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2 Im Dorf

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Wieder liefen sie durch den Wald. Der Boden wurde uneben, einige Male ging es leicht bergan und Annika fühlte Seitenstechen, konnte nur noch langsam gehen. Stets warteten die Zwillinge auf sie oder Greenleaf reichte ihr die Hand und zog sie mit sich. Dann wieder ging es den sanften Hügel hinunter und Annika stolperte hinab, musste aufpassen, nicht zu fallen, so schnell wurden ihre Beine. Mittags machten sie eine kurze Pause auf einer kleinen Anhöhe. In der Ferne, zwischen den Bäumen, konnte Annika Wasser glitzern sehen. Clearwater bestätigte ihr, dass dort ein Fluss strömte. Greenleaf brachte einige Wurzeln und dickfleischige Blätter, die sie aßen. Dann brachen sie wieder auf. Mit leisem Bedauern erhob sich Annika. Wie immer war die Rast viel zu kurz gewesen, um ihre schmerzenden Füße auszuruhen.

Sie waren kaum unterwegs, da wandte sich Clearwater plötzlich zur Seite, rief: „Bis nachher. Ich erwarte euch im Dorf“, und lief leichtfüßig davon.

„Wir sind ja aufgebrochen, um zu jagen. Wir hatten uns getrennt, weil wir die Spuren von einem Rudel gesehen haben. Aber dann habe ich dich gefunden und wir konnten nicht jagen. Deshalb geht Clearwater jetzt los. … Keine Sorge, wir sind bald am Dorf. Es ist nicht mehr weit“, erklärte Greenleaf und ging mit Annika auf den Fluss zu. Das Unterholz wurde dichter, bald hörten sie ein Rauschen und schließlich lag er vor ihnen. Das Mädchen staunte, wie breit der Strom war. Wenn sie in den Gleitern von einer Stadt zur anderen flogen, sahen die Wälder tief unter ihnen wie ein grüner Teppich aus, der von dünnen, silberblauen Linien durchzogen war. Erst hier am Boden konnte sie erkennen, wie viel Wasser so ein Fluss führte. Greenleaf führte das Mädchen ans Ufer, ging dann stromabwärts. Sie kamen gut voran, ein frischer Lufthauch kühlte Annikas Gesicht.

Nach einer Weile wandte sich Greenleaf wieder dem Wald zu. Auf Annikas ängstliche Frage erklärte er ihr, dass er nur einen weiten Bogen des Flusses abschneiden wollte. Und tatsächlich, nach einiger Zeit kamen sie unter den hohen Bäumen wieder hervor. Weite, feuchte Wiesen lagen vor ihnen. An ihrem Ende in der Ferne glitzerte das Wasser. Der Junge erzählte, dass die Wiesen in der Regenzeit überflutet wurden und dann wie ein riesiger See aussahen. Annika hörte kaum zu. Ununterbrochen schlug sie nach den Mücken, die sich auf sie stürzten. Die beiden liefen am Rand der Wiese entlang, kamen wieder in den Wald und dann, für das Mädchen unerwartet, stießen sie auf das erste Anzeichen von Zivilisation – vor ihnen lag deutlich erkennbar ein Weg. Aus den Bäumen hervor, unter denen sie standen, führte der Weg durch grüne Felder. Sie betraten den Weg, gingen zwischen Getreide, Kartoffeln und Rüben hindurch. Auf dem vordersten Feld arbeiteten zwei Männer mit bloßem Oberkörper. Als Greenleaf und Annika aus dem Wald traten, richteten sie sich auf. Sie blickten verwundert auf das Mädchen. Dann erkannten sie ihren Jäger und grüßten ihn. Greenleaf hob zur Antwort die Hand, hielt aber nicht an. Annika, die interessiert zugesehen hatte, wie die beiden Männer mit Hacken den Boden aufrissen, folgte ihm eilig. In der Mitte der Felder, direkt am Weg stand ein Wachturm. Die Krone eines Baumes war gestutzt worden, nur einige kräftige Äste ragten noch über den Weg. Eine Strickleiter hing am Stamm und führte zu einer überdachten Plattform. Auf ihr saß ein Junge. Als sie sich ihm näherten, schwang er sich herab, ließ sein Horn oben liegen. „Hei Greenleaf!“, rief er, „Wen bringst du denn da mit?“

„Hei Whitewave!“ Der Jäger wandte sich Annika zu: „Whitewave hat heute Wachdienst. Er bewacht die Leute, die auf den Feldern arbeiten.“

„Ich bin ein guter Wächter“, erklärte der Junge stolz, während er das Mädchen neugierig anblickte, „Wenn ich wache, hat noch kein Großschnabel die Leute angegriffen! … Wer bist du?“, fragte er und errötete.

„Das ist auch gut so“, nickte Greenleaf, bevor Annika noch etwas sagen konnte, „Dazu sitzt du schließlich auf dem Wachturm. … Aber wir müssen weiter. Wir sehen uns nachher, dann wirst du Annika kennen lernen.“

Der Weg machte eine leichte Kurve, stieg dann an. Annika staunte. Ein Stück entfernt erhob sich ein hoher Zaun aus starken Baumstämmen, die oben angespitzt waren. Hinter ihm konnte man Dächer empor ragen sehen und Bäume. Der Weg führte sie durch weitere Felder direkt auf ein Tor in der Palisade zu. Eine Frau mit einem Korb über dem Arm trat gerade hindurch und verschwand im Schatten. Annika straffte die Schultern; bald würden sie im Dorf sein, bald würde sie sich endlich ausruhen können.

Schließlich hatten sie es geschafft. Sie traten durch den Eingang und Annika staunte: in einer großen Schlinge des Flusses, auf einer Halbinsel, lag das Dorf. Ein- und zweigeschossige Häuser mit Sockeln aus grauem Stein und darüber Aufbauten aus wettergegerbtem Holz standen an der Straße, die sich einen Hügel hinauf wand. Zwischen ihnen lagen kleine Gärten, umgeben von dichten Hecken. Bäume, die die Dächer beschatteten, erweckten den Eindruck, als ob die Siedlung mitten im Wald läge. Greenleaf sah die erstaunten Blicke des Mädchens.

„Das ist mein Dorf“, erklärte er stolz. „Hier wohnen wir.“

Eine junge Frau kam ihnen entgegen, sie hinkte. „Hallo Moon, das ist Annika“, stellte Greenleaf vor. Lächelnd kam die Frau näher. Unter der knielangen Hose konnte das Mädchen eine lange Narbe an ihrem Bein sehen.

„Ich sehe, du hast Besuch mitgebracht“, stellte sie fest und hob grüßend die Hand. „Ich bin Moonbeam, aber die meisten nennen mich Moon.“ Eine alte Frau kam aus einem der Häuser. „Willow, sieh nur, Greenleaf hat heute eine ganz besondere Beute mitgebracht“, rief Moonbeam lachend. Ihre Augen blitzten lustig. Langsam kam die alte Frau näher. Aus den Häusern traten weitere Menschen, andere kamen aus ihren Gärten, das Werkzeug noch in der Hand. Annika wunderte sich: Ihre Kleider hatten unterschiedliche Farben und Schnitte. Annika konnte rote und braune, blaue und grüne Hosen sehen, bunt gemusterte und einfarbige Oberteile. Einige trugen Hosen, die bis an die Knie reichten, andere kurze wie Greenleaf und Clearwater. Auch bei den Oberteilen gab es Unterschiede. Manche hatte Hemden mit kurzen Ärmeln an; die meisten aber trugen ärmellose Oberteile, manche sogar zum Knöpfen mit teils runden, teils V-förmigen Ausschnitten. Offensichtlich konnte jeder anziehen, was er wollte.

Etliche der Dorfbewohner standen nun um Greenleaf und Annika. „Hallo, du hast uns einen Gast mitgebracht – sei gegrüßt“ – „Herzlich willkommen“, erklangen freundliche Stimmen. Eine Kinderhand streckte sich nach ihrem herabhängenden Ärmel aus. Neugierig betrachteten die Leute Annika, die die Menschen kaum noch wahr nahm. Greenleaf, der bemerkte, dass sein Schützling völlig erschöpft war, bahnte sich geschickt einen Weg durch die Menge und zog Annika mit sich. Er bog in eine Gasse ab, hielt vor einem Haus an, das nicht weit vom Ufer stand. Er klopfte kurz, öffnete dann die Tür und trat ein. Annika wurde etwas munterer: Sie stand in einem gemütlichen Zimmer, dessen Boden, Wände und Decke aus glatten, honiggelben Holzdielen bestanden. Eine Anrichte und einige Bücherregale aus hellerem Holz standen an den Wänden, dazu ein Sofa mit einem gemusterten Bezug. An einer Wand war ein gemauerter, offener Kamin. Auf dem Boden lag ein Teppich aus grauer Wolle, darauf standen ein kleiner Tisch und ein Sessel. Ein Fenster, vor dem ein großer Schreibtisch stand, gab den Blick über einen Garten auf den Fluss frei, der behäbig vorbei floss, ein weiteres zeigte zur Straße.

Eine Tür öffnete sich und eine Frau trat ein. „Hallo Rainbird! Das ist Annika“, erklärte Greenleaf, „Annika, das ist Rainbird, meine Mutter. … Ich dachte, es ist das Beste, wenn ich sie erst einmal zu dir bringe“, wandte er sich der Frau zu. Auch ohne Greenleafs Erklärung hätte Annika gewusst, wer die Frau war – die Ähnlichkeit mit ihrem Sohn war verblüffend.

Rainbird begrüßte das Mädchen freundlich und sagte dann: „… komm mit, Kind. Du siehst ja völlig erschöpft aus.“ Sie führte Annika treppauf in ein freundliches Schlafzimmer, mit einem einladend aussehenden Bett. Am liebsten hätte das Mädchen sich darauf fallen lassen, doch schon kam die Frau mit einer Schüssel und einem Krug mit frischem Wasser, einer cremigen Seife und weichen Tüchern. Dann ließ sie Annika allein. Dankbar wusch diese sich Gesicht und Hände. Wenig später brachte Rainbird einen Topf, in dem sich eine duftende Salbe befand und bestrich die sichtbaren von Annikas Mückenstichen. Sofort war eine angenehme Kühlung zu spüren; das Jucken ließ nach.

Schließlich wurde Annika wieder in das Wohnzimmer zurückgeleitet. Erneut ließ Rainbird sie kurz allein. Erleichtert sank das Mädchen auf das breite Sofa; sie würde nun keinen Schritt mehr gehen. Endlich ließ die Anspannung nach, endlich fühlte sie sich sicher. Sie fand es schwierig, die Augen offen zu halten. Die Tür öffnete sich und Rainbird kam mit einem Tablett zurück, auf dem Becher und ein großer Teller mit Speisen standen. Greenleaf, der ebenfalls den Raum verlassen hatte, folgte seiner Mutter mit einem Krug in der Hand.

„Du wirst hungrig sein“, sagte Rainbird lächelnd und lud das Mädchen mit einer Geste ein zuzugreifen, „und du auch, Greenleaf. Ihr wart lange unterwegs.“

Sofort war Annika wieder wach. Oh ja, Hunger hatte sie auch. Dankbar nahm sie ein belegtes Brot, biss hinein. Auch Greenleaf langte zu und schnell hatten die beiden den Teller geleert. Jetzt, angenehm gesättigt, kam die Müdigkeit zurück. Das Mädchen lehnte den Kopf an die Sofalehne und blickte verträumt auf Mutter und Sohn, die sich inzwischen leise unterhielten. Wenig später fielen ihr die Augen zu. „Armes Ding“, lächelte Rainbird, „Wie hast du sie gefunden?“ Sanft legte sie das Mädchen hin, strich ihm über das Haar und deckte es mit einer Decke zu, während Greenleaf ihr berichtete.

Annika wachte auf. Eine herunter gedrehte Lampe auf dem Tisch gab ein schwaches Licht, sonst lag der Raum im Dunklen. Sie war allein. Langsam richtete sie sich auf, gähnte. Nur allmählich kam die Erinnerung zurück. Sie war bei Rainbird, sie war in Sicherheit. Doch, wieso war schon wieder Nacht? Wie lange mochte sie geschlafen haben? Leise öffnete sich die Tür. Annika erhob sich, als Rainbird eintrat mit einem Krug und zwei Bechern in den Händen. „Bleib ruhig sitzen“, sagte die Frau und setzte sich in den Sessel, „Geht es dir jetzt besser?“

Annika nickte. Dann fragte sie ein wenig unsicher: „Es ist dunkel – ist es schon spät? … Oh, und Sie sind extra meinetwegen aufgeblieben.“

„Nein, mach dir keine Sorgen. Ich gehe immer erst spät ins Bett; oft arbeite ich bis tief in die Nacht. Wenn du magst, leiste ich dir gerne noch etwas Gesellschaft.“ Sie goss beiden ein. „Hier, trink das, das wird dir gut tun.“

Das Mädchen war verwirrt. „Danke. … Greenleaf – wo … Ich meine … oh, der schläft sicher schon, nicht wahr?“

„Das denke ich doch. Mach dir um ihn keine Gedanken. Er sagte, dass der Weg für dich sehr anstrengend war. Deshalb wollte er, dass du Ruhe hast. Sieh, Greenleaf und auch meine Tochter – Clearwater, weißt du?“, Annika nickte und Rainbird fuhr fort: „Ach ja, du hast sie ja schon kennen gelernt – nun, die beiden wohnen ja nicht hier. Deshalb … oh, aber das kannst du nicht wissen – bei uns ist es so, dass die jungen Leute, wenn sie die Prüfung abgelegt haben, ihre Familien verlassen und erst einmal in das Heim ziehen, wo sie dann alle leben. Sie sind dann ja keine Kinder mehr, nicht wahr? Aber da ist es verständlicherweise manchmal etwas unruhiger und deshalb hat er dich zu mir gebracht.“

Annika kam aus dem Staunen nicht heraus. Greenleaf und Clearwater wohnten nicht mehr bei ihrer Mutter? Wer kümmerte sich denn dann um alles? Wie mochte das Heim aussehen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Überhaupt, alles war so ganz anders als sie es gewohnt war. Sie dachte an ihr Zuhause.

Sie lebte mit ihren Eltern in einem schönen Haus, hatte, genau wie ihre Schwester, ein eigenes Zimmer. Wie bei allen Häusern in der Stadt, egal ob Wohnhaus, Verwaltungsgebäude oder Institut, war die dominierende Farbe weiß. Alle Mauern waren weiß, die Fensterrahmen und Türen hellgrau. Auch bei den Möbeln gab es kein Holz, nur pflegeleichte weiße Kunststoffe und chromglänzende Metalle. Nur bei der Farbe für die Wände, den Teppichboden, der jeden Raum bedeckte, und die Farbe der Polstermöbel konnten die Bewohner wählen. Ihre Eltern hatten sich für ein warmes Gelb entschieden und so waren das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer ihres Vaters in diesem Farbton gehalten. Sie selbst hatte für sich Terracotta gewählt. Ihr Zuhause wirkte hell und licht, wie die ganze übrige Stadt auch.

Annika sah sich um. Sie hatte noch nicht viel vom Dorf sehen können, trotzdem hatte sie den Eindruck, dass hier alles ganz anders war. Allein das Haus, in dem sie sich befand – alles war aus Holz. Komisch, sie hätte erwartet, dass der Raum finster und bedrohlich wirken würde, aber sie fühlte sich hier geborgen; das Zimmer strahlte Wärme aus.

Rainbird ließ dem Mädchen Muße, sich umzusehen. Sie nahm sich ein Buch, das auf dem Tisch gelegen hatte, setzte sich in einen Sessel und schlug es auf.

„Das ist ein Buch, ein richtiges Buch aus Papier“, stellte Annika erstaunt fest.

„Ja sicher, habt ihr denn keine Bücher?“

„Doch, mein Vater hat welche in seinem Arbeitszimmer und wir haben nahe beim Zentrum eine Bibliothek, da gibt es eine Abteilung, in der auch noch Papierbücher stehen. Aber sonst … sonst haben bei uns die meisten Menschen keine Bücher mehr, keine wie dieses, meine ich.“

Nun war es an Rainbird sich zu wundern. „Wie lest ihr denn dann?“

„Wir haben Ebus, das sind elektronische Bücher. Das sind … wie soll ich es beschreiben?“, Annika zeigte mit ihren Händen das Format, „Es ist so groß, ein flacher Kasten aus Kunststoff, glaube ich. Innen ist ein Speicher … und ein Rechner. Auf dem Bildschirm kann man das Buch aufrufen, das man lesen möchte. Der Text läuft dann einfach weiter, in dem Tempo, in dem man liest – per Augensteuerung. Ich muss nichts tun, nur lesen. Und Zuhause brauche ich gar kein Bücherregal – ich meine, ich habe ein Regal, aber nicht für Bücher. Na ja, jedenfalls, in dem Ebu ist da alles drin. Da passen mehr Bücher rein, als hier in den Regalen stehen, sogar mehr als in der Bibliothek“, versuchte das Mädchen eine Erklärung.

Rainbird schüttelte bedächtig den Kopf. Sie wusste nicht genau, was das Mädchen meinte. Dann jedoch lächelte sie und sagte: „Ich kann mir das nicht vorstellen, wie das gehen soll: Lesen ohne umzublättern. Aber … na, es spielt keine Rolle, nicht wahr, wie man liest. Hauptsache ist doch, dass man es tut.“ Sie sah, dass Annika verstohlen gähnte und fuhr fort: „Nun, es ist schon spät. Du solltest besser versuchen, wieder zu schlafen. Morgen werden alle dich kennen lernen wollen. Da musst du doch ausgeruht sein. Hast du es bequem genug? Ich habe oben auch ein Bett für dich. … Nicht nötig? Fein, dann schlaf jetzt. Wenn du möchtest, kannst du dir gerne das Buch nehmen oder auch ein anderes und noch ein bisschen lesen. Dreh dann einfach die Lampe ganz runter, wenn du schlafen möchtest. Gute Nacht.“ Damit erhob sie sich und verließ den Raum. Leise knarrte die Holzstiege, als sie in ihr Schlafzimmer hoch ging. Einen Augenblick überlegte Annika, ob sie sich nicht tatsächlich ein Buch holen sollte, doch sie merkte, wie müde sie immer noch war. Deshalb legte sie sich bequem hin und war schnell eingeschlafen.

Annikas Kleider hatten überall Löcher und Risse; außerdem waren sie schmutzig. So hatte Rainbird sie behalten, um sie zu waschen und die Beschädigungen auszubessern. Als Greenleaf bald nach einem späten Frühstück das Mädchen abholte, stieß er überrascht einen Pfiff aus: „He, du siehst ja aus, wie eine von uns!“

Beide erröteten. Es stimmte, in Kleidern von Clearwater unterschied sich Annika nur durch ihre helle Haut und die langen blonden Haare von den Menschen hier. Als sie Hose und Oberteil angezogen hatte, hatte sie sich zunächst geniert – man konnte schließlich ihre nackten Arme und Beine sehen. Rainbird aber hatte ihr gesagt, dass hier ja alle so herum liefen und deshalb diese Kleidung weniger beachten würden, als ihre eigenen Sachen. Trotzdem, so ganz wohl fühlte Annika sich nicht, als sie aus dem Haus trat.

„Das ganze Dorf wartet auf dem Platz vor der großen Halle auf dich“, lachte der Junge, „Ist das nicht toll?“ Als er Annikas beklommenes Gesicht sah, beruhigte er sie: „Aber ich bleibe bei dir und Clearwater ist auch da und Rainbird kommt auch gleich nach. Also hab keine Angst. … Alle wollen dich kennen lernen, sie freuen sich, jemanden aus der Stadt zu treffen.“ Das Mädchen zögerte unsicher. Sie konnte nicht verstehen, wieso Greenleaf sie unbedingt allen vorstellen wollte. Sie kam sich vor wie ein … etwas … ja, Merkwürdiges, eine Errungenschaft, die jemand aus einer anderen Stadt mitgebracht hatte und nun stolz allen zeigen wollte. Doch sie konnte ja nicht einfach hier stehen bleiben, also ging sie neben dem Jungen her. Sie gingen zwischen den Häusern die Straße zum Hügel entlang, der oben in einem weiten offenen Platz vor zwei großen Gebäuden endete. Annika hatte kaum Zeit, sich umzusehen, doch sie bemerkte natürlich die Kinder, die ihnen folgten und sie unverhohlen anstarrten.

„Greenleaf, wo kommt die her?“, piepste eine Stimme.

Eine andere fragte neugierig: „Kannst du unsere Sprache?“

„Sieh nur, die Haare!“

„He, nicht jetzt! Seid nicht so neugierig.“ Mit einer Geste brachte der Junge die Frager zum Schweigen. Verscheuchen ließen sich die Kinder nicht, aber Greenleaf versuchte es auch gar nicht. Lächelnd forderte er sie auf, ihn und Annika zu begleiteten, denn „… dann erfahrt ihr es gleich.“

Als sie aus der Gasse auf den Platz traten, wandten sich alle Blicke ihnen zu. Greenleaf hatte recht, nahezu das ganze Dorf hatte sich eingefunden sie zu begrüßen. Mehr als fünfzig, sechzig Menschen mussten auf dem Versammlungsplatz zusammen gekommen sein. Erstaunte Rufe, Raunen und Wispern waren zu hören. Clearwater, die am Ausgang der Gasse gewartet hatte, grüßte Annika kurz und schloss sich ihnen an. Gemeinsam traten sie in die Mitte des Platzes. Greenleaf hob die Arme. Annika staunte: Sofort trat Stille ein. Alle Aufmerksamkeit richtete sich nun auf den Jungen, der selbstbewusst die Leitung übernahm: „Das hier ist Annika. Viele von euch haben sie ja schon gesehen, als wir gestern angekommen sind. Wie ihr sehen könnt, ist sie aus der Stadt. Ihr Flieger … äh, nee, Gleiter ist abgestürzt. Die anderen sind tot, aber Annika hat überlebt und ich habe sie gefunden und hierher gebracht.“

Annika wurde ruhiger. Zwischen Greenleaf und Clearwater fühlte sie sich sicher. Sie sah sich um. Die Menschen standen in kleinen Grüppchen; viele sahen neugierig aus, andere lächelten aufmunternd. Das Mädchen konnte Rainbird sehen, die am Rand in der Nähe der Gasse stand. Auch Moon sah sie, daneben die alte Frau und ganz vorne, die Augen fest auf sie gerichtet, Whitewave, den jungen Wächter.

Greenleaf fuhr fort: „Wir bitten euch, Annika die Ruhe zu geben, die sie braucht, um wieder gesund zu werden. Deswegen haben wir sie hierher gebracht – damit wir uns um sie kümmern können. … Hm, vielleicht wollt ihr wissen, wie das Leben in der Stadt so ist – ich möchte es auch wissen. Schließlich war ja noch keiner von uns da. Aber, bitte, fragt sie nicht alle ständig, sonst wird sie nie gesund. … Wenn sie uns irgendwann erzählen will, wie es da ist, wo sie lebt, schön, dann wird sie es erzählen und ihr werdet es erfahren. Aber bis dahin: Lasst sie bitte in Frieden. Sie ist unser Gast. Sie soll sich hier wohl fühlen und nicht das Gefühl haben, dass alle sie ständig beobachten und ausfragen. … Ich danke euch!“

Stimmengemurmel setzte wieder ein. Nach und nach brachen die Leute mit einem Nicken in Richtung der drei Jugendlichen auf, ihrem Tagwerk nachzugehen. Vereinzelt traten sie auf den Jungen zu, baten: „Bring sie doch mal auf einen Tee vorbei“ – „Sie muss unbedingt bei uns mal reinschauen!“ – „Nimm sie mit ins Heim“, und vieles mehr.

„Na, das ging ja besser als ich dachte“, grinste Greenleaf.

„Ja, jetzt kannst du ungestört bei uns leben. … Lass uns zum Fluss gehen“, schlug Clearwater vor, „Unterwegs zeige ich dir das Dorf und erzähle dir, was du wissen solltest.“

„Ich kann nicht mitkommen“, sagte Greenleaf ein wenig bedauernd, „Ich muss mich beeilen – ich muss noch bis zum Erlenteich heute.“ Er wandte sich ab und verschwand in der Gasse bevor Annika ihm danken konnte.

„Ich hatte dir ja erzählt, einer von uns muss immer aufpassen, damit dem Dorf und den Leuten nichts passiert“, erklärte Clearwater, weil Annika dem Jungen nachblickte. „Morgen muss ich auch mit raus. Aber heute bleibe ich bei dir; damit du dich besser eingewöhnst.“

Sie zeigte auf eines der beiden Gebäude, die am Versammlungsplatz standen. „Das ist die Große Halle“, sie öffnete die schwere Eingangstür und trat ein. Starke Säulen stützten das hohe Dach. Der Tür gegenüber lag eine offene Feuerstelle, sonst war die Halle leer. Nur an den Wänden mit den vielen Fenstern, zwischen denen sich große Bilder von Pflanzen und Tieren befanden, waren etliche Tische und Bänke zusammen geschoben. „Hier feiern wir manchmal und versammeln uns, wenn es wichtige Beschlüsse zu fassen gibt. … Aber meist machen wir das draußen auf dem Platz. Hier drin sind wir eigentlich nur in der Regenzeit oder wenn mal eine Kältezeit mit Winter ist. … Viel zu sehen ist ja nicht, aber es ist wirklich schön hier drin, wenn das Feuer brennt und die Halle erleuchtet ist und alle hier sind und singen und tanzen.“ Sie verließen das Gebäude wieder und Annika versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, wenn in dem Saal gefeiert wurde.

Sie gingen auf das zweite große Gebäude zu. Hohe Buchen zu beiden Seiten der Tür beschatteten den Eingang. Wieder öffnete Clearwater und sie traten ein. „Das ist unsere Bibliothek. Rainbird meint, es ist das wichtigste Haus hier bei uns. Ich kann sie verstehen. Siehst du?“, das Mädchen zeigte auf eine Treppe, die zum Obergeschoss führt. Schon von unten konnte Annika einige Regale mit Büchern sehen. Langsam stiegen sie die Treppe hoch. Dicht an dicht standen Reihen von Regalen, die alle vom Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt waren. Annika staunte: So viele Bücher! Das waren ja noch mehr als in der Bibliothek in der Stadt. Dabei lebten hier doch viel weniger Menschen.

„Darf ich?“ Als Clearwater nickte, zog Annika ein Buch heraus, schlug es auf. Das dicke Werk zeigte Abbildungen und Beschreibungen von Kräutern und Blumen. ‚Dr. Meyers Naturführer Pflanzen‘ las das Mädchen, als es den Band wieder zuschlug. Sie ging zu einem anderen Regal, fand Werke über Mathematik, daneben über Meteorologie, dann Chemie. Sie sah medizinische Werke, Bücher über Handarbeiten, Bautechnik, Lebensmittelkunde und Kochbücher. Über einem weiteren Regal hing ein Schild mit der Aufschrift Literatur. Annika sah die gesammelten Werke von Goethe und Shakespeare, aber auch von Austen, Kipling und Grass und anderen Schriftstellern und Dramatikern, die auch sie teilweise kannte. Offensichtlich war das Interesse an Literatur bei allen Menschen gleich. Andächtig glitten ihre Finger über die Buchrücken. Da standen Schätzing und Mankell, dort Funke – wie viele Schriftsteller hatte es doch in der Vergangenheit gegeben. Es roch so eigenartig hier – sie erinnerte sich an den Geruch von ihrem Besuch in der Bücherabteilung der Bibliothek in der Stadt. „Was macht ihr mit den ganzen Büchern?“, fragte sie.

„Na, die sind zum Lesen da, wozu sonst? Wenn jemand ein Buch haben möchte, kann er es sich ausleihen und mitnehmen. Außerdem brauchen wir sie zum Arbeiten und Lernen. Komm mit“, sagte Clearwater und stieg wieder hinab in das Erdgeschoss. Auch hier standen an den Wänden Regale mit weiteren Büchern. Doch bei den Fenstern und in der Mitte des Raumes standen viele Tische. Ein Mann saß an einem der Fenster und las konzentriert. Ein Stück entfernt diskutierten zwei Mädchen leise die Vorzüge verschiedener schleimlösender Pflanzen bei Husten. Vor ihnen lagen gleich mehrere Bücher. An einem anderen Tisch saß eine Gruppe Zwölfjähriger und machte sich Notizen; zwischen sich aufgeschlagen ein großes Buch. „Die erarbeiten eigenständig das Hintergrundwissen“, Clearwater zeigte zu den Fenstern, „Die anderen sind draußen und lernen die Praxis.“ Annika blickte hinaus. Hinter der Bibliothek fiel der Hang zum Flussufer steil ab. Ein schmaler Pfad wand sich hinab, teilweise verdeckt von Büschen und Bäumen. Unten waren kleine Felder angelegt, auf denen eine Gruppe Kinder arbeitete. Ein älterer Mann gab ihnen mit ausgestrecktem Arm Hinweise.

„Es ist schön hier“, stellte Annika fest, „ich mag die Stille und den Geruch.“ Clearwater strahlte. Dann jedoch verließen sie die Bibliothek, wandten sich den Hügel hinab in den Ort.

An einem Haus standen ein Mann und ein Junge von vielleicht 16 Jahren. Als die beiden Mädchen vorüber gingen, ließen sie ihr Werkzeug sinken und beantworteten – der Mann freundlich gelassen, der Junge sichtlich neugierig – deren Gruß. Dann nahm der Mann ein Brett von einem Stapel und hielt es an die Wand des Schuppens, den die beiden reparierten. Plötzlich rief der Junge: „Das kannst du nicht nehmen!“

„Na“, entgegnete der Mann, „die Länge passt doch perfekt.“

„Ja, das wohl, aber es ist noch nicht genug abgelagert; das biegt sich dann.“ Der Mann hob das Brett an die Augen, nickte dann. „Oh, du hast Recht. Dann …“ Clearwater war schon weiter gegangen. Annika folgte ihr schnell, konnte die weitere Antwort des Mannes nicht mehr verstehen. Fassungslos stellte sie fest: Der Junge hatte es gewagt, einen Erwachsenen zu verbessern und der hatte ihn nicht einmal dafür getadelt!

Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, waren sie schon mitten im Dorf. Annika staunte. „Wer wohnt hier in den Häusern?“ Clearwater sah sie verständnislos an. „Ich meine, deine Mutter hat gesagt, dass ihr in einem Heim lebt. Was ist das und wenn ihr alle da lebt, wer wohnt denn dann in den anderen Häusern?“

„Ach so, das meinst du. Ja, alle, die Prüfung gemacht haben, ziehen Zuhause aus und ins Heim. Wir haben da die Schlafräume und einen großen Raum, wo wir auch essen. … Ich wohne gerne da – die meisten tun es – da sind wir zusammen, das macht Spaß. Aber wir wohnen da nicht ewig, jedenfalls ganz viele nicht. Also, irgendwann ziehen wir in die Häuser, wenn wir einen Partner finden und so. Da leben dann Familien, also Leute, die Kinder haben und auch die, deren Kinder ausgezogen sind, wenn sie nicht zurück ins Heim wollen. Das will von den Älteren kaum jemand. Na ja, Summerbreeze tut es, aber die ist noch nicht so alt, 40 oder so. Und Sweetnut und Greenwood auch. Aber die sind sowieso eigentlich fast immer unterwegs – die reisen zu den anderen Dörfern, da brauchen sie kein Haus, sie sind ohnehin kaum Zuhause. … Verstehst du?“ Annika nickte – es gab also zwei Möglichkeiten im Dorf zu leben – und Clearwater fuhr fort: „Rainbird ist in ihrem Haus wohnen geblieben, als wir ausgezogen sind. Moon wohnt bei Willow – die vertragen sich gut und Willow ist dann nicht allein. Das machen manche, dass sie bei einem älteren Bewohner einziehen … oder ein älterer Bewohner zieht bei ihnen in die ungenutzten Zimmer ein; das hilft beiden Seiten. Du wirst bei Rainbird wohnen, solange du hier bist.“

„Warum sagst du zu deiner Mutter Rainbird?“, fragte Annika erstaunt.

„Weil sie so heißt.“

„Das meine ich nicht. Ich meine, warum sagst du nicht ‚Mutter‘ oder so? Wir machen das bei uns. Wir nennen unsere Eltern Mutter und Vater. Oder manchmal auch Mutti oder Mama und so.“

„Warum? Warum nennt ihr eure Eltern nicht beim Namen? Wenn alle auf einmal ihre Mütter rufen, wer weiß denn dann noch, wer wer ist? Das muss ja ein herrliches Durcheinander geben. … Ich will dich nicht beleidigen, aber ich finde das komisch.“ Annika wusste keine Antwort, doch sie war einen Augenblick leicht verstimmt.

Greenleaf lief mit leichten Schritten den Hang hinab, blickte aufmerksam auf die dichten Büsche unten am Fuß des Hügels. Alles war ruhig. Jeden Tag durchstreiften die Jäger ein riesiges Gebiet – einzeln, wenn es nur darum ging, über die Menschen im Wald zu wachen und dafür zu sorgen, dass dem Dorf keine Gefahren drohten; zu zweit, wenn die Zwillinge auf die Jagd nach größerem Wild gingen. Heute waren seine Wege weiter, hatte er mehr zu tun, da seine Schwester ihrem Gast das Dorf zeigte. Er hoffte, dass Annika das Dorf gefiel, sich hier wohl fühlte. Irgendwie mochte er sie – sie war so anders. Vor seinem inneren Auge tauchten die Gesichter von Clearwater, Clover und den anderen Mädchen auf, die er kannte. Sie alle hatten eine sonnengebräunte Haut, trugen die Haare kurz oder zu einem Zopf oder Pferdeschwanz zusammen gebunden. Annika hatte blasse Haut und ein zartes, fast durchsichtiges Gesicht, in dem die blauen Augen riesig groß leuchteten und sie trug ihre langen blonden Haare offen. Eigentlich war das eher unpraktisch, fand der Junge, aber bei ihr sah es gut aus. Irgendwie fühlte er sich für sie verantwortlich, deshalb machte er sich Gedanken, wie sie sich wohl fühlen mochte. An einem Bach machte er kurz Halt, trank und füllte seine Flasche auf, aß einige längliche braune Früchte, die nach leicht gesüßtem Brot schmeckten. Bald lief er weiter. Er kam durch ein lichtes Waldstück, wo zwischen hohen Bodenpflanzen viele junge Bäume und Büsche wuchsen. In der Ferne sah er Rainbird, die von einem niedrigen Strauch Beeren in einen Korb pflückte. Er hob die Hand, winkte kurz. Dankend erwiderte sie seinen Gruß, wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Eine der wichtigsten Aufgaben war es, die Heilerinnen zu beschützen. Von ihnen gab es immer nur wenige. Merkwürdig, in anderen Dörfern lebten Heiler, überlegte er. Bei ihnen jedoch gab es, wie seine Mutter einmal erzählt hatte, seit langer Zeit nur Heilerinnen. Warum war das so? War es noch schwieriger, Heiler zu werden, als Jäger oder war es einfach Zufall? Heiler waren wichtig, hatten so viele verantwortungsvolle Aufgaben. Sie versorgten nicht nur Kranke, sie waren immer irgendwie klug, weise und gaben gute Ratschläge. Er bewunderte Rainbird und war stolz, dass sie seine Mutter war. Sie würde sicher Annika helfen können, wieder gesund zu werden, darauf vertraute er. Greenleaf stutzte. Vor sich sah er schwach eine Fährte; kräftige Krallen hatten sich tief in den Boden gedrückt. Er richtete sich auf, sah sich aufmerksam um. Er musste der Fährte folgen, musste wissen, wohin sie führte. Langsamer, den Blick auf den Boden gerichtet, lief er weiter. Nach einiger Zeit fand er weitere Abdrücke, hockte sich hin, untersuchte sie – sie waren groß, von ausgewachsenen Tieren, aber alt, bedeuteten im Moment keine Gefahr. Noch einer Weile folgte er der Spur, bog dann wieder ab. Er würde den beiden anderen Jägern Bescheid sagen und sie würden die Fährten im Auge behalten.

Annika und Clearwater erreichten das Flussufer. Beide ließen sich im Gras nieder, blickten auf das Wasser. Die Jägerin schloss die Augen. „Es ist ungewohnt, einfach nur hier sitzen zu können“, lächelte sie, „aber ich genieße es.“ Beide legten sich zurück. Eine Weile blieben sie liegen, schwiegen zufrieden; Annika döste ein wenig.

Ein gellender Schrei ertönte. Annika fuhr erschrocken hoch. „Wer war das?“

Auch Clearwater setzte sich auf. „Keine Sorge, das war eine Harpyie. Sieh, da oben fliegt sie. Sie ist auf der Jagd.“

Ihr Blick fiel auf Annikas bloße Arme. „Pass auf, du bekommst einen Sonnenbrand.“ Annika war verwirrt und so erklärte Clearwater: „Deine Arme … oh, und auch dein Gesicht. Sie werden rot. Komm, lass uns aufstehen, du musst aus der Sonne. Wir gehen zu uns, komm.“

Erschrocken blickte Annika auf ihre Arme – deutlich war eine leichte Rötung zu erkennen. Sie rieb mit den Händen darüber, doch die Farbe blieb. „Was mache ich nur?“, ihre Stimme wurde schrill – plötzlich war ihr etwas eingefallen, „Oh nein, das ist gefährlich.“

„Wieso? Das ist doch in ein paar Tagen wieder weg. Du solltest nur jetzt aus der Sonne raus.“

„Nein, das gibt Hautkrebs, weißt du das nicht?“

„Was, Hautkrebs?“, wunderte sich Clearwater. Sie konnte sehen, dass Annika wieder in Panik geriet. „Wieso hast du Angst vor der Sonne? Sie ist doch schön. Sie gibt uns Leben, sie wärmt uns. Ohne Sonne können wir nicht existieren, da wächst nichts auf den Feldern. Vor der Sonne muss man doch keine Angst haben. … Sag mal, gibt es womöglich bei euch gar keine Sonne? Greenleaf hat gesagt, die anderen wären auch so bleich gewesen wie du.“

Sie führte Annika in den Schatten der Bäume und die erklärte: „Natürlich scheint bei uns auch die Sonne, natürlich. Aber wisst ihr, vor der Katastrophe, in den Jahren vorher, da gab es immer Warnungen. Erst nur im Sommer, dann das ganze Jahr über durften die Menschen nicht zu lange in der Sonne bleiben, weil die Ozonschicht so dünn geworden war und das Hautkrebsrisiko so stark gestiegen war. Viele Menschen haben Hautkrebs bekommen und sind daran gestorben. Das war echt gefährlich. Ja, und als dann die Städte neu aufgebaut wurden, da haben die Stadtplaner sich überlegt, wie sie verhindern können, dass Menschen an Hautkrebs sterben; dass die Menschen aber trotzdem rausgehen dürfen. Sonst hätten wir die Städte ja gleich unter die Erde legen können. Deshalb sind alle Städte mit großen … ähm, großen Schirmen überspannt. Hm …“, Annika überlegte, wie sie darstellen sollte, dass riesige transparente Filter über den Städten hingen.

Turmhohe Masten waren um die Stadt herum und entlang des Parks im Zentrum verteilt. Starke Spannseile hielten und sicherten sie. Zwischen ihnen waren die klaren Schutzdächer befestigt, spannten sich von Mast zu Mast wie ein riesiges Netz. Zwischen Gitterelementen waren durchsichtige, leicht getönte Platten eingesetzt. Sie ließen das Licht durch, doch sie verhinderten, dass die schädlichen UV-Strahlen ungefiltert auf die Bewohner trafen. Dennoch war die Stadt nicht hermetisch abgeschlossen. Der Schirm schwebte ein ganzes Stück über den Stadtmauern, lag nicht auf, sondern ließ Luft hindurch. An manchen Tagen konnte man den Wind spüren, der unter ihm hindurch strich. Manchmal kamen auch Vögel und andere fliegende Tiere auf diese Weise in die Stadt, aber dafür gab es die Wächter. Das war eine andere Geschichte.

Annika sah sich um. Auf der Erde vor ihr lagen Steine und Zweige. Sie hatte eine Idee. Sie hockte sich hin, nahm ein Stöckchen und fing an: „Das ist die Stadtmauer. Sie umgibt unsere Stadt wie bei euch der Zaun. Nur ist unsere Mauer aus Beton und höher, glaube ich. Und sieh, innerhalb der Mauer sind die Masten“, Annika malte Striche, die über den Bogen, der die Mauer darstellte, hinaus ragten. Dann malte sie den Schirm und erklärte seine Funktion.

Clearwater lachte: „Jetzt verstehe ich, warum du so blass bist. Wir hatten schon überlegt, ob es vielleicht daran liegt, dass ihr im Norden wohnt, wo das Meer ist. Aber das Wasser reflektiert die Sonnenstrahlen ja noch und die Leute, die immer am Fluss arbeiten, sind meist noch brauner als wir anderen …“, sie unterbrach sich, als Annika die Stirn runzelte, „Was ist?“

„Wir wohnen nicht am Meer“, stellte das Mädchen richtig, „Amsterdam liegt am Meer, aber unsere Stadt nicht. Das ist ziemlich weit weg. Mit dem Gleiter dauert es ein paar Stunden, bis wir am Meer sind. … Aber alle Menschen, die in Städten wohnen, haben eine helle Haut. Habt ihr denn gar keine Angst, Hautkrebs zu bekommen?“

„Ich weiß nicht genau, was du meinst, aber da bei uns niemand krank wird, bloß weil er in der Sonne ist, glaube ich … nein, wir haben keine Angst vor der Sonne. Niemand hier. … So, jetzt lass uns weitergehen. Es ist Mittag; die haben sicher schon das Essen fertig.“

Kurze Zeit später erreichten sie das Heim. Die Tür war weit geöffnet, Stimmengewirr war zu hören. Sie traten in die halbdunkle Halle und Annika brauchte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Sie waren in einem großen Saal, dessen Fenster von dichten Bäumen überschattet wurden. Auf der einen Seite standen drei lange Tische, an denen einige junge Leute auf Bänken saßen. Sie unterbrachen ihre Gespräche und blickten auf die beiden Neuankömmlinge. Whitewave sprang auf und rief errötend: „Kommt her. Ihr könnt euch zu uns setzen!“, dabei klopfte er mit der Hand auf den Tisch. Auch seine Gefährten, alle zwischen 15 und knapp über 20 Jahren winkten ihnen zu.

„Ja los, setzen wir uns zu ihnen“, lachte Clearwater, „aber erst lass uns was zu essen holen. Ich habe Hunger – du doch sicher auch.“ Sie führte Annika zu einem Tresen, der den Raum teilte und hinter dem sich eine offene Küche befand. Ein Mädchen und ein Junge erwarteten die beiden; im Hintergrund spülten drei weitere Jugendliche laut klappernd das Geschirr. Während Annika noch über die Herde staunte, auf denen in großen Töpfen die Speisen köchelten, ebenfalls bewacht von jungen Menschen, hatte der Junge schon zwei braune Steingutteller unter dem Tresen hervor geholt. Auf Clearwaters Frage, was es denn zu essen gäbe, bot er einen Bohneneintopf und Hirschbraten mit Kartoffeln und Möhren zur Auswahl an.

„Du nimmst den Hirsch, wie immer, oder?“, fragte der Junge.

Clearwater lachte: „Natürlich. Schließlich habe ich ihn mitgebracht. … Annika, was willst du?“

Das Mädchen zögerte, ließ sich beide Gerichte zeigen und schloss sich dann ihrer Freundin an. Krüge mit Wasser standen auf den Tischen und bald saßen sie zwischen den anderen, die ebenfalls eifrig ihren Speisen zusprachen und sich munter unterhielten.

„Habt ihr gar keine Erwachsenen hier?“, fragte Annika flüsternd.

Clearwater verstand nicht. „Wir sind alle erwachsen, die Jüngeren leben doch bei ihren Eltern.“

„Aber … ich meine, gibt es hier keine wirklichen Erwachsenen, keine Älteren?“

„Wir sind alle wirklich erwachsen, das haben wir dir doch schon erzählt“, erklärte die Jägerin leise. „Und Ältere … na ja, ein paar wohnen schon hier; Summerbreeze und Sweetnut und Greenwood – aber die sind unterwegs.“

„Aber, wer hat denn dann die Verantwortung?“

Clearwater verstand immer noch nicht genau, auf was Annika hinaus wollte. „Na, in der Küche gerade Appleblossom und die, die da sonst noch arbeiten – ist doch klar, oder? Und für die Zimmer sind wir selbst verantwortlich – also für’s Saubermachen und so. Wieso?“

„Aber … ach, egal. Ich kann das nicht richtig erklären. Irgendwie ist das hier ganz anders“, Annika hob die Hände. Wie sollte sie nur beschreiben, dass doch überall jemand sein musste, der den Überblick hatte, bestimmte, was zu tun war und dann auch die Verantwortung trug. Das konnte doch niemand sein, der erst 15 oder so war. Sie sah die Jugendlichen in ihrer Nähe, war verwirrt. Doch schließlich beugte sie sich wieder über ihren Teller. Clearwater hatte sich umgesehen. Ihr Blick fing den eines anderen Mädchens in ihrer Nähe. Sie hob die Schultern, lächelte kurz, dann aß auch sie weiter. Alle hatten ihre Teller vor sich stehen, aßen und tranken. Immer wieder flogen neugierige Blicke zu Annika.

Als die Teller geleert und zur Küche zurück gebracht waren, scharten sich auch die anderen jungen Leute, die sich im Saal aufhielten, um den Tisch, an dem Annika und Clearwater saßen. Ein Durcheinander von Stimmen erklang, als sich alle gleichzeitig vorstellten. Annika musste lachen. So würde sie sich nie alle Namen merken können.

„Was machst du so?“, kam die erste Frage.

„Du kommst aus der Stadt. Ist das weit von hier?“

Whitewave mischte sich ein: „He, nicht alle auf einmal. Lasst sie doch erstmal eine Frage beantworten.“

Wieder musste Annika lachen. Hatte sie in dem Jungen noch einen Beschützer gefunden? Glücklich stellte sie fest, dass alle so nett zu ihr waren.

Clearwater mischte sich ein und schimpfte: „Habt ihr nicht zugehört, lasst sie doch erstmal in Ruhe!“

Annika jedoch sagte etwas verlegen: „Ach, das ist in Ordnung.“ Sie lächelte Whitewave an und begann: „Ich bin Annika, aber das wisst ihr ja schon. Ich bin 17. …“, dann erzählte sie von ihrer Familie und der Schule. Sie erzählte von ihrem Interesse an Biologie und Genetik, von ihrem Wunsch später einmal zu forschen und dafür zu sorgen, dass alle Menschen in den Städten genug Nahrung finden würden. Staunend hörte die Gruppe zu. Erst als Annika zwischendurch den Becher nahm, um einen Schluck zu trinken, warf ein Mädchen eine Frage ein. Sie war 18 Jahre alt und Annika fand sie exotisch schön mit ihrer olivbraunen Haut und den glatten tiefschwarzen Haaren.

„Wenn ihr abends Zuhause seid, wie lernst du dann andere kennen? … Ich bin Clover“, stellte sie sich vor.

„Oh, wir stehen doch fast ständig in Kontakt miteinander. Wir haben ja …“, Annika fiel ein, dass im Dorf wohl niemand etwas von elektronischen Medienwie Computer, Ebus oder auch Armbanduhren mit ihren vielen Funktionen gehört hatte. Sie überlegte: „Also, wir haben Geräte, mit denen wir miteinander kommunizieren können, elektronisch … also, mit Leuten, die manchmal auch weit weg sind, sogar in den anderen Städten, und mit denen wir trotzdem sprechen können und uns sehen können auf Bildschirmen und so. Versteht ihr, wir sind ganz viel in Verbindung, auch wenn wir Zuhause sind. Wir stehen also mit der ganzen Welt in Verbindung. … Also, wir sind Zuhause, in unseren Zimmern, und können trotzdem miteinander sprechen, als ob wir zusammen sind“, sie sah die fragenden Gesichter um sich. Niemand wusste, was Annika meinte. Deshalb sagte sie: „Aber wir sind ja nicht jeden Abend nur Zuhause. Manchmal treffe ich mich mit meinen Freunden aus der Schule im Club oder im Park. Wir haben einen Jugendclub, wo wir uns treffen können. Da können wir drinnen sitzen oder draußen im Hof und können miteinander reden oder Musik hören – fast so wie hier. Da gehen wir auch mit denen hin, die ihr Semester bei uns verbringen. Sie wohnen sonst ja im Institut; da gibt es extra Zimmer über den Unterrichtsräumen. … Nein, allein bin ich wirklich nicht. Nur, wenn ich mal für mich sein will, dann kann ich mich eben in mein Zimmer zurückziehen und wenn ich die äh … Geräte nicht einschalte, stört mich da niemand. … Habt ihr hier denn keine eigenen Zimmer?“

Annika war verblüfft, als die Gruppe verneinte. Wie waren sie denn untergebracht? Vor ihrem inneren Auge stand das Bild von Jonathans Zimmer mit all dem Gedränge, dem Lärm und der Unruhe, als sie nach dem Unterricht einmal alle mit hinauf gegangen waren. Erschrocken fragte sie: „Jeder will doch mal allein sein, oder? Hast du nicht auch mal den Wunsch, ganz allein zu sein?“, fragte sie Clover.

„Doch, aber dann gehe ich an den Fluss und setze mich in ein Boot oder gehe in den Wald. Da finde ich immer einen Platz, wo ich allein sein kann.“

„Aber im Wald, da sind doch die gefährlichen Tiere. Hast du keine Angst?“

Nun mischten sich mehrere der jungen Leute ein, erklärten, dass der Wald doch in der Nähe des Dorfes nicht gefährlich sei, zumal sie ja Jäger hätten und auch die Wächter dafür sorgen würden, dass niemandem etwas passieren konnte.

„Du musst mal mit mir mitkommen, ich zeig’s dir“, erklärte Whitewave, errötete dann wieder bis unter die Haarwurzeln.

„Lass mal gut sein“, grinste Clearwater, „aber in den Wald geht sie mit mir oder Greenleaf. … Komm, wir müssen jetzt weiter. Macht’s gut, Leute; wir sehen uns heute Abend.“ Damit standen die Mädchen auf und verließen das Haus.

„Brauchst du Ruhe?“, fragte Clearwater dann und, als Annika den Kopf schüttelte, erklärte sie: „Dann zeige ich dir mal, was wir so alles haben. … Da vorne ist gleich die Bäckerei. Da backen sie das Brot für uns alle und auch, wenn wir feiern und Kuchen oder sowas haben wollen, machen sie das.“ Schon traten sie in das Haus mit dem großen, gemauerten Ofen. „Hallo Greengrass, hallo Heather“, grüßte sie eine kräftige Frau und ein Mädchen von 16 Jahren, die eben, ein fröhliches Lied singend, Brote auf einem großen Tisch stapelten. Beide hatten gerötete Gesichter; Annika konnte selbst am Eingang die Wärme der Laibe fühlen.

„Heather lernt hier bei Greengrass“, erklärte Clearwater, „Sie backen hier auch die Brote für unsere Küche – das schaffen die da sonst nicht alles. … Hast du schon mal Brot gebacken?“

Annika schüttelte den Kopf. „Bei uns backt niemand. … Ich meine, irgendwer backt schon, natürlich, aber wir bekommen das Brot fertig nach Hause gebracht – geschnitten ist es dann auch schon. Meistens sogar schon fertig belegt. Die backen das in den Fabriken. Wir haben nicht mal einen Ofen, nur einen Warmhalte-Schrank.“

Nun staunten die anderen. Eine Küche ohne Ofen, das konnten sie sich nicht vorstellen. Hier im Dorf hatte jeder einen, auch wenn sie das Brot aus der Bäckerei holten. Greengrass forderte Heather lächelnd auf zu erzählen, was sie so alles herstellten. Annika wunderte sich – nicht nur darüber, was so alles in einer Bäckerei gebacken wurde, sondern auch darüber, wie frei und ungezwungen die beiden Mädchen mit der Frau umgingen. Greengrass war doch die Lehrerin von Heather, wie konnte das Mädchen da scherzend sagen: „Aber Greengrass ist stark wie ein Ochse, sieh dir nur ihre Arme an!“

Die Bäckerin lachte nur und schlug vor, Annika zu zeigen, wie Brot gebacken wurde und bald standen die Mädchen neben Heather in der Backstube und sahen zu, wie der schwere Teig geschlagen und zu Laiben geformt wurde, bevor er in den Backofen kam, der mehrere Laibe fasste. Annika durfte den rohen Teig probieren, doch er schmeckte ihr nicht.

„Davon darfst du nicht zu viel essen, du kriegst sonst Magenschmerzen“, erklärte Heather. Hastig wischte Annika ihren Finger an einem Lappen ab, den das Mädchen ihr reichte. Sie hatte ohnehin meist nach den Mahlzeiten Probleme mit dem Magen, der die ungewohnte Kost nur unter grollendem Protest verarbeitet.

„Weißt du“, wandte Heather sich an Annika, „Ich bin richtig gerne hier. Ich wollte auf keinen Fall Jägerin werden. Ich wollte immer Bäckerin werden, das macht mir richtig Spaß. Also war ich froh, dass ich kein Talent zum Jagen habe, als ich das Prüfungsjahr gemacht habe.“

„Oh“, staunte Annika. Nach den Erzählungen von Clearwater und Greenleaf hatte sie erwartet, dass jeder danach strebte, Jäger zu werden. Annika wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ist das immer so schrecklich warm hier?“, fragte sie dann.

„Man gewöhnt sich daran“, erklärte Heather achselzuckend, „Schlimmer ist, dass du als Bäcker schon so früh anfangen musst, kurz vor Sonnenaufgang, bevor die Leute aufstehen – damit alle Brot bekommen. Die Leute wollen ja zum Frühstück frisches Brot haben. Wir backen jetzt noch die Brote für das Heim. Die sind für heute Abend und für morgen früh. … Na ja, aber dafür hast du dann Schluss, wenn die Brote da aus dem Ofen sind. Dann hast du noch den ganzen Tag vor dir. Das ist schön.“

„Dann wollen wir dich arbeiten lassen“, sagte Clearwater, „Wir haben nämlich auch noch zu tun. Ich muss Annika das Dorf zeigen. Bis später!“

Als sie aus dem Laden gingen, drückte Greengrass Annika zum Abschied einen Laib in den Arm. Die stammelte überwältigt ihren Dank, dann gingen die Mädchen weiter.

„Das ist ja nett! Was soll ich damit machen?“

„Gib es Rainbird. Dann habt ihr heute Abend frisches Brot. Vielleicht kommen Greenleaf und ich ja auch zum Abendessen vorbei – mal sehen. … Aber Greengrass ist immer nett. … Bei uns muss niemand hungern, wir sorgen für alle. Das gleicht sich aus, weil: Wir arbeiten arbeitsteilig. Jeder macht das, was er am besten kann und hilft damit der Gemeinschaft. Greengrass backt Brot und wir jagen und Rainbird ist Heilerin. Und jeder ist mal mit dem Wachdienst dran, wenn auf den Feldern gearbeitet wird. Damit kommen wir gut über die Runden und außerdem stärkt das den Zusammenhalt. … Aber wir arbeiten natürlich nicht nur für die Gemeinschaft, nicht wie die Ameisen. Wenn alle das haben, was sie zum Leben brauchen, dann hat jeder noch genug Zeit, für sich das zu machen, was er zusätzlich machen will, verstehst du?“ Annika war sich nicht sicher und Clearwater fuhr fort: „Ich meine, wenn ich etwas Besonderes haben will, kann ich das, das ist in Ordnung. Wir müssen nicht alle nur das Gleiche haben, wir sind ja Individuen. Also, ich kann mir ein buntes Hemd nähen oder eine Kette aufziehen, wenn ich will, aber erst, nachdem ich meine Wache beendet habe oder mit der Jagd fertig bin. Oder ich kann einfach sitzen und lesen, das geht natürlich auch.“

Annika nickte, jetzt hatte sie verstanden. „Bei uns ist das ähnlich. Jeder arbeitet für das Gemeinwohl, wir in den Instituten oder in der Verwaltung und die Arbeiter in den Fabriken. Aber bei uns gibt es Geld für die Arbeit. Gibt es das bei euch nicht?“

Clearwater verneinte. „Warum gibt es bei euch Geld? Wozu braucht ihr das?“

„Na ja, jeder bekommt Lohn für seine Arbeit und kann sich dann dafür etwas kaufen. Ich meine, die Wohnung und Kleider und Essen erarbeiten wir alle, dafür müssen wir nicht bezahlen. Aber wenn wir mal feiern und so und dann besonderes Essen bestellen; oder wenn wir abends ausgehen und mal was trinken wollen oder ins Kino gehen oder so, dann müssen wir dafür bezahlen, weil das ja nicht jeder im gleichen Maße macht. Verstehst du? Jeder kann abends so viel machen wie er will – er bezahlt ja dafür. Aber alles, was alle gemeinsam haben müssen, muss nicht bezahlt werden. Bei uns heißt das Grundsicherung. Die ist für alle gleich. Siehst du, die Rechner und was wir sonst noch so für die Schule brauchen, bekommen wir von der Schule gestellt, aber es sind letztendlich auch wieder alle, die mit ihrer Arbeit die Schulen finanzieren. … Und natürlich bekommen wir einen höheren Lohn für die Arbeit als die Arbeiter – wir tragen ja auch mehr Verantwortung.“

„Dann könnt ihr euch also mehr Zusätzliches leisten als die Arbeiter, ja?“, fragte Clearwater verwundert. „Gibt das keinen Ärger?“ Annika schüttelte den Kopf. So weit sie wusste, waren die Arbeiter sehr zufrieden mit ihrem Leben.

Sie kamen an den nächsten Häusern vorbei und Clearwater erklärte Annika, wozu es die Spinnstube, die Weberei, die Schneiderei und den Schuster gab und, in groben Zügen, wie Wolle oder Leinen gesponnen, dann zu Stoff verarbeitet und Kleider daraus geschneidert wurden und wie Leder gegerbt wurde, um daraus Schuhe, Gürtel und Westen zu fertigen. Für Annika war das alles fremd. Sie bekamen täglich ihre Kleidung geliefert, neu und passend. Eine Entscheidungsmöglichkeit hatten sie nicht. Alles, was sie sonst über das Anfertigen von Kleidung wusste, hatte sie in der Schule gelernt oder in einem der alten Bücher gelesen; gesehen hatte sie diese Tätigkeiten noch nie.

Inzwischen waren sie beim Haus von Rainbird angekommen und Annika brachte das Brot in die Küche. Die Haustür war nicht verschlossen – niemand verschloss seine Tür im Dorf, erklärte Clearwater. Die Heilerin war nicht da, sie war wohl im Wald unterwegs. „Komm, wir gehen sie suchen“, schlug die Jägerin vor. Noch einmal liefen sie zurück zum Heim. Staunend folgte Annika ihrer Freundin in den Schlafsaal hoch. Vier Mädchen teilten sich einen Raum, in dem Etagenbetten, einige Kleidertruhen und ein Tisch mit mehreren Stühlen standen. Über den Betten waren Regale angebracht, auf denen die Bewohnerinnen des Zimmers persönliche Kleinigkeiten oder Bücher stehen hatten. Die Betten waren mit bunten Decken bedeckt, auf dem Boden lagen Webteppiche. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster strömte, ließ den Raum heiter und freundlich aussehen. Clearwater ließ Annika jedoch keine Zeit, sich umzusehen. Sie ergriff ihren Bogen und rannte die Treppe hinab.

Draußen mäßigte sie ihr Tempo. Sie verließen das Dorf, blieben kurz unter dem Wachturm stehen, von dem aus Whitewave sie grüßte, der wieder seinen Posten eingenommen hatte. „Los komm“, drängelte Clearwater und bald waren sie unter den Bäumen. „Endlich!“, rief die Jägerin, „Endlich wieder im Wald!“

Es war schon ein anderes Gefühl, nicht mehr laufen zu müssen, dennoch fühlte Annika sich nicht wirklich wohl. Immer noch fand sie den Wald furchteinflößend. Insekten flatterten umher, krochen über Äste und Zweige, kamen ihr bedenklich nah; über ihren Köpfen raschelte es, machten Vögel seltsame Geräusche, flogen dann mit rauschendem Flügelschlag davon; Zweige und Laub bewegten sich, kleine Tiere huschten ungesehen durch das Dickicht; manchmal erklang ein Schnüffeln. Plötzlich schrie Annika auf; an einem hauchfeinen, glänzenden Faden ließ sich ein vielbeiniges Tier vor ihrer Nase von einem Ast herab.

„Das ist doch bloß eine Spinne“, beruhigte Clearwater, „Sieh nur, sie weben wundervolle Netze“, und sie zeigte auf ein großes Radnetz, das zwischen den Zweigen hing. Annika schüttelte sich. Sie sah nicht die perfekte Gleichmäßigkeit der Spirale, sondern die Fliege, die darin zappelte während die Spinne langsam auf sie zu glitt.

„Oh, guck nicht so ängstlich. Der Wald ist wirklich schön - komm, du musst nur richtig hinsehen“, damit zog die Jägerin ihren Gast mit sich. Du liebe Güte, hatte dieses Mädchen denn vor allem Angst? Wie sollte sie Annika nur zeigen, dass man den Wald nicht fürchten musste, überlegte Clearwater. Was konnte, was musste sie tun, um es ihr zu beweisen? Nach einigem Überlegen hatte sie eine Idee. Schnell lief Clearwater los und ließ der anderen kaum Zeit, ihr zu folgen. Nach einer Weile hatten sie das Ziel erreicht. Die beiden Mädchen hockten sich an das Ufer eines ruhigen Baches und Annika sah kleine Fischlein flink durch das klare Nass flitzen. Am Ufer blühten Blumen in vielen Farben, wuchsen bis dicht an das Wasser, erfüllten die Luft mit einem süßen Duft. Schmetterlinge gaukelten von Blüte zu Blüte, tauchten ihre langen Saugrüssel hinein. Ihre bunten Flügel schimmerten im Sonnenlicht. Dicke, pelzige Hummeln summten umher. Wenn sie sich auf einer Blüte niederließen, sank diese ein ganzes Stück tiefer Richtung Boden. Annika musste lachen. Clearwater stimmte ein und sagte: „Man sollte meinen, dass die gar nicht fliegen können, so schwer und pummelig wie sie sind, nicht wahr? Aber trotzdem tun sie es. Sie sammeln Nektar, wie die Schmetterlinge. … Und siehst du, die Bienen dort auch. Die machen Honig daraus. Der ist total lecker. Bestimmt hast du heute morgen welchen gegessen, nicht wahr?“

An einem Baum wuchsen Pilze in leuchtendem Orange, am Boden andere in merkwürdigen Formen. „Die kann man nicht essen“, erklärte Clearwater und zeigte auf einige gräuliche Pilze, die Annika an Hände erinnerten, „Aber die hier sind lecker.“ Die Jägerin schnitt einige große Blätter von einer Staude, breitete sie aus und bald hockten die beiden Mädchen unter einem ausladenden Baum und sammelten Maronenröhrlinge. Sie dufteten herrlich. Schnell hatten sie einen großen Haufen auf ihren Blättern. „Hm, die müssen verarbeitet werden. … Nun, es wird ohnehin bald Abend. Lass uns zurück gehen. Der Wald läuft ja nicht weg und wir können bald wieder kommen.“ Sie wandten sich zum Gehen.

Als sie am Wachturm vorbei kamen, schwang Greenleaf sich herab, der sich dort oben mit Whitewave unterhalten hatte und schloss sich ihnen an. Gemeinsam gingen zum Haus von Rainbird, die sich über das Brot ebenso freutewie über die Pilze und die ihre Kinder – wie Clearwater es vorhergesehen hatte – zum Essen einlud.

Kritisch blickte die Heilerin auf Annikas gerötete Haut. Sollte sie das Mädchen darauf ansprechen, dass sie einen leichten Sonnenbrand hatte? Besser nicht, Annika neigte dazu, bei allem, was sie nicht kannte, in Panik zu geraten. Sie würde ihr nach dem Essen eine kühlende Salbe geben, zusammen mit dem Hinweis, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Rainbird seufzte leise: Dieser Gast war sehr speziell. Es war nicht einfach mit ihm. Dennoch, sie mochte das Mädchen, das so anders war als ihre Zwillinge. Sie mochte ihre Freundlichkeit, die guten Manieren, aber auch die Neugier und Bereitschaft, mit der sich Annika auf das Abenteuer Leben im Dorf mutig einließ, auch wenn es so vieles hier gab, dass ungewohnt war und sie erschreckte. Sie nahm das Mädchen ohne Kommentar mit in die Küche.

Während die Zwillinge den Tisch im Garten deckten und dabei ein Programm zu Annikas Unterhaltung für die nächsten Tage überlegten, lernte diese unter Rainbirds Anleitung das Putzen der Pilze. Interessiert sah sie dann zu, wie die Stücke in einer großen eisernen Pfanne gebraten wurden. Doch was war das? Sie hatten so viele Maronenröhrlinge gesammelt und jetzt schrumpften sie in der Pfanne auf die Hälfte zusammen! Die Hausfrau erklärte dem Mädchen, dass Pilze eben viel Wasser enthielten, das beim Braten verdunstete. Trotzdem würden sie für alle reichen. Bald saßen alle vier auf der Terrasse und verspeisten eine leckere Mahlzeit. Zu den gebratenen Pilzen gab es dicke Scheiben dunklen Brotes mit Butter. Zum Nachtisch reichte Rainbird frische Früchte aus ihrem Garten. Anschließend trugen sie gemeinsam das Geschirr in die Küche und Greenleaf und Clearwater übernahmen den Abwasch.

„Lass uns die letzten Strahlen der Abendsonne genießen“, schlug Rainbird vor und wandte sich zur Tür. Erschrocken blickte Annika auf ihre Arme – schon wieder Sonne?

„Oh, fast hätte ich’s vergessen“, erinnerte sich Clearwater, „Kannst du Annika was zum Kühlen geben? Für ihren Sonnenbrand.“

Rainbird öffnete die Speisekammer und entnahm dem kühlen Raum einen Topf. „Eigentlich wollte ich ihn dir nachher geben, bevor du schlafen gehst. Aber jetzt ist auch in Ordnung. Vielleicht sogar besser, dann schmierst du nicht das Bett ein. Hier, streich dir den Quark darauf. Der kühlt wunderbar und morgen ist alles weg. Mach dir also keine Sorgen, es ist nicht schlimm. Aber ich kann dir sonst nachher auch noch eine Salbe geben.“

Greenleaf lachte: „Irre, dann siehst du aus wie ein Monster.“ Als Annika ihn beleidigt ansah, fügte er hinzu: „Aber das macht nichts. Es sind ja nur wir heute da, mehr kommen nicht – also sieht dich keiner.“

Rainbird half Annika, Gesicht, Arme und Oberschenkel mit Quark zu bestreichen und gab ihr einen Spiegel, damit sie sehen konnte, was Greenleaf gemeint hatte. Bei ihrem Anblick musste das Mädchen lachen. Sie sah wirklich seltsam aus mit der weißen Masse im Gesicht. Nachdem die Frau sie zudem beruhigt hatte, dass die Abendsonne keine Kraft hatte, die Haut zu verbrennen, ging sie beruhigt mit in den Garten. Sie setzten sich auf die Gartenbank und blickten auf den Fluss, der behäbig dahin strömte, übergossen von den letzten goldenen Sonnenstrahlen. Auch die Zwillinge gesellten sich ihnen bald zu, brachten Becher, einen Krug köstlichen Birnensaft, sowie eine Schüssel mit Wasser. Clearwater half Annika, den getrockneten Quark von ihrer Haut zu waschen. Danach genossen sie die friedliche Stimmung. Bald wurde der Himmel grau und Fledermäuse schossen lautlos über die Wiesen am Ufer dahin. Grillen zirpten; in der Ferne sang eine Nachtigall.

„Wie ist das schön“, stellte Rainbird nach einer Weile fest, „Wie lange haben wir schon nicht mehr hier zusammen gesessen.“ Eine Weile schwiegen alle, dann erklärte die Heilerin: „Weißt du, als die beiden noch hier gewohnt haben, haben wir fast jeden Abend im Garten gesessen und uns unterhalten. Jetzt habe ich manchmal die eine oder andere Freundin zu Besuch, da bin ich nicht einsam. Trotzdem ist es schön, meine beiden mal wieder hier zu haben. … Ja, früher haben wir, wenn es dunkel wurde, gesungen – erinnert ihr euch noch?“

Clearwater nickte und begann mit leiser Stimme zu singen: „Abendstille überall, nur am Bach die Nachtigall ...“

Greenleaf und Rainbird fielen in den Kanon ein. Annika kamen die Tränen. Wie wundervoll war das Lied, wie perfekt passte es in die zunehmende Dunkelheit hier. Sie hatte selten etwas so Schönes gehört. Bald war das Lied beendet und es trat wieder Stille ein. Dann fing Greenleaf an: „Hey ho, anybody home? Food and drink and money have I none …“ Wieder fielen die beiden anderen ein und sangen auch den Kanon gemeinsam. Das Lied klang traurig und doch gleichzeitig hoffnungsvoll.

„Gibt es ein Lied, das du gerne singen möchtest?“, fragte Clearwater anschließend, aber Annika schüttelte den Kopf.

„Wir haben nicht so schöne Lieder. … Eigentlich singt bei uns niemand. Ich meine, wir haben auch Musik – richtig schöne Musik, großartige Musik – aber wir spielen sie nur. Jeder bei uns kennt Mozart oder Beethoven oder Ravel, aber wir hören uns die Musik nur an. Und wir haben auch Jazz und Blues und so, aber alles ist nur instrumental. Wir haben extra … Geräte, mit denen man Aufnahmen abspielt.“ Als sie die verständnislosen Gesichter sah, fuhr sie fort: „Die Musik, die wir spielen, wurde vor vielen, vielen Jahren aufgenommen – fast alles noch vor der Katastrophe. Zum Glück sind irgendwie die meisten Aufnahmen erhalten geblieben. Und wir haben, … haben eben kleine Geräte, die wir in die Ohren stecken können, da können wir aussuchen, welche Musik wir hören wollen – dann wird die abgespielt und wir können sie uns anhören. Oder wir setzen Kopfhörer auf und … na ja, meist hören wir die Musik für uns, jeder das, was er eben möchte; aber Zuhause spielen wir sie manchmal auch für alle über Lautsprecher. … Aber das eben, das was ihr gemacht habt, das war so ganz anders. Ich, ich finde es schön, richtig schön, wie ihr singt. Das würde ich auch gerne können.“

„Na, das sollte ja wohl kein Problem sein. Wir bringen es dir bei. Pass auf!“, befahl Greenleaf und sang: „In die Sonne, die Ferne hinaus ... sing nach!” Er wiederholte die Töne.

Annika weigerte sich zuerst: „Ich kann das nicht“, doch der Junge gab nicht auf.

„Los, stell dich nicht so an. Jeder kann singen. Sing!“

Zunächst schüchtern sang das Mädchen leise nach, was er ihr vor gab. Nach mehreren Versuchen aber, fasziniert vom Klang ihrer eigenen Stimme, folgte sie schließlich kräftiger den Anweisungen des Jungen. Clearwater fiel ein und bald sangen die drei: „... dann erklingen unsre alten Lieder …“ Rainbird hörte lächelnd zu.

Nach einer Weile sagte Clearwater: “Wir müssen morgen früh raus. Weißt du, morgen können wir nichts mit dir unternehmen, wir müssen beide in den Wald. Ist das in Ordnung, wenn du bei Rainbird bleibst?“ Annika hatte keine Einwände. Vielleicht war es ja schön, mal einen Tag nicht in den Wald zu gehen – obwohl, heute war er ihr nicht so schrecklich erschienen, wie zuvor. Trotzdem, es interessierte sie sehr, auch das Leben hier im Dorf kennen zu lernen.

„Lasst uns noch ein Lied singen – zum Abschluss – dann müssen wir los“, sagte Greenleaf. Er erhob sich, trat an den Rand der kleinen Terrasse. Clearwater gesellte sich ihm zu und sie begannen: „Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsre weit und breit …“ Wieder sang auch Rainbird mit ihrer dunklen Stimme mit. Lange nachdem der letzte Ton verklungen war, standen die schwarzen Silhouetten der Zwillinge noch vor dem Nachthimmel. Sie umarmten herzlich ihre Mutter und, zu deren Erstaunen, auch Annika, dann drehten sie sich um, winkten still zum Abschied und verschwanden über den Pfad, der um das Haus herum auf die Gasse führte.

Auch Rainbird erhob sich. „Es wird feucht, lass uns hinein gehen. Wir haben morgen einen arbeitsreichen Tag vor uns.“

In der Haustür blickte Annika noch einmal zurück. Der Mond war aufgegangen, glänzte auf dem Wasser. „Das war so schön eben“, seufzte sie. Dann schloss sich die Tür und das Mädchen stieg in die Kammer, in der vor Jahren die Geschwister geschlafen hatten. Der Raum war nicht sehr groß, lag unter der Dachschräge. Neben den Betten mit dem Regal am Kopfende gab es nur zwei Truhen für die Kleider, einen Waschtisch und einen Stuhl. Dennoch wirkte das Zimmer nicht beengt, sondern gemütlich und anheimelnd. Das Fenster war offen; die Grillen zirpten, doch Annika lag kaum im Bett, da schlief sie schon und nahm nichts mehr um sich herum wahr.

Greenleaf

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