbelte über die Haut. Hektisch schüttelte sie das Insekt ab, schluchzte auf: „Was ist das hier alles?“
„Schsch“, der Junge zog das Mädchen an sich, versuchte etwas unbeholfen, Trost zu spenden. „Das ist bloß ein Borkenkäfer. Keine Angst, die Falter und die Käfer, die tun dir nichts.“
Doch das Mädchen war nicht beruhigt. In den Zweigen unter ihnen knackte es, dann raschelte es über ihren Köpfen. Plötzlich ertönte ein schriller Schrei nicht weit entfernt. „Was sind das für Geräusche? … Ich will hier weg! … Ich will hin wo … wo keine Tiere sind. … Ich will nach Hause!“
Wieder beruhigte sie der Junge. „Die Rufe – das ist die Harpyie. Die ruft ihre Nestlinge. Aber die ist weit weg; die tut dir auch nichts.“ Weitere Falter flogen taumelnd vorbei, verschwanden in der einbrechenden Dunkelheit. Das Mädchen sah ihnen schaudernd nach – sie flatterten lautlos dahin, waren so groß und unheimlich. Leise erklärte der Junge: „Hier oben sind wir in Sicherheit, da brauchst du keine Angst zu haben. Wirklich. Ich passe auf dich auf.“
‚In Sicherheit‘ – das Mädchen hätte lachen können, wenn ihr nicht zum Weinen zumute gewesen wäre. Sie wollte nach Hause, dorthin, wo es keine Falter und Käfer gab, die ihr Angst machten, dorthin, wo sie wirklich sicher war, die Tür hinter sich zumachen konnte. Trotzdem – irgendwie hatte sie tatsächlich nicht mehr ganz so viel Angst hier oben bei dem Jungen, der seine Arme um sie gelegt hatte. Sie schloss die Augen. Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann fragte das Mädchen mit einer Stimme, aus der immer noch ungläubiges Entsetzen klang: „Jonathan und Lilly sind tot, nicht wahr? … Wo sind die anderen?“
„Zwei sind abgehauen, sie haben nicht einmal nachgesehen, ob einer von euch noch lebt. Sie sind sofort weggerannt, dahin, wo sie gedacht haben, dass da ein Weg ist. Aber sie werden nie ankommen. Die Großschnäbel haben schon ihre Verfolgung aufgenommen.“
Das Mädchen schüttelte sich bei dem Gedanken. „Was ist mit Tim?“, fragte sie dann besorgt, „Er hat mir geholfen, aus dem Gleiter zu kommen. Aber er hat geblutet, so furchtbar geblutet.“
Der Junge legte seine Arme fester um sie. Dann erklärte er bedauernd: „Das ist der andere, der nicht in dem Ding war, ja? … Er ist auch tot. Er ist den Hang runtergefallen; das hat er nicht überlebt. Ich habe ihn gefunden, bevor ich dich gehört habe.“
Das Mädchen legte den Kopf an die Schulter des Jungen, weinte lautlos. Tränen liefen über ihre Wangen. Hilflos saß der Junge hinter ihr. Er wusste nicht, wie er sie trösten konnte.
Schließlich fragte er: „Hast du Durst?“ Schluchzend nickte das Mädchen und er holte eine Flasche aus seiner Tasche, reichte sie ihr. Das Wasser war lauwarm und etwas abgestanden, aber nach all der Aufregung schmeckte es köstlich. Langsam beruhigte sich das Mädchen wieder. Sie schwiegen, lauschten den Geräuschen des Waldes.
„Ich bin Greenleaf. Wie heißt du?“, stellte der Junge sich endlich vor.
Schniefend hielt das Mädchen inne. „Greenleaf?“, staunte sie, „Das ist aber ein merkwürdiger Name.“ Sie errötete, als sie sich ihrer Taktlosigkeit bewusst wurde. „Oh, … nein. Entschuldige, das … das war nicht nett. Ich meine … ich hätte das nicht sagen dürfen. … Ich heiße Annika.“
Der Junge lachte leise: „Den Namen finde ich merkwürdig. Aber er ist schön und er passt zu dir.“ Nun hielt auch er verlegen inne. Es wurde dunkel unter dem dichten Blätterdach.
„Du passt auf mich auf, ja?“, fragte Annika mit schläfriger Stimme. Sie fühlte sich schwindelig, ihr Kopf schmerzte. Sie rieb sich mit der Hand über das Gesicht, versuchte nachzudenken, aber sie war so müde. Auf einmal standen wieder die Bilder vom Absturz vor ihren Augen.
Sie alle hatten Angst bekommen, als der Gleiter, der sonst immer nur mit einem leisen Surren unmerklich hoch über der Landschaft flog, plötzlich laute Geräusche von sich gab. Schmidt, der vorn saß, stieß einen Fluch aus, drehte sich zum Armaturenbrett und drückte hektisch auf die Knöpfe; das konnten sie sehen, als sie alle aufgeregt nach vorn blickten. Nichts schien zu helfen; der Gleiter sackte ab – mit einem Mal waren die Baumkronen gar nicht mehr so tief unter ihnen. Ein schrilles Pfeifen ertönte, Lichter zuckten grell über den Monitor. Es roch nach verbranntem Gummi, dann sahen sie Rauch, schwarzen Rauch. Fluchend versuchte Schmidt, einen Notruf abzusetzen, aber aus dem Lautsprecher drang nur Knacken und Rauschen. Dann geriet der Gleiter ins Trudeln, kippte zu einer Seite. Lilly schrie. Sie hielten sich verzweifelt an ihren Sitzen fest, wurden dann aber doch durcheinander gewirbelt. Sie erinnerte sich, dass Bernhardt, der andere Begleiter, Blut im Gesicht gehabt hatte. Mit einem heulenden Geräusch stürzte der Gleiter schneller und immer schneller dem Wald entgegen. Sie brachen durch die Äste. Annika erinnerte sich an das laute Prasseln und Rauschen um sich herum. Alles verschmolz zu grünen Streifen, die rasend schnell an ihnen vorbeiwischten. Laut krachend knallte der Gleiter immer wieder mit heftigen Stößen irgendwo gegen, so dass sie durcheinander wirbelten, sich die Körper und Köpfe anstießen. Äste brachen und bremsten doch ihren Sturz. Dann prallten sie auf den Boden. Die gläserne Kuppel zerbarst in einem Regen von Glassplittern. Irgendjemand schrie, Jonathan wimmerte und überall war Blut. Sie, Annika, schlug mit dem Kopf gegen eine der Seitenstreben, verlor die Besinnung.
Sie wurde wieder wach, als Tim sich über sie beugte. Das Gesicht kreidebleich, Blut in den Haaren, zerrte er mühsam an dem Sitz, der aus seiner Verankerung gebrochen und auf sie gefallen war. Er war schwer und hielt sie wie eine Klammer fest. Ihr Kopf schmerzte so sehr; sie wäre am liebsten einfach liegen geblieben. Doch Tim forderte sie auf, zu treten und stoßen. Sie trat und wand sich und mit seiner Hilfe gelang es ihr, sich unter dem Sitz heraus zu befreien. Dann half Tim ihr, aus dem Gleiter zu klettern. Oh Himmel, ihr war so übel! Sie taumelte zu einem Busch, übergab sich heftig. Der Schmerz in ihrem Kopf hämmerte rasend. Sie sank auf die Knie, alles drehte sich. Es dauerte, bis sie sich wieder aufrichten konnte. Als sie zurück zum Gleiter kam, war Tim verschwunden. Lilly saß immer noch in ihrem Sitz, den Kopf merkwürdig verdreht, die Augen weit geöffnet. Sie war tot, ebenso wie Jonathan, der unter einer der Seitenstreben eingeklemmt lag. Auf dem Armaturenbrett war Blut, aber Schmidt und Bernhardt waren verschwunden. Annika rief und rief. Als keine Antwort kam, machte sie sich auf die Suche nach Tim.
Plötzlich teilten sich die Büsche und eine Gestalt trat heraus, ein Junge mit brauner Haut und lockigen Haaren, die ihm in die Stirn fielen. Er war ungewöhnlich gekleidet, trug ein ärmelloses Oberteil, kurze Hosen und geschnürte Schuhe. Er hatte eine Tasche und einen Köcher, in dem Pfeile steckten über dem Rücken, einen Bogen in der Hand. An seinem Gürtel sah sie ein langes Messer. Schnell überblickte er die Situation, entdeckte die beiden Toten. Er kam zu ihr, sah sie an und rief: „Komm, wir müssen hier weg!“ Dann packte er ihre Hand und zog sie mit sich.
Annikas Gedanken schweiften ab. Er hieß Greenleaf, hatte er gesagt. Er beschützte sie. Jetzt war sie in Sicherheit. Das Schwindelgefühl wurde stärker, Annikas Gedanken verschwammen und nur wenig später war sie eingeschlafen.
Greenleaf spürte, wie der Körper des Mädchens schwer gegen seinen sank – es war gut, dass sie jetzt schlief, dachte er. Sie war so blass – bestimmt tat ihr vom Absturz alles weh. Doch offensichtlich hatte sie keine schweren Verletzungen erlitten. Der Schlaf würde ihr helfen. Inzwischen war es dunkel, er konnte nichts sehen, aber er fühlte ihren warmen Körper. Sie zitterte jetzt nicht mehr. Unter seinen Händen fühlte Greenleaf Annikas Hemd. Ihre Kleider waren merkwürdig, so ganz anders, als er es gewohnt war. Es war wieder warm heute, trotzdem trug sie eine lange Hose aus einem glatten aber festen, hellen Gewebe. Jetzt war die Hose schmutzig, hatte am Knie einen Riss. Auch ihr Oberteil aus dünnem, weichem Stoff, ebenfalls hell, nur mit einem roten Rand an Hals, Bund und Ärmeln, war nun verschmutzt; der rechte Ärmel bis zum Ellbogen aufgerissen. Vorsichtig befühlte Greenleaf das Material. Nein, so einen zarten, weichen Stoff hatte er noch nie angefasst. Überhaupt war Annika ganz anders, als die Mädchen, die er kannte. Ihre Haut war blass, als wäre sie lange nicht in der Sonne gewesen. Ihre Haare waren hell, so hell wie die der Leute aus dem Norden. Annikas Kopf war gegen seinen Hals gesunken. Greenleaf konnte den Duft ihres Haares riechen; er war süß, zart, ebenso wie der Duft ihrer Haut. Alles an ihr war ungewohnt. Er dachte an Clover. Er hatte Clover schon in seinen Armen gehalten, aber sie war ganz anders. Es war erregend, dieses merkwürdige Mädchen im Arm zu halten und er war froh, dass sie schlief. Greenleaf lehnte seinen Kopf an den Stamm und dachte daran, wie er sie gefunden hatte.
Er war auf der Jagd als er plötzlich ein heulendes Geräusch oben über den Wipfeln der Bäume hörte, gefolgt von lautem Krachen und dem Splittern von Ästen. Schnell lief er dorthin, wo, was immer es auch war, auf den Boden gestürzt war. Er fand die Stelle sofort. Eine lange Schneise abgerissener Äste und zerborstener Stämme hatte ihm den Weg gezeigt. Über ihm, am Rand einer steilen Böschung lag eines dieser Fluggeräte, die er schon am Himmel gesehen hatte. Es war zerstört, Rauch stieg auf. Vor ihm, im Schlamm, lag ein Junge in seinem Blut, nicht älter als er selbst. Seine Augen waren weit geöffnet, doch sein Blick war leer – er war tot. Nicht weit entfernt waren Fußspuren; zwei Menschen waren vor Kurzem erst die Böschung herab geschlittert und dann am Ufer des Flusses entlang gerannt. Er fand auch bei ihren Spuren Blut; mindestens einer von ihnen war verletzt. Dann hörte er Rufe. Jemand war unvorsichtig, sehr unvorsichtig. Wie konnte man rufen, wenn die Großschnäbel in der Nähe waren! Schnell kletterte er die Böschung hoch, drängte sich durch die Büsche. Vor ihm lag das Fluggerät, offen wie eine Schüssel. In ihm lagen zwei Menschen, ein Junge und ein Mädchen, beide tot – das konnte er auf den ersten Blick sehen. Vor dem Gerät aber stand das Mädchen, das gerufen hatte – Annika. Sie war kreidebleich, hatte Angst. Schnell ergriff er ihre Hand, zog sie mit sich. Er konnte in der Ferne das krächzende Rufen der Großschnäbel hören. Sie hatten Beute gefunden, stritten sich jetzt darum. Bald würde der Unterlegene nach weiterer Beute Ausschau halten.
Greenleaf lauschte in die Dunkelheit. Sie waren sicher hier oben auf dem Baum. Über ihnen, ein ganzes Stück weiter oben, lag das Nest einer Harpyie. Doch der Vogel würde sie in Ruhe lassen, sie waren weit genug entfernt, waren keine Bedrohung für die Jungvögel, die ohnehin schon flügge sein mussten. Greenleaf legte seine Arme fester um Annika, sog noch einmal ihren Duft ein. Dann schlief auch er.
Der Morgen kam frisch und kühl. Annika öffnete die Augen, verwirrt. Wo war sie? Wieso war sie nicht in ihrem Bett? Sie schloss die Augen wieder. Träumte sie immer noch? Was für ein verstörender, schrecklicher Traum! Nein, sie war wach: Ihre Beine lagen auf irgendetwas Hartem, Rauem. Sie gähnte, wollte sich umdrehen, doch da spürte sie eine Bewegung hinter sich. Eine warme Hand berührte ihre Schulter. Erschrocken riss sie die Augen erneut auf, sah Blätter vor sich hellgrün im Sonnenlicht leuchten.
„Guten Morgen“, sagte eine leise Stimme. Annika fuhr herum und blickte in das lächelnde Gesicht des Jungen. Mit einem Mal fiel ihr alles wieder ein: Der Absturz des Gleiters, Greenleaf, der sie gefunden hatte, die Flucht vor dem Großschnabel.
„Es ist wahr … ich habe das nicht geträumt“, sagte Annika nachdenklich. Ihre Augen wurden traurig. „Ich hatte so gehofft, dass es nicht wahr ist – ich meine, Jonathan und Lilly und Tim.“
Greenleaf wusste nicht, was er sagen sollte. So drückte er nur kurz die Schulter des Mädchens und schwang sein Bein über den Ast. „Äh, wir müssen weiter“, erklärte er und glitt auf einen tiefer gelegenen Ast hinab. Annika fuhr sich mit der Hand über das Gesicht als wollte sie die traurigen Gedanken verscheuchen, gähnte noch einmal und folgte dann langsamer. Bevor der Junge vom Baum sprang, blickte er sich aufmerksam um. Dann nickte er. Bald standen sie auf dem Waldboden.
„Deine Haare glitzern“, stellte Greenleaf fest, runzelte die Stirn. Das Mädchen sah ihn verwirrt an. „Siehst du?“ Vorsichtig hatte der Junge etwas von Annikas Kopf, dann ihrer Schulter gepickt, streckte ihr nun seine Handfläche mit den glitzernden Teilchen hin.
„Glassplitter … Die sind vom Gleiter. Die Kuppel ist kaputt gegangen“, jetzt erinnerte Annika sich an das Flimmern der Splitter, das Letzte, was sie nach dem Aufprall wahrgenommen hatte. Sie wischte über ihren Arm, blickte zufällig auf ihr Handgelenk. Wo war ihre Uhr? Schon wollte sie den Jungen bitten, mit ihr zum Gleiter zurück zu gehen, doch der Gedanke daran, ihre toten Freunde dort zu finden, machte ihr Angst und sie sagte nichts.
„Hier, trink noch mal. Wir haben einen langen Weg vor uns.“ Greenleaf reichte dem Mädchen die Flasche.
„Trinkst du nichts?“
„Mach ruhig leer, ich bin nicht durstig. Ich trinke nachher, wenn wir an einen Bach kommen“, erklärte der Junge und wartete bis Annika ihm die leere Flasche zurück gab. Sie stockte: Bach? Was hatte der Bach mit Trinkwasser zu tun? Doch sie hatte keine Zeit zu überlegen. Der Junge steckte die Flasche in die Tasche, drängte dann: „Lass uns besser gehen.“
„Au!“, das Mädchen schlug sich auf die Wange. „Au! Was ist das? Da beißt mich was!“, wieder schlug sie zu, erschrocken.
„Das sind Mücken“, erklärte Greenleaf, „Komm, wir müssen los.“
„Au, was machen die hier? Warum beißen die mich!“, beklagte sich Annika, schlug sich auf Arme und Beine. Ihre Augen weiteten sich. „Ih, sieh mal, da ist Blut. … Ist das mein Blut?“, fragte sie mit schriller Stimme.
„Komm, kümmer dich einfach nicht darum, dann hört das bald auf. Die Mücken … die pieken, aber daran gewöhnst du dich, glaub mir. Mach Spucke drauf, dann ist das nicht so schlimm. … Ich spüre sie gar nicht mehr.“ Annika schüttelte sich bei dem Gedanken, auf ihre juckenden Arme zu spucken. Das war doch unappetitlich.
„Komm, lass uns gehen“, befahl Greenleaf, „wenn du stehen bleibst haben die Mücken es viel leichter, dich zu stechen. Außerdem müssen wir weiter.“ Prüfend blickte er sich um, setzte sich dann in Bewegung; das Mädchen folgte. Anders als am Vortag mussten sie nicht rennen, hatten es nicht so eilig. Dennoch ging Greenleaf schnell, eigentlich zu schnell für Annika. Sie hatte den Eindruck, dass ihr Führer zielstrebig einer Richtung folgte. Während sie neben ihm her lief, sah sie sich immer wieder um. Alles um sie herum war in grünes Licht getaucht, das durch die Blätter strömte. So weit ihr Auge reichte sah sie Bäume und Blätter in vielen verschiedenen Größen, Formen und Grüntönen. Rundum erhoben sich die schlanken Stämme hoch aus dem braunen Waldboden, bis alles in der Ferne zu einer grünen Wand verschmolz. Immer wieder huschten Schatten durch das Dämmerlicht, verschwanden im Unterholz, bevor das Mädchen erkennen konnte, was sich dort bewegte. Beunruhigt blickte sie auf Greenleaf, doch der Junge folgte gelassen einem Weg, den nur er sah. Der Wald war voller Tiere, beruhigte er das Mädchen, aber sie brauchte keine Angst zu haben, solange er bei ihr war. Hier waren im Moment weder Großschnäbel noch die ebenfalls gefährlichen Waldkatzen in der Nähe. Alle anderen Tiere würden ihnen nichts tun. Annika hielt sich trotzdem vorsichtshalber dicht an seiner Seite.
An etlichen Stellen gab es Lücken im dichten Blätterdach. Dort wuchsen junge Bäume, Sträucher, buschige Farne und Stauden empor, dicht an dicht. Annika hatte noch nie so viele verschiedene Pflanzen gesehen, so viele verschiedene Formen. Alles reckte sich dem gleißenden Licht entgegen, kämpfte gegen die anderen Pflanzen und versuchte, sie zu verdrängen. Flimmernde Pünktchen schwebten und tanzten in den Sonnenstrahlen. Das Mädchen blieb staunend stehen, hätte gerne gewusst, was die schimmernden Punkte waren. Als sie fragen wollte, stellte sie erschrocken fest, dass Greenleaf weiter gegangen war. Stattdessen fand sie sich plötzlich Auge in Auge mit einem großen Vogel mit einem riesigen Schnabel, der auf einem Ast vor ihr landete. Erschrocken schrie sie auf, rannte zu dem Jungen, der einige Schritte entfernt angehalten hatte.
Nur wenig später breitete ein mächtiger Baum seine dicht belaubten Äste weit aus. Hier gab es keine Büsche, nur Schatten, die unter der mächtigen Krone dunkel, fast schwarz erschienen. Lauerte da nicht ein Tier zwischen den Wurzeln? Funkelten nicht Augen? Annika war sich nicht sicher. Sie blickte auf den Jungen. Greenleaf beobachtete aufmerksam seine Umgebung, hielt jedoch nicht an.
Moosbedeckte, schräg liegende Baumstämme und Wurzeln bildeten Hindernisse auf ihrem Weg. Die kleineren übersprang Greenleaf mit Leichtigkeit. Annika schaffte das nicht. Sie musste hinüberklettern, sich abstützen. Danach wischte sie panisch weiche Holzkrumen, Flechten und anderes von ihren Fingern; einmal einen glitschigen Pilz, in den sie gefasst hatte und der nun zwischen ihren Fingern klebte. Manche Stämme waren zu dick zum Überspringen. Der Junge kletterte hinauf, reichte Annika die Hand und zog sie hoch. Er sprang hinunter; Annika folgte langsamer.
Dann wieder mussten sie sich unter tief herab hängenden Ästen ducken, die ihnen den Weg versperrten. Mit einem Mal hielt Annika entsetzt an. „Da! Sieh nur, der Ast bewegt sich!“, schrie sie auf und zeigte aufgeregt nach vorn.
Greenleaf blickte in die Richtung, die das Mädchen zeigte und lächelte: „Das ist kein Ast, das ist eine Erdnatter.“
„Was ist das?“
„Eine Schlange.“
„Was? Aber die sieht aus wie ein Ast.“
„Das ist, weil sie braun ist. Da ist ihr Kopf, siehst du die Zunge?“
„Ist die gefährlich? Bitte, lass uns weitergehen. Die sieht unheimlich aus.“
„Nein, die nicht.“ Mit der Hand schob Greenleaf das Reptil zur Seite, das schnell zwischen den Blättern verschwand. „Das ist nur eine Erdnatter. Aber wenn du eine grüne Baumschlange siehst, musst du aufpassen, die greift sofort an und die ist giftig.“ Der Junge ging weiter, merkte nicht, dass er Annika mit seiner Erklärung Angst gemacht hatte. Wie konnte Greenleaf sich so sorglos in einer Welt bewegen, in der es von unheimlichen und gefährlichen Tieren nur so wimmelte, dachte das Mädchen.
Lange waren sie nun schon unterwegs. Anfangs war Annika noch fasziniert gewesen, hatte über diese seltsame Welt gestaunt und auch, wenn ihr der Wald Furcht einflößte, hatte sie sich doch alles neugierig angesehen. Alles war so fremd hier, so ganz anders als Zuhause. Inzwischen aber taten ihr die Füße weh, auch wenn der Waldboden von einem dichten weichen Teppich aus braunen Blättern, Moosen und Pflanzen bedeckt war. Ihre Schuhe aus seidigem Stoff waren nicht für lange Fußmärsche geeignet. Durch die dünnen Sohlen spürte sie jede Wurzel, jeden Stein. Sie wurde müde, war sie es doch nicht gewohnt, so lange zu laufen. Zunächst hatte sie es kaum gespürt, doch langsam kamen die Kopfschmerzen zurück, wurden ihre Beine schwer. Greenleaf aber schien keine Müdigkeit zu kennen. Leichtfüßig lief er über den federnden Boden. Sollte sie ihn um eine Pause bitten?
Ein Sonnenstrahl tastete sich durch das Laub. Eine Blume in seinem Lichtkegel zog Annikas Blick auf sich. Für einen Augenblick vergaß sie ihre Müdigkeit und die Schmerzen. Tiefrot öffnete sich eine große Blüte, strömte einen intensiven, süßlichen Geruch aus. Einige Insekten summten um sie herum. Neugierig trat Annika näher, schreckte zurück, als ein Falter mit zwei schwarz-blauen, Augen ähnelnden Flecken auf seinen Flügeln in ihre Richtung kam. Dann blickte sie staunend auf die Blätter der Blume, die sich handgroß in alle Richtungen ausstreckten. Sie waren mit feinen Härchen besetzt, an deren Spitzen kleine glänzende Tropfen hingen. Annika machte einen Schritt auf die Pflanze zu, streckte die Finger aus.
„Nicht!“, rief Greenleaf scharf und sprang auf sie zu, „fass sie nicht an!“ Erschrocken zog das Mädchen die Hand zurück. „Das ist eine Feuernessel – die ist gefährlich. Die Tropfen verbrennen deine Haut, wenn du sie berührst. Das tut höllisch weh und dauert ewig, bis es wieder heilt. Sieh …“, der Junge zeigte auf eines der Blätter. Eine große Libelle, die eben mit einem Tropfen in Berührung gekommen war, zuckte mit den Flügeln, um dann nur Augenblicke später reglos liegen zu bleiben. Der Boden unter der Pflanze war mit den Überresten von Insekten übersät; Annika sah sogar einen toten Vogel, der fast alle seiner Federn verloren hatte. Schaudernd wandte sie sich ab.
Sie gingen weiter. Ein schrilles Pfeifen erklang dicht über ihnen. Das Mädchen zuckte zusammen, ergriff Greenleafs Arm. „Was war das?“, fragte sie ängstlich.
„Ein Häher“, beruhigte der Junge. Immer wieder raschelte es in den Büschen, knackten Zweige, waren Schritte zu hören. Ein Reptil mit grün-braun gemusterter Haut und langem Schwanz verschwand mit merkwürdigen Bewegungen hinter den hohen Stängeln einer Pflanze. Erschrocken sah Annika dem Tier nach – es sah gefährlich aus. Einmal sah sie ein Stück entfernt ein Tier zwischen den Büschen stehen. Es hob seinen Kopf, Annika sah große Augen und Ohren und zwei kurze Hörner. Als es die beiden Wanderer sah, legte es die Ohren zurück und verschwand hastig zwischen den Bäumen.
Plötzlich blieb Greenleaf stehen, drehte sich besorgt um und runzelte die Stirn. Ein grummelndes Geräusch erklang. Einen Moment horchte der Junge, dann musste er grinsen. Annika hielt sich den Bauch. „War das dein Magen?“ Verlegen nickte das Mädchen. Sie hatte schrecklichen Hunger, hatte sie doch seit dem gestrigen Morgen nichts mehr gegessen. „Damit kannst du jedes Tier verjagen. … Wir sind gleich am Bach, da machen wir eine Pause“, erklärte Greenleaf, nun wieder ernst, „Dann kannst du was trinken und ich suche uns was zu essen. … Ich habe auch Hunger.“
Der Boden senkte sich und bald gingen sie über hellgrünes Moos und durch langes Gras an einem Tümpel entlang. Reglos lag sein schwarzes Wasser. Annika schlug sich auf den Arm, dann auf die Schulter. „Au, schon wieder. Sind die denn immer da, die … die Stechdinger?“, fragte sie hysterisch. Eine ganze Weile hatte es keine Mücken mehr gegeben, aber über dem Tümpel schwebten sie in einer dichten Wolke, stürzten sich auf die Menschen. War das der Bach, fragte sich das Mädchen. Hier wollte sie nicht rasten; die Mücken würden sie auffressen, hier konnte sie nicht bleiben.
„Die Mücken? Ja, sicher, überall wo Wasser steht. … Kratz nicht, das macht das nur noch schlimmer. Ich hab doch schon gesagt, nimm Spucke“, empfahl Greenleaf, als das Mädchen einen juckenden Mückenstich an ihrem Arm aufkratzte.
Bald waren sie aus der Senke heraus und die Mücken blieben zurück. Wieder ragten hohe Bäume über ihnen auf. Sie hatten den Tümpel noch nicht lange hinter sich gelassen, als Annika leise klagte: „Ich kann nicht mehr.“ Greenleaf blickte sie an. Ihr Gesicht war kreidebleich.
„Nur noch ganz wenig, da vorn ist schon der Bach, da kannst du dich hinsetzen. … Komm, gib mir deine Hand.“ Bald musste er das Mädchen stützen. Annika taumelte. Ihr Kopf schmerzte rasend und die Mückenstiche, die überall auf ihrer Haut dicke Quaddeln hinterlassen hatten, juckten unerträglich. Nach kurzer Zeit erreichten sie einen kleinen Wasserlauf, der klar über Steine und Wurzeln sprudelte. Als Greenleaf Annikas Arm losließ, sank das Mädchen sofort zu Boden. Mit geschlossenen Augen blieb sie liegen. Der Junge hockte sich neben sie, betrachtete voller Sorge das kalkweiße Gesicht. Dann erhob er sich, ging zum Bach und füllte die Flasche. Er beugte sich über Annika. „Hier, trink. Dann geht es dir gleich besser.“ Durstig trank sie. Noch einmal holte Greenleaf Wasser, dann fühlte Annika sich wieder etwas munterer und sie war in der Lage, selbst zum Bach zu gehen. Unsicher wartete sie, bis Greenleaf sie aufforderte: „Trink!“ Sie wollte fragen, etwas sagen, doch sie war so erschöpft und deshalb gehorchte sie einfach. Nachdem sie getrunken hatte, hielt sie ihre Hände in das kühle Wasser. Wie gut das tat – schon schmerzten die Mückenstiche kaum noch. Sie spritzte sich Wasser in das Gesicht, kühlte ihren Arm. Plötzlich blickte sie auf. Greenleaf hatte seinen Bogen genommen, wandte sich zum Gehen. „Wo willst du hin? Lass mich nicht allein, bitte!“, flehte Annika.
„Ich bin gleich wieder da. Ich hole uns nur was zu essen. … Wirklich“, fuhr der Junge fort, als er den angstvollen Blick des Mädchens sah, „hier wächst nichts in der Nähe und ich bin gleich wieder zurück.“
Annika sah ihn weiter an, Panik in den Augen. „Geh nicht weg, ich habe Angst.“
„Das brauchst du nicht, ehrlich. … Na gut, pass auf: Nimm das hier, dann kannst du dich wehren“, erklärte der Junge schließlich, löste das Jagdmesser von seinem Gürtel und gab es dem Mädchen. Zögernd nahm sie die Waffe in die Hand. Was sollte sie damit machen? Wie sollte sie sich damit denn verteidigen? Greenleaf verschwand im dichten Gebüsch. Beunruhigt kroch Annika zu einem Baum, lehnte sich mit dem Rücken an seinen Stamm, den Messergriff vorsichtig mit beiden Händen umfassend. Sie fuhr herum, stieß gegen einen Zweig, schlug sich selbst fast die Klinge aus der Hand – war da nicht eben etwas vom Baum herab gekrabbelt? Sie ließ das Messer fallen; zu ihrem Glück fiel es ins Moos. Hektisch wischte sie sich mit den Händen über Schultern und Rücken. Nein, da war nichts. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis die Erschöpfung sie zwang, sich wieder gegen den Stamm zu lehnen. Ein Zweig knackte; Annika zuckte zusammen. Abwehrend hob sie das Messer, die Arme gestreckt. Doch niemand zeigte sich und bald lehnte sie den Kopf an das Holz, schloss die Augen. Ihr war schwindelig. Direkt über ihr erklang ein Zwitschern. Annika öffnete die Augen und sah einen kleinen Vogel mit blau-grauen Flügeln und roter Brust, der mit ausgebreiteten Schwingen zum Bach flog, sich auf einen Stein setzte und trank. Das Mädchen lächelte. Es sah so niedlich aus, wie er auf dem Stein herum hüpfte, sich zum Wasser beugte und dann zum Schlucken den Kopf in den Nacken nahm. Doch plötzlich flog der Vogel wieder auf, strich mit schnellem Flügelschlag über den Bach an das andere Ufer und verschwand im Farn. Erschrocken drehte Annika sich um, das Messer gehoben, doch es war nur Greenleaf, der einige Wurzeln und Kräuter in der Hand hielt. „Gib mal besser wieder her, sonst verletzt du dich noch selbst“, der Junge nahm Annika das Messer ab, schälte die Wurzeln und spülte sie im Bach ab. Dann gab er dem Mädchen eine. „Hier, iss. Die sind lecker und machen satt.“
Misstrauisch hielt Annika die Wurzel in der Hand. Sie konnte doch nicht etwas essen, das einfach so von einer Pflanze kam. Was, wenn da Keime dran waren? Aber sie war so hungrig, so schrecklich hungrig. Einen Moment zögerte das Mädchen noch, doch dann biss sie gierig hinein. Sie hatte ja auch von dem Wasser aus dem Bach getrunken. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht davon krank werden würde. Spürte sie nicht schon Magenkrämpfe? Fühlte sich ihre Stirn nicht schon fiebrig an? Ängstlich lauschte sie in ihren Körper, aber sie fühlte nur die Erschöpfung, die schmerzenden Beine vom Laufen. Außerdem, ohne Trinken und Essen würde sie schließlich nicht weit kommen, dachte sie vernünftig.
Auch Greenleaf hielt eine Wurzel in der Hand. Plötzlich hielt er inne und hob den Kopf. Mit einer raschen Bewegung erhob er sich, das Messer in der Hand. Doch dann lächelte er, senkte die Waffe wieder. Die Büsche teilten sich und mit einer grüßenden Handbewegung trat ein Mädchen heraus. Annika blickte verblüfft von Greenleaf auf das Mädchen. So eine Ähnlichkeit hatte sie noch nie gesehen. Nicht nur, dass beide gleich gekleidet waren in kurzen Hosen und den ärmellosen Oberteilen, sie hatten das gleiche schmale Gesicht mit den braunen Augen und kurzen, gelockten Haaren. Selbst die Waffen waren gleich: Beide hatten einen Bogen und ein langes Messer dabei. Das Mädchen stutzte, als es Annika sah, blickte fragend auf Greenleaf.
„Das ist Annika – einer von den Fliegern ist am Fluss abgestürzt“, erklärte der Junge.
Das andere Mädchen hatte Annika inzwischen genau betrachtet. Nun lachte sie: „Hei, ich bin Clearwater. Wie hat Greenleaf dich denn gefunden? … Du siehst aus, als hättest du ganz schön was durchgemacht. Hat er gut auf dich aufgepasst?“
Annika errötete. „Hallo. … Ihr seid Geschwister, nicht wahr?“, fragte sie.
„Zwillinge“, erklärte Greenleaf, wandte sich dann seiner Schwester zu: „Hast du noch was zu essen? Ich hatte noch keine Zeit zu jagen, der Großschnabel war hinter uns her.“
Bestätigend klopfte Clearwater auf ihren Beutel, setzte sich zu den beiden und zog ein kräftiges dunkles Brot aus der Tasche. Annika hatte noch nie so dunkles Brot gegessen, doch sie fand seinen nussigen Geschmack köstlich und zusammen mit den Wurzeln genossen alle drei eine gute Mahlzeit.
Die Zwillinge schwiegen beim Essen und auch Annika war trotz ihrer Neugier nicht nach Reden zumute. Hungrig aß sie von dem leckeren Brot. Dazu trank sie Wasser aus der Flasche, die Greenleaf aufgefüllt hatte. Bald war sie satt und mit einem Mal fühlte sie sich entsetzlich müde. Was war mit ihr los? War ihr das Essen doch nicht bekommen? Sie wollte wach bleiben, wollte den beiden so viele Fragen stellen, doch in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie sank auf den Boden, ihre Augen schlossen sich. Noch einmal öffnete sie sie als Clearwater fragte: „Was machen wir mit ihr?“
„Ich weiß nicht, wir können sie ja nicht allein lassen. Das Beste ist, wir …“, das Ende der Antwort hörte sie nicht mehr; sie war eingeschlafen.
Clearwater beugte sich über Annika und betrachtete sie genau. „Hm, … sie kommt aus der Stadt. Sind die alle so bleich?“
„Ich glaube schon. Obwohl, die anderen waren tot.“
„Ist sie verletzt?“
Greenleaf errötete, grinste aber: „Ich konnte sie ja schlecht untersuchen, nicht wahr, aber es sieht nicht so aus. Ich glaube, sie hat sicher eine Gehirnerschütterung – sie ist ziemlich langsam … oder die aus der Stadt sind Bewegung nicht gewohnt. Sie ist echt schlecht zu Fuß.“ Während Clearwater vorsichtig Annikas Kopf betastete und bestätigend nickte, als sie eine Beule fühlte, erzählte Greenleaf, wie er das Mädchen gefunden hatte. Sie mussten sich weiter um Annika kümmern. Der Junge hatte den Eindruck, dass sie noch nie einen Wald gesehen hatte; alles schien sie zu erschrecken – die Pflanzen, die Tiere.
„Außerdem hat sie sich den Kopf angehauen“, ergänzte Clearwater, „Da kommt sie nicht bis zum nächsten Bach. Ja, wir nehmen sie mit. … Du zuerst?“ Der Junge nickte, rollte sich auf dem Boden zusammen und schlief sofort ein, während seine Schwester Wache hielt.
Es war dunkel als Annika erwachte. Ein Stück entfernt brannte ein helles Feuer und beleuchtete Greenleaf, der eben Holz nachlegte. Clearwater hielt einen Spieß, an dem Fleisch über der Glut brutzelte. Es roch nach Gebratenem. „Zur rechten Zeit!“, rief das Mädchen, „Der Braten ist fertig. Komm, setz dich und iss.“
„Ausgeschlafen? Du siehst besser aus. Magst du …?“, fragte Greenleaf. Ohne die Antwort abzuwarten, schnitt er ein Stück Fleisch ab und gab es Annika. Während sie aßen erklärte er: „Wir nehmen dich mit zu unserem Dorf. Es ist ein bisschen weg, aber du kannst ja nicht hier im Wald bleiben.“
„Könnt ihr mich nicht nach Hause bringen?“, fragte Annika leise.
Clearwater schüttelte den Kopf. „Weißt du, wie weit das weg ist? Es dauert Wochen, bis wir die Stadt erreichen. Das schaffst du nie mit deiner Gehirnerschütterung. Das Beste ist, du kommst mit zu uns und wenn du wieder in Ordnung bist, bringen wir dich nach Hause.“
„Wo liegt euer Dorf?“
„Wenn wir beide laufen, einen Tag entfernt. Aber du bist ja nicht so schnell und kannst nicht so viel laufen, darum werden es zwei Tage sein“, erklärte Greenleaf gelassen. Annika errötete, doch sie wusste, dass der Junge Recht hatte. Selbst jetzt, nach dem Schlaf, schmerzten ihre Beine noch von der vielen Bewegung.
„Vorsicht!“, rief Clearwater plötzlich. Annika hatte sich vorgebeugt, um sich ein weiteres Stück Fleisch zu nehmen, dabei hing ihr aufgerissener Ärmel gefährlich dicht über den Flammen, fing der herabhängende Zipfel an zu glimmen. Erschrocken riss das Mädchen den Arm zurück, klopfte die Glut ab. Sie betrachtete den Schaden: Ein schwarzer Fleck, mehr war nicht passiert, doch es roch schwach nach verbranntem Kunststoff.
„Offenes Feuer bist du aber nicht gewohnt“, stellte Greenleaf fest.
Clearwater fragte neugierig: „Warum trägst du Ärmel und lange Hosen? Sind die nicht zu warm?“
„Nein, und der Gleiter ist auch klimatisiert. Deshalb ist es angenehmer, sich bei den Reisen warm genug anzuziehen.“ Die Geschwister blickten sie verständnislos an und Annika überlegte, wie sie ihnen erklären sollte, dass die Klimaanlage ständig für einen leichten Luftzug in den Gleitern sorgte. Sie erinnerte sich, dass sie einmal in einem ungewöhnlich heißen Sommer mit hochgekrempelten Ärmeln auf Reisen gegangen war. Im Gleiter hatte sie richtig gefroren. Für einen Moment dachte sie wieder an den letzten Flug, daran, wie sie lachend darüber gestritten hatten, wie sie sitzen wollten. Schließlich hatte sich Jonathan neben Lilly gesetzt und Tim hatte neben ihr Platz genommen. Die Kuppel hatte sich geschlossen und dann war der Gleiter in den blauen Morgenhimmel gestartet. Tim hatte eine alberne Geschichte erzählt. Sie hatte über ihn gelacht … und jetzt waren alle tot. Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich meine, es ist immer kühl in den Gleitern. Deshalb“, erklärte sie.
Annika blickte sich um. Das Feuer erhellte die Gesichter der Geschwister; außerhalb seines Scheines aber herrschte schwarze Nacht. Es war still, nur das Holz im Feuer knackte von Zeit zu Zeit. „Wie spät ist es?“, fragte sie.
„Bald Mitternacht. Du hast ganz schön lange geschlafen“, erklärte Clearwater.
So lange? Annika staunte. Plötzlich fiel ihr etwas ein, das sie die ganze Zeit schon beschäftigte. „Wieso seid ihr hier? Ich meine, wieso seid ihr hier im Wald? Wir sind alle immer in der Stadt. Wir haben alles in der Stadt, alle Häuser und so. Die Arbeiter gehen morgens zu den Hallen. Aber auch die kommen am Abend nach Hause. Niemand ist nachts noch draußen.“ Wieder blickten die beiden das Mädchen verständnislos an. „Ihr habt gesagt, ihr wollt mich mit in euer Dorf nehmen. Arbeitet ihr denn nicht dort?“
Jetzt hatten die Geschwister verstanden. „Wir sind Jäger“, erklärte Clearwater.
Nun war es an Annika, verständnislos zu blicken. „Was ist das, Jäger?“, fragte sie. Sie hatte das Wort schon einmal gelesen, da war sie sich sicher. Doch im Moment wusste sie nicht, was es bedeutete.
„Wir jagen.“
„Na“, erklärte Greenleaf, „das bedeutet, wir gehen in den Wald, passen auf, dass nichts dem Dorf zu nahe kommt, also nichts Gefährliches, und wir jagen Tiere, schießen sie. Deshalb haben wir den Bogen dabei. Damit schießen wir sie, verstehst du? Wo kriegt ihr das Fleisch her, das ihr esst?“
„Ihr tötet Tiere? Aber … aber, ist das nicht … wi- … ähm, unangenehm und … hm … blutig?“ Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass im Schlachthof Tiere getötet, dann aufgeschnitten und zerteilt wurden. So, wie der Vater es beschrieben hatte, hatte es ziemlich eklig geklungen und Annika hatte eine Zeit lang kein Fleisch mehr gegessen.
„Natürlich ist das blutig“, bestätigte Greenleaf, „und wenn du das Tier ausnimmst auch … na ja, nicht wirklich angenehm. Aber einer muss es ja machen. Nur, die Tiere dürfen dir nicht leid tun, sonst schaffst du es nicht, sie zu schießen, verstehst du? Aber wo willst du denn sonst Fleisch her kriegen? Wo kriegt ihr das her?“
„Aus den Hallen. Wir haben hinter der Stadt große Hallen. In denen sind die Tiere. Daneben sind die Fabriken.“ Annika blickte in die Dunkelheit. Sie sah die Stadt vor sich:
Wenn man aus dem Hangar, von dem aus die Gleiter starteten, nach Norden flog, konnte man unter sich auf einer gewaltigen Fläche riesige Hallen sehen. In weitläufigen Gewächshäusern wuchsen Obst und Gemüse, andere Hallen beherbergten die Viehställe. Durch die klaren Dächer konnte man die Tiere in ihren Pferchen sehen. An die Hallen schlossen sich die Fabriken an, in denen das Gemüse gereinigt, das Vieh geschlachtet und alles verzehrfertig verarbeitet wurde. Zuhause mussten sie nur bestellen, was sie essen wollten und es wurde ihnen schon fertig zubereitet und gekocht geliefert.
„Ist es nicht gefährlich zu jagen?“, wollte sie wissen.
„Klar, ist es. Wenn du einen Hirsch geschossen hast und es ist ein Großschnabel in der Nähe, musst du schon ziemlich Glück haben, damit du ihn ins Dorf kriegst. Wenn du Pech hast, jagt der dich auch noch“, erklärte Clearwater leichthin und Greenleaf ergänzte: „Aber es ist … aufregend wenn du jagst. Es ist wie ein Zweikampf, nur du und das Tier. Du siehst die Fährte und folgst dem Tier, aber es ist vorsichtig und flieht oder versteckt sich, oder geht durchs Wasser. Und du musst seine Fährte wieder finden und dann folgst du ihm, manchmal lange Zeit. Und dann geht es darum, wer besser ist, wenn du es gefunden hast. Du schleichst dich an und du musst aufpassen, dass es dich nicht sieht oder hört oder riecht, denn sonst läuft es weg. Oder greift an. Nur wenn du gut bist, schaffst du es, dann schießt du es.“ Der Junge hielt inne, fuhr dann leiser fort: „Es ist aufregend, aber niemand tötet nur so zum Spaß, verstehst du? Wir brauchen das Fleisch. … Hinterher bedankst du dich, dass es sein Leben gegeben hat, damit dein Dorf zu essen hat. Und dann kommt der schwere Teil der Arbeit; du musst es ja auch zum Dorf bringen. Und wie Clearwater schon gesagt hat, manchmal, wenn Großschnäbel oder Waldkatzen in der Nähe sind, dann ist das nicht einfach. Die wollen dir dann die Beute abjagen. … Du musst richtig gut sein!“
„Du musst immer aufpassen, denn sonst wirst du die Beute. Die Großschnäbel und die Waldkatzen greifen uns an und töten uns, wenn wir nicht aufpassen. Aber wir sind gute Jäger“, sagte das Mädchen stolz, „Wir sind die besten Jäger im Dorf!“
„Aber das ist ja schrecklich! Habt ihr gar keine Angst?“
Die Geschwister sahen sich an, ihre Augen funkelten. „Nein, schon lange nicht mehr“, rief Clearwater.
„Na ja, man gewöhnt sich ja an die Gefahr. Darum ist es mehr so: Man darf sich nicht von der Angst lähmen lassen“, entgegnete Greenleaf, „aber wer keine Angst hat, ist ein Narr, denn der wird unvorsichtig.“
„Pah!“, warf Clearwater ein und knuffte ihren Bruder, gab dann aber zu: „Ja, schon, aber es ist mehr Vorsicht als Angst.“
„Na gut, dann sag eben Vorsicht. … Wir sind vorsichtig, wir schützen uns gegenseitig. Wir jagen schon langezusammen.“
Annika rieb sich die Augen, Clearwater gähnte. „Sieh …“, fing Greenleaf wieder an, doch seine Schwester unterbrach ihn:
„Wir sollten besser schlafen – morgen haben wir einen langen Weg vor uns. … Ich zuerst.“ Der Junge nickte, legte ein weiteres Stück Holz auf das Feuer und während die Mädchen sich zum Schlafen legten, hielt er die erste Wache.
Sie liefen weiter, schon seit dem Morgen, hatten Annika zwischen sich genommen. Manchmal konnte das Mädchen sehen, wie ungeduldig Clearwater vorandrängte und sie gab sich Mühe, Schritt zu halten. Dennoch mussten die Geschwister immer wieder ihr Tempo verlangsamen, um sie nicht zu verlieren. Es war gegen Mittag. Plötzlich verharrten beide, Clearwater und Greenleaf, die Blicke auf einige Sträucher zu ihrer Rechten gerichtet. „Lauf“, flüsterte der Junge, nahm Annikas Hand und alle drei rannten los. Hinter ihnen knackten Äste. Sie rannten ohne sich umzusehen, weiter und weiter. Vor einem Baum blieben sie stehen. Flink schwang sich Clearwater auf den untersten Ast, reichte Annika die Hand und zog sie hoch. Greenleaf folgte so geschmeidig wie seine Schwester. Das Knacken und Krachen wurde lauter; sie hörten dumpfe Schritte auf dem Waldboden.
Sie kletterten höher. „Hierher“, befahl der Junge und zog Annika zu sich, während Clearwater sich auf einen Ast über ihnen setzte.
„Krak – krak“, klang es von unten herauf und Annika blickte hinab. Sie erschrak: direkt unter ihnen standen zwei Vögel, sicher über zwei Meter groß, mit langen kräftigen Laufbeinen und einem Kopf, der nur aus dem gewaltigen, scharfen Hakenschnabel zu bestehen schien. Einer hielt einen Augenblick inne, legte den Kopf schräg und blickte aus kalten gelben Augen zu ihnen hinauf. Angriffslustig richtete sich die Federhaube an seinem Hinterkopf auf, dann gab er klickende Laute von sich. Annika schrie auf, als der andere Vogel mit den Stummelflügeln flatterte, hoch sprang und versuchte sie zu erwischen.
„Keine Angst, hier kommen sie nicht hoch. Die können nicht fliegen“, beruhigte Clearwater, „Aber es wird eine Weile dauern, bis sie aufgeben.“ Sie setzte sich bequem hin, lehnte den Rücken an den Stamm. Auch Greenleaf hatte sich gemütlich in eine Astgabel gesetzt. Gestern war es Annika ganz natürlich vorgekommen, sich zu ihm zu setzen und in den Arm nehmen zu lassen, doch heute scheute sie sich davor. Sie schüttelte die Angst ab, herunter zu fallen, die sie einen Moment befiel, und kletterte auf einen anderen Ast, lehnte sich ebenfalls gegen den Stamm. Eine Weile schwiegen sie, blickten von Zeit zu Zeit hinab auf die Großschnäbel, die unter dem Baum hin und her liefen und immer wieder nach oben blickten. Annika schüttelte sich. Die Vögel sahen so schrecklich aus, mit den riesigen Schnäbeln und den grausamen Augen.
„Die sind zäh, die geben nicht schnell auf“, erklärte Clearwater, als einer der Großschnäbel wieder einmal erfolglos hochsprang und dann drohend mit dem Schnabel klickte. „Erzähl was von dir“, forderte sie Annika auf.
„Was soll ich denn erzählen? Ich bin 17 …“
„He, wir auch“, warf Greenleaf ein.
„Sei still, lass sie erzählen“, wies seine Schwester ihn zurecht.
Das Mädchen fuhr fort: „Also, ich bin 17. Ich habe eine Schwester – die ist 13; sie wird bald 14. Ich wohne mit meinen Eltern in der Stadt. Mein Vater leitet die Abteilung Genetische Forschung und angewandte Genetik im Institut für Genetik, Biologie, Chemie und Forschung. Wir wohnen im Außenbezirk in der Nähe der Institute. Da haben wir ein Haus direkt an der Stadtmauer. Und wir haben einen Garten. Das hat nicht jeder bei uns. Wir haben sogar einen richtigen Baum da drin, eine Magnolie. Ja, und ich, ich bin im Institut für Lehre, Wissenschaft und Stadtentwicklung. Das ist unsere Schule – Schule und Universität. Da lernen wir Naturwissenschaften und ihre Anwendung, aber auch was mit der Organisation einer Stadt zu tun hat und so. Das ist wichtig. Seht, unsere Städte wachsen jetzt inzwischen wieder. Es gibt langsam mehr Menschen und die müssen ja alle satt werden. Darum bin ich auf der Schule, denn irgendwann müssen wir neue Nahrungsquellen erschließen. In der Stadt wird der Platz eng, vielleicht müssen wir eines Tages sogar erforschen, wie man außerhalb der Stadt überleben kann, ohne schwer krank zu werden.“
Beim letzten Satz hoben die Zwillinge die Köpfe. „Wieso krank werden?“, fragte Clearwater.
„Überall lauern doch Krankheitskeime. Na, niemand verlässt die Stadt, weil doch jeder weiß, dass man draußen krank wird. Und auch von den Sachen, die es draußen gibt. Die sind alle voller Keime und Bakterien. Es sind sogar schon Leute gestorben, mehrere. Man darf nicht einfach essen, was man in der Natur so findet, das ist gefährlich. Es muss doch aufbereitet werden. Deswegen bauen wir alles, was wir essen, in den Hallen an. Alles was man isst, wird aufbereitet und sterilisiert und wir achten streng auf Hygiene, sonst werden die Leute krank und sterben.“
„Wieso? Das verstehe ich nicht. Was meinst du damit? … Meinst du das, was wir essen? Bei uns wird doch niemand krank und stirbt, bloß weil er was isst. Du hast doch auch das Brot und die Wurzeln gegessen und Wasser getrunken … Und, fühlst du dich krank?“ Greenleaf schüttelte verständnislos den Kopf. Sie hatten schon gehört, dass die Stadtbewohner seltsam waren und ihre Stadt nicht verließen, aber dass es so schlimm war, dass sie nichts essen mochten, was aus dem Wald kam, war mehr als befremdlich. Er wollte schon eine weitere Bemerkung machen, schwieg dann lieber. Annika sah tatsächlich krank aus, von den Mückenstichen angeschwollen und mit blassem Gesicht. Doch das sollte er ihr besser nicht sagen, solange sie nicht im Dorf waren. Auch Clearwater schüttelte den Kopf. Annika sah es zum Glück nicht; sie blickte besorgt auf die Vögel, die immer noch unter dem Baum umher liefen. Eine Weile hingen alle ihren Gedanken nach, während unten ein Großschnabel zornig krächzte.
„Wenn ihr immer in der Stadt bleibt, wieso warst du in dem Flieger?“, fragte Greenleaf.
„Gleiter, der heißt Gleiter. Wir bleiben nicht immer nur in unserer Stadt. Wir tauschen ja Waren und Technik und Informationen mit anderen Städten. Das ist wichtig. … Ich war in Rom. Wir müssen während unserer Schulzeit mindestens dreimal für ein Semester an ein anderes Institut und die sind eben in anderen Städten. So lernen wir andere Leute kennen, lernen voneinander und können später Handelsverbindungen aufbauen und so.“
„Was ist das, Semester und Institut?“, wollte Greenleaf wissen.
„Ein Semester, das ist immer ein halbes Jahr. Lernen und Arbeiten für zukünftige Führungskräfte. Das gibt es an allen Instituten. Unsere Schule ist das Institut für Lehre, Wissenschaft und Stadtentwicklung – aber auch das Gebäude – und die Gebäude, wo die Wissenschaftler und Ingenieure arbeiten, also forschen und so. Wir lernen, wie es bei den anderen gemacht wird und welche Entwicklungen es gibt. Wir lernen das, was wir brauchen, um später wichtige Positionen in der Stadtverwaltung oder in den Instituten zu bekommen. Und wir tauschen uns aus. Wir werden später Verantwortung für die Menschen in den Städten haben. Ich war schon in Amsterdam – das liegt am Meer und in Warschau – das liegt im Osten. Jetzt … jetzt bin ich gerade aus Rom gekommen“, wieder wurde sie traurig, als sie an ihre Freunde dachte. Sie schluckte, wischte sich die Tränen ab, die über ihre Wangen liefen und fuhr fort: „Es war so schön da, weil ich mit Tim und Lilly schon so lange befreundet bin. Und Jonathan ist mit uns gekommen; der wollte bei uns weiter lernen – wir waren Freunde und jetzt sind sie alle tot.“
„Was ist mit deiner Schwester?“, versuchte Clearwater, Annika abzulenken.
„Sina? Die geht zur gleichen Schule wie ich – natürlich. Wir lernen da bis wir 20 sind, dann wird entschieden, was wir werden und wo wir arbeiten. Also, wir haben dann massenhaft Tests und Gespräche mit den Professoren der Institute über unsere Vorstellung und unsere Eignung. Meist wird uns dann vorgeschlagen, in welche Richtung wir gehen sollen. … Hm, aber wir dürfen natürlich selbst auch vorschlagen, wo wir gerne arbeiten wollen, also in der Verwaltung oder der Nahrungskontrolle oder der Energiewirtschaft oder auch der Zukunftsforschung. … Wie lange geht ihr bei euch zur Schule?“
„Bis 14. Wir lernen lesen, schreiben, Mathematik und über unsere Geschichte und dann natürlich Wetterkunde, Pflanzenkunde und Tierkunde und Waffenherstellung und Werkzeugbau und Ackerbau und so. Und dann haben wir ein Jahr Zeit, uns auf die Prüfung vorzubereiten“, erklärte Clearwater.
„Welche Prüfung?“
„Wir gehen in den Wald und kommen erst wieder ins Dorf, wenn wir einen Großschnabel oder eine Waldkatze getötet haben. Wir müssen beweisen, dass wir erfolgreiche Jäger sind, dann haben wir die Prüfung bestanden. Dann sind wir 15“, sagte Greenleaf.
„Aber das ist ja entsetzlich!“, rief Annika, „Dabei könnt ihr doch getötet werden – oder nicht?“
„Ja sicher“, bestätigte der Junge, „aber das gehört eben dazu. Wenn du es überlebst, kannst du richtig gut werden. Nein, dann bist du gut. Dann bist du ein Jäger! … Na gut, aber ganz ehrlich, nicht jeder schafft die Prüfung. Ich meine, alle müssen es versuchen, sonst weißt du ja nicht, ob du das Zeug zu einem Jäger hast. Aber nicht jeder hat die Fähigkeiten, viele kommen ohne zurück. Nicht jeder kann das – jagen, meine ich. Richtig gut jagen, um zu überleben. Wer das nicht schafft, geht nach dem Jahr zurück und hat sich damit seiner Prüfung gestellt. Er arbeitet dann eben im Dorf. Das ist so; das tun die meisten. Niemand wird deswegen schlecht angesehen. Er kann dann Pflanzen anbauen oder Boote bauen oder Werkzeug – oder Heiler werden. Wir haben genug zu tun bei uns.“
„Aber warum müsst ihr denn Jäger haben?“ Annika konnte nicht verstehen, weshalb sich jemand freiwillig einer so gefährlichen Aufgabe stellen musste. Jetzt, nachdem sie die Großschnäbel gesehen hatte, hatte sie eine Vorstellung davon, welche Mutprobe die Jugendlichen hier mit fünfzehn Jahren vollbringen mussten.
„Jemand muss doch Jäger werden“, forderte Clearwater Verständnis. „Siehst du, wir bauen natürlich Getreide an und Gemüse und wir sammeln Pflanzen im Wald, aber wir müssen auch jagen, weil wir das Fleisch brauchen, damit alle im Dorf satt werden. Und außerdem müssen wir uns verteidigen können, wenn die Großschnäbel angreifen, sonst kann ja niemand in den Wald gehen, auch nicht, um Kräuter zu suchen. Wir Jäger beschützen das Dorf.“
„Also seid ihr so was, wie bei uns die Wachen?“
„Was für Wachen?“
„Wir haben in der Stadt Wachen, die aufpassen, dass niemand ohne Erlaubnis die Stadt betritt und nichts rein geschleppt wird, was gefährlich werden kann.“
„Ja, vermutlich so ein bisschen“, bestätigte Clearwater, „Wachen haben wir ja auch. Aber wir sind noch mehr.“
„Wir gehen dann in den Wald, allein“, beschrieb Greenleaf die Prüfung, „Wir jagen und bauen uns einen Unterschlupf für ein Jahr und all so was. Alles allein, ohne Hilfe. Und dann, wenn wir gelernt haben, im Wald zu überleben, dann suchen wir die Fährte von einem einzelnen Großschnabel oder einer Waldkatze. Und dann folgen wir ihm so lange, bis wir ihn töten können. Wenn wir das gemacht haben, sind wir erwachsen und können hingehen wo wir wollen. … Wir sind die jüngsten Jäger gewesen, die die Prüfung abgelegt haben: Clearwater hat einen Großschnabel getötet und ich eine Waldkatze als wir noch nicht 15 waren. Aber wir sind nicht zusammen gegangen, damals. Jetzt gehen wir meist zusammen, weil wir dann absolut erfolgreich sind. Keiner war bisher so erfolgreich wie wir. Weißt du, es gibt nur noch zwei Jäger außer uns im Dorf, aber Greystone ist schon zu alt; deshalb können wir auch nicht weggehen; wir müssen unser Dorf beschützen. In der Trockenzeit bilden die Großschnäbel oft große Rudel, mindestens 20 Stück oder noch mehr und manchmal greifen sie dann das Dorf an. Wir verjagen sie dann. Außerdem müssen wir die Heilerinnen beschützen, wenn sie Kräuter sammeln. Und natürlich jagen wir zwischendurch auch, damit wir Fleisch haben.“
Clearwater sah Annikas Blick. „Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Es macht total Spaß, wenn du feststellst, dass du allein im Wald überleben kannst. Du bist so … frei. Na gut, manchmal gibt es natürlich auch Verletzte …“
„Ja, Dandelion hat es nicht überlebt, aber der war auch ein schlechter Schütze. Na ja, und Moon kann nicht mehr jagen, weil die … was ist?“, Greenleaf, der nachdenklich seine Schwester angesehen hatte, unterbrach sich, als sie den Kopf schüttelte.
„Du machst ihr Angst.“
„Ich? Wieso? Ich habe doch nichts …“, beschwerte sich der Junge, doch Clearwater zeigte auf Annika, die entsetzt zuhörte.
„Doch! … Sieh doch. Also hör auf. … Natürlich sind auch schon Leute nicht von der Prüfung zurück gekommen, weil die Großschnäbel sie getötet haben, wie Dandelion, aber deshalb kann ja auch jeder abbrechen und auf die Prüfung verzichten. Wer sie macht, weiß, was passieren kann. Ehrlich. Niemand wird gezwungen. Und außerdem übst du ja vorher dafür. Erst wenn du im Wald sicher bist, jagst du die großen Räuber. … Sieh, wenn du einen von ihnen getötet hast, dann nimmst du dir eine Kralle oder einen Zahn oder die Schnabelspitze vom Großschnabel. Das ist das Zeichen, dass du ein Jäger bist. Nur die dürfen Krallen und Zähne als Kennzeichen tragen.“ Das Mädchen zog eine Lederschnur aus dem Hemd, an dem die große, polierte Kralle eines der Laufvögel hing, sowie einige glänzende Glasperlen und zwei Federn. „Daran kannst du uns Jäger erkennen“, erklärte sie stolz.
„Die Großschnäbel sind weg“, rief Greenleaf und zeigte nach unten, „Wir können weiter.“
Bald waren sie wieder unterwegs. An einem Bach füllten sie ihre Flaschen auf, aßen den letzten Rest Brot. Dann gingen sie weiter. Es dauerte nicht lange und Annika taten wieder die Füße weh, doch sie sagte nichts, bemühte sich, Schritt zu halten. Die beruhigende Anwesenheit der Zwillinge, die schweigend neben ihr liefen, half ihr, nicht in Panik auszubrechen, wenn die Bäume so dicht standen, dass die Schatten darunter schwarz und bedrohlich waren, Insekten sich in dichten Schwärmen auf sie stürzten oder sie plötzlich aus dem Geäst von einem Tier angestarrt wurde.
Greenleaf hob die Hand und sie blieben stehen. Bevor Annika noch erkennen konnte, weshalb sie anhielten, hatte der Junge schon in einer schnellen Bewegung sein Messer gezogen und es ansatzlos geworfen. „Gut!“, lobte Clearwater, nahm einen Stock und hob den zuckenden Körper einer grünen Baumschlange auf, die ihr Bruder soeben mit dem Messerwurf getötet hatte. Das Mädchen schnitt den Kopf ab und steckte den Körper ein. „Die kann man essen, die schmeckt gut.“ Annika schüttelte sich, blickte dann ebenso fasziniert wie erschreckt auf den Kopf, sah die geschlitzten Pupillen, die langen gebogenen Fangzähne und die gespaltene Zunge, die nun schlaff auf den Boden hing.
„Vor denen musst du dich in Acht nehmen“, warnte Clearwater und fuhr fort: „Hör auf zu kratzen. Sonst entzünden sie sich. Mach Spucke drauf, dann juckt es nicht so.“
Annika nickte. „Das hat Greenleaf auch schon gesagt.“
„Was?“
„Beides“, erklärte Annika. Alle lachten. Mit gerümpfter Nase spuckte das Mädchen auf den aufgekratzten Mückenstich auf ihrem Handrücken. Bevor sie feststellen konnte, ob das Mittel wirklich wirkte, hatten die Zwillinge sich wieder in Bewegung gesetzt. Unermüdlich folgten die Geschwister einem Bachlauf; Annika trottete hinterher. Es wurde Abend. Als die Sonne hinter den Bäumen verschwand und das Laub noch einmal tiefrot und orange aufleuchten ließ, hielten sie auf einer Wiese am Ufer des Baches an. Völlig erschöpft ließ Annika sich ins Gras fallen, schloss einen Moment die Augen.
„Du oder ich?“, fragte Greenleaf.
„In Ordnung, du. Morgen geh ich dann – wir müssen ja noch was mitbringen“, erklärte Clearwater. Während Greenleaf hinter den Bäumen verschwand, suchte seine Schwester am Waldrand trockene Äste. Mitten in der Wiese, ein ganzes Stück von den Bäumen entfernt, errichtete sie dann einen niedrigen Schutzwall und entzündete ein Feuer.
Annika sah ihr einen Moment zu, dann fragte sie: „Kann ich zum Wasser gehen?“
„Ja sicher. Wieso?“
„Wegen der Tiere …“
„Oh, du meinst, ob das gefährlich ist?“ Annika nickte. „Bleib auf dieser Seite, dann kann ich dich sehen.“ Clearwater begleitete sie ein Stück, wanderte dann suchend auf der Wiese umher, fand einige Pilze, die ihre Köpfe aus dem Gras reckten, und schnitt sie ab. In der Zwischenzeit humpelte Annika langsam zum Bach, setzte sich an sein Ufer und zog die Schuhe aus. Schließlich streckte sie ihre schmerzenden Füße in das kühle Nass. Wie gut das tat! Eine ganze Weile saß sie so, ließ das klare Wasser durch die Zehen strömen und blickte, zunächst erschreckt, auf einige vorwitzige kleine Fische, die sich ihren Füßen näherten. Sie würden ihr doch hoffentlich nichts tun. Beunruhigt bewegte sie ihre Füße – der Schwarm stob davon, kehrte aber bald wieder. Jetzt hielt das Mädchen still. Die Fischlein berührten ihre Haut nur ganz sanft mit ihren kleinen Mäulern, hatten keine bösen Absichten. Annika genoss die Erfrischung. Danach beobachtete sie erstaunt einen Schwarm bunter Vögel, die lärmend in der Krone eines Baumes ihr Nachtlager suchten. Schließlich beugte sie sich vor, steckte auch ihre Hände ins Wasser und wusch ihr erhitztes Gesicht. Jetzt fühlte sie sich wohler. Mit einem Seufzer sah sie sich um. Clearwater war zum Feuer zurück gekehrt, legte einige Äste auf – Funken stoben. Erschreckt stellte Annika fest, dass die Welt um sie herum grau wurde. Alle Formen verschmolzen miteinander – die Dämmerung brach herein. Vom Bach zogen Nebel auf, legten sich wie Schleier über das Gras. Bald würde sie das Feuer nicht mehr sehen können! Schnell stand Annika auf, zog ihre Schuhe an und lief zu Clearwater zurück.
Der Mond stieg bereits über den Bäumen auf und warf sein bleiches Licht auf die Wiese, auf der der Nebel zu schwimmen schien, als Greenleaf zurück kam, ein Reh über der Schulter. Entsetzt und angewidert wandte Annika sich ab, als der Junge das Tier häutete und in Stücke schnitt. Allein vom Blutgeruch wurde ihr übel. Sie versuchte, sich abzulenken, an etwas Schönes zu denken. Nur woran? Hier gab es nur Angst und Schmerzen und wenn sie an Zuhause dachte, wurde sie traurig. Im Mondlicht flogen schwarze Schatten pfeilschnell über das Gras, wirbelten die Nebel auf – Fledermäuse, wie Clearwater ihr erklärte. Sie jagten Insekten, waren ungefährlich. Greenleaf spießte das Fleisch auf einen Stock, hielt es über das Feuer. Jetzt erst blickte Annika wieder zu ihm hin. Clearwater hatte derweil die Pilze auf einem großen Blatt aufgehäuft und die Wasserflaschen aufgefüllt.
„Wir müssen aufpassen: Ich habe Spuren gesehen – wir haben eine Waldkatze in der Nähe“, erzählte Greenleaf und nahm sich mit der freien Hand einen Pilz. Wie zur Bestätigung hörten sie ein tiefes Brüllen nicht weit entfernt.
Erschrocken fragte Annika: „Sollten wir dann nicht lieber auf einen Baum gehen?“
„Das nützt nichts, die Waldkatze kann auch klettern. Aber sie hat Angst vor Feuer. Solange wir das Feuer haben, kommt sie nicht her.“
„Wir lassen das Feuer die ganze Nacht brennen und außerdem hält einer von uns Wache. Wir sehen sie, wenn sie kommt“, beruhigte Clearwater. Die Geschwister hatten ihre Bögen griffbereit liegen.
„Aber wenn es mehrere sind, wie bei den Vögeln?“
Greenleaf drehte konzentriert den Spieß. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg ihnen in die Nasen. Bald würden sie essen können. „Waldkatzen sind Einzelgänger“, erklärte der Junge. Er hielt den Stock etwas höher, blickte kritisch auf die Fleischstücke, von denen zischend Saft in die Glut tropfte. Nach einer Weile nahm er den Spieß, zog vorsichtig ein Stück Fleisch herunter, pustete auf seine Finger und biss dann herzhaft hinein. „Fertig. Nehmt euch auch was“, nuschelte er mit vollem Mund. Clearwater ließ es sich nicht zweimal sagen und biss genüsslich in das Fleisch, doch Annika zögerte. Sie überlegte: Brot und Wurzel waren ihr bisher ganz gut bekommen, doch das hier war anders; es war von einem lebenden Tier. Die meisten Tiere waren voller Keime, hatte sie gelernt. Auf der anderen Seite hatte sie großen Hunger. Dann erinnerte sie sich – sie hatte ja schon Fleisch gegessen, gestern. Deshalb nahm sie sich schließlich auch ein Stück und fing an zu essen. Hungrig wie sie war, schmeckte es köstlich.
Wieder erklang das Gebrüll, näher diesmal. Annika rückte dichter an Greenleaf heran. Sie schlang die Arme um ihren Körper; es wurde kühl. „Die Wiesen sind immer feucht nachts“, bestätigte Clearwater bedauernd, „Aber die Waldkatzen greifen gerne vom Baum aus an oder aus der Deckung und hier sehen wir sie besser, wenn sie sich anschleicht. Komm, wir legen uns an den Wall, da ist es ein bisschen geschützter.“ Während sich die beiden Mädchen am Feuer zusammen rollten, stand Greenleaf auf, den Bogen in der Hand. Das letzte, das Annika sah, bevor sie einschlief, war die stille Gestalt des Jungen, der, von silbernem Mondlicht übergossen, aufmerksam über die Wiese blickte.
Der Gleiter war in einem Baum gelandet. „Da wären wir“, sagte jemand, „Es ist gar nichts passiert“. Annika wollte gerade sagen, dass das nicht stimmen konnte, doch da drehte Bernhardt sich um. Sie erstarrte vor Entsetzen: Sein Kopf war der eines Großschnabels. Er fauchte. Verzweifelt versuchte Annika, aus ihrem Sitz zu kommen, doch sie musste erst ihre Schuhe anziehen, vorher durfte sie nicht aufstehen. Plötzlich streckte eine Pflanze ihre glänzenden Blätter aus. Tim griff nach ihnen. Er lachte wie verrückt und sagte: „Sieh mal, sie klebt“. Dann löste er sich vor Annikas entsetzten Augen auf; nur noch die Knochen blieben übrig. Bernhardt brüllte, weil Tim nicht mehr da war. Annika wollte sich die Ohren zuhalten, doch sie musste erst ihre Schuhe finden. Jetzt war Bernhardt aufgestanden, kam auf sie zu, öffnete den Schnabel. Sie schrie. Bernhardt beugte sich über sie, packte sie an der Schulter. Nein!
„He, es ist nur ein Traum!“, sagte eine ruhige Stimme. Annika schlug die Augen auf, wehrte sich gegen die Hand. „Schsch, ruhig, ich bin’s“, Greenleaf hockte neben ihr, hatte ihre Schulter gefasst. Ein Stück entfernt stand Clearwater, den Bogen in der Hand. Der Mond war untergegangen, der Himmel wandelte sich von schwarz zu grau. Bald würde die Sonne aufgehen.
„Ist alles gut jetzt?“, der Junge musste die Frage wiederholen, bevor Annika richtig zu sich kam. „Wenn wir ohnehin schon alle wach sind“, meinte er schließlich gähnend, „können wir auch aufbrechen.“ Er stand auf, streckte sich und rannte dann durch die taunasse Wiese zum Bach. Prustend kam er zurück, schüttelte Tropfen aus seinen Haaren. Er wandte sich an seine Schwester: „Hat sich was getan?“
„Wie du gesagt hast, sie ist ein paar Mal im weiten Bogen um uns herum geschlichen, aber das Feuer hat sie auf Abstand gehalten. Jetzt ist sie weg, aber sie wird wiederkommen, sobald wir weg sind. Sie riecht das Blut.“
„Dann lass uns essen und losgehen“, drängte Greenleaf. Schnell hatten sie die letzten Reste des kalten Fleisches verspeist, die Flaschen am Bach gefüllt und tauchten wieder in den Wald ein. Bevor sie unter die Bäume traten, warf Annika einen Blick zurück auf die Wiese. Sie meinte einen Schatten zu sehen, der auf ihr Nachtlager zu glitt, doch die Nebel hoben sich nur langsam und sie war sich nicht sicher.