Читать книгу Greenleaf - Gertrud Rust - Страница 5
3. Stadt, Dorf, Fluss
ОглавлениеAls sie erwachte, war der Himmel noch grau; der Tag hatte noch nicht begonnen. Mit einem Ruck setzte Annika sich auf. Dieser entsetzliche Traum! Sie war durch den Wald gerannt, weiter und immer weiter. Hinter sich hatte sie diese dumpfen, dröhnenden Schritte gehört, die näher und näher kamen. Sie hatte nicht gewagt sich umzudrehen, war um ihr Leben gerannt und doch waren die Schritte immer näher gekommen. Sie hatte nicht entkommen können. Dann, als sie gespürt hatte, wie etwas nach ihr griff, war sie erwacht. Ihr Herz raste, die Kehle war trocken von einem Schrei, den sie gar nicht ausgestoßen hatte. Benommen setzte sie sich auf. Was war das? Erschrocken rieb Annika ihre Hände; nicht nur ihr Kopf, auch ihre Finger- und die Kniegelenke schmerzten. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Ihr war kalt und sie zitterte. Sorgfältig zog sie die Decke fest um sich, drehte dem Fenster den Rücken zu, doch es dauerte eine Weile, bis sie wieder einschlief.
Als sie das nächste Mal aufwachte, war heller Tag. Vor dem Fenster sang eine Amsel. Die Tür öffnete sich und Rainbird trat ein: „Guten Tag, du Langschläferin. … Was ist mit dir?“
„Mein Kopf … mir ist so heiß“, klagte das Mädchen.
Die Heilerin beugte sich über sie, fühlte mit kühlen Händen ihre Stirn. „Oh je, du hast Fieber. Die letzten Tage waren wohl zu viel für dich. … Aber mach dir keine Gedanken“, ergänzte sie, als sie das besorgte Gesicht Annikas sah, „bleib einfach im Bett und schlaf dich aus. Ich bringe dir gleich etwas zu trinken, denn du wirst sicher Durst haben“, damit verließ sie den Raum. Als sie kurze Zeit später mit einem Becher Holundersaft zurück kam, schlief Annika bereits wieder.
Das Mädchen erwachte am frühen Nachmittag. Die Gliederschmerzen waren weg, doch noch nie hatte sie sich so heiß und kraftlos gefühlt. Was war nur mit ihr los? Durstig trank sie den Becher leer, der auf dem Stuhl neben dem Bett stand. Danach fühlte sie sich besser. Sie stand auf – und musste sich gleich wieder hinsetzen. Wie schwach sie war! Was geschah hier mit ihr? Eine Weile blieb sie einfach sitzen, horchte voller Angst in ihren Körper, schaute blicklos aus dem Fenster. Dann gab sie sich einen Ruck: Was würde Rainbird nur denken, wenn sie den ganzen Tag im Bett lag, überlegte Annika. Sie erhob sich wieder und stieg mit wackeligen Beinen die Treppe hinab. „Oh, du hättest aber nicht aufstehen müssen“, nahm die Heilerin das Mädchen in Empfang. „Wenn man Fieber hat, sollte man ruhen!“
„Warum habe ich Fieber?“, fragte Annika kläglich, „ich fühle mich so schlapp.“
Noch einmal erklärte Rainbird dem Mädchen, dass das Fieber wohl die Nachwirkung der Anstrengungen und Aufregungen der vergangenen Tage war. Es war normal, dass ihr Körper darauf reagierte. Annika jedoch war verängstigt. Sie war noch nie krank gewesen – in der Stadt wurde niemand jemals krank. Rainbird, die sah, dass sich das Mädchen kaum auf den Beinen halten konnte, fragte: „Wie sieht es aus, möchtest du dich auf das Sofa legen oder wollen wir in den Garten gehen und du legst dich auf die Bank!“
„Geht das denn draußen?“
„Aber sicher doch. Komm, ich nehme die Decke und die Kissen mit und dann hast du es ganz gemütlich.“ Schnell hatte Rainbird auf der Terrasse ein bequemes Lager für Annika zurecht gemacht und sie erneut mit Saft versorgt. Eine Weile döste das Mädchen im Schatten des Hauses während die Heilerin am Tisch saß und Kräuter in einem Mörser fein zerrieb.
Die Sonne stand schon tief, als Annika wieder Anteil an ihrer Umgebung nahm. „Was machen Sie da?“, fragte sie neugierig.
„Das wird eine Salbe gegen Gelenkschmerzen. … Aber du musst nicht ‚Sie‘ zu mir sagen, wir duzen uns hier alle im Dorf“, erklärte Rainbird und rührte weiter in der duftenden Creme, unter die sie die zermahlenen Kräuter gemischt hatte.
Annika wunderte sich: „Aber dadurch bezeugt man seinen Respekt und man muss doch Älteren und höher Stehenden gegenüber seinen Respekt bezeugen.“
„Hm, wir bezeugen einander Respekt, indem wir versuchen, höflich miteinander umzugehen, alle.“
„Ja, das soll man auch, natürlich. Aber haben Sie … ich meine, habt ihr gar keine … hm, wie soll ich das sagen … ist niemand bei euch höher gestellt als die anderen? Gibt es keinen … Präsidenten oder … Dorfvorstand oder so?“, fragte das Mädchen skeptisch.
„Nein, bei uns sind alle, die erwachsen sind, gleichberechtigt – und das sind alle, die einmal die Prüfung abgelegt haben. Jeder weiß doch, was er zu tun hat und wenn mal Entscheidungen zu treffen sind, dann versammeln wir uns und besprechen, was geschehen soll. Du kannst es Basisdemokratie nennen. … Das geht, weil unser Dorf ja relativ klein ist.“
„Aber wer trifft denn dann die Entscheidung, wenn etwas mal ganz dringend ist und … äh, alle unterwegs sind oder so?“
„Nun, wenn dem Dorf Gefahr aus dem Wald droht – und das ist die einzige Gefahr, die ich mir vorstellen kann – dann treffen die Jäger die Entscheidung. Sie sind ja erfahren und wissen, was zu tun ist, wenn zum Beispiel die Großschnäbel angreifen. Na ja, und wenn der Wächter das Horn bläst, eilen alle hinter die Palisade. Da hat er natürlich die Entscheidung und auch die Verantwortung – dafür ist er ja da. Aber sonst? Wenn der Fluss Hochwasser führt und die Felder und Häuser am Ufer bedroht, dann entscheiden die Menschen, die dort wohnen, selbst, ob sie ihre Habe in die Versammlungshalle bringen oder bleiben wollen. Das können sie doch selbst entscheiden. Natürlich helfen die Nachbarn und alle anderen dann mit. Tja, und sonst? … Ich wüsste keine Situation, in der es jemanden geben muss, der die Entscheidung allein trifft. … Wenn Feuer ausbricht vielleicht. Aber auch dann schreit jemand um Hilfe und alle kommen, löschen und retten, was zu retten ist. Und wir haben jemanden, der an der Feuerspritze das Kommando gibt; aber um eine Eimerkette zu bilden, braucht es doch keinen, der befiehlt. Nein, bei uns gibt es niemanden, der höher gestellt ist als die anderen.“
Annika konnte sich das nicht vorstellen: Niemand bestimmte was zu tun war und trotzdem lief alles hervorragend? Gab es denn keinen Streit?
„Natürlich gibt es auch mal Uneinigkeit oder Streitigkeiten. … Manchmal auch richtigen Streit“, bestätigte Rainbird, „aber dann treffen wir uns und reden darüber. Und es gibt immer jemanden, der zwischen beiden Parteien vermittelt und schlichtet. Wir sind ein friedliebendes Volk; wir wissen ja, dass wir aufeinander angewiesen sind, wenn wir leben wollen, gut leben wollen. Da wären wir dumm, wenn wir uns ständig streiten würden.“
„Tragt ihr deswegen alle bunte Kleider?“, fragte Annika, doch Rainbird verstand ihre Frage nicht. „Kann jeder einfach das tragen, was er will?“, versuchte nun das Mädchen ihre Gedanken zu erklären.
„Ja, sicher. Wobei: Die Jäger tragen natürlich Kleider in Braun oder Grün damit sie bei der Jagd nicht zu sehen sind. Das hast du ja bei meinen beiden gesehen. Aber sonst … ja, jeder kann tragen, was er will. … Na ja, vielleicht hast du den Eindruck gewonnen, dass wir alle einheitlich gekleidet sind mit all den kurzen Hosen und Hemden, aber weißt du, es ist ja fast immer warm hier bei uns, da ist das am praktischsten. … Ich mag dunkelrot am liebsten, deshalb trage ich fast immer dunkelrote Oberteile – so ist das eben. Ist es bei euch anders?“
Annika erklärte, dass es in der Stadt zwei Gesellschaftsschichten gab und dass die Oberschicht helle Anzüge mit farbigen Säumen trug. Sie schilderte der Heilerin, wie es bei ihnen aussah.
Es war immer licht und hell. Die Häuser weiß, der Straßenbelag aus hellem Beton, das Licht gefiltert durch die blau-durchsichtigen Platten des Schutzschirmes. Alles wirkte sauber und hygienisch. Wenn man am Nachmittag auf die Straße trat, konnte man überall die Schülerin ihren cremefarbenen Anzügen mit den roten Säumen an den Hals-, Ärmelausschnitten und Bund sehen, die aus den Instituten strömten. Selbst die Gastschüler in den anderen Städten trugen die gleichen Anzüge. Es war ein schönes Bild – die einheitliche Kleidung und die hellen Farben vermittelten den Eindruck von Harmonie. Wenig später verließen dann auch die Wissenschaftler ihre Institutsgebäude und strebten, wie die Schüler, zu ihren Wohnungen. Auch sie trugen cremefarbene Anzüge, nur dass ihre Kleider grün gesäumt waren. Ihnen gesellten sich die Mitarbeiter der Verwaltungen und der Stadtgestaltung mit ihren orange gesäumten Anzügen zu. Lautlos glitten Elektrofahrzeuge heran, ließen Passagiere aussteigen oder nahmen andere auf und brachten sie auf eigenen Fahrstraßen mühelos zu ihrem Ziel. Am Park entlang, der inmitten der Stadt als grünes Band lag, glitten die Elektrofahrzeuge. Dort konnten die Menschen, wenn es ihnen Spaß machte, die Wege zwischen den sorgfältig gepflegten Rasenflächen entlang bummeln. Alle trugen helle Kleider, die Säume farbig abgesetzt. Nur die kleinen Kinder, die noch nicht zur Schule gingen und sich auf dem Spielplatz vergnügten, waren in schlichte helle Anzüge noch ohne jegliche Farbe gekleidet. Sie wurden von Kindergärtnern betreut, deren Kleidung blau abgesetzt war.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Parks, durch dessen Mitte sich das Band eines flachen Kanals wand, in dessen klarem Wasser Goldfische schwammen, eilten die Arbeiter ihren Wohnungen zu. Sie unterschieden sich von den Menschen auf der anderen Seite, denn sie trugen einheitlich blaue Anzüge.
Rainbird wunderte sich: „Aber warum tragen die Arbeiter andere Farben?“
Annika überlegte: „Vielleicht, damit man sieht, dass sie … na ja, dass sie die Arbeiter sind. Sie arbeiten in den Ställen und Gewächshäusern und in den Fabriken. Und sie bringen uns die Sachen, die wir brauchen und halten die Häuser sauber und so.“
„Ihr macht eure Wohnungen nicht selbst sauber?“
„Nein, wir arbeiten doch fast den ganzen Tag, da haben wir dafür keine Zeit.“
Rainbird schüttelte den Kopf. Gab es denn keinen Unfrieden; hatte denn niemand Angst davor, dass sich eine der beiden gesellschaftlichen Schichten gegen die andere auflehnte?
„Nein“, sagte Annika erstaunt, „warum sollten sie. Die Arbeiter sind zufrieden mit ihrer Arbeit. Die Arbeit, die sie machen, ist nicht zu hart und sie werden gut bezahlt. Außerdem müssen sie keine Entscheidungen treffen; sie tragen keine Verantwortung. Warum sollten sie da nicht zufrieden sein? Sie haben alles, was sie brauchen, genau wie wir. … Außerdem, man muss richtig viel lernen, um später Wissenschaftler oder Stadtverwalter zu werden, das kann nicht jeder. Und wer das nicht kann, der wird eben Arbeiter. … Außerdem, einer muss doch die Anweisungen geben, entscheiden, was wichtig ist für die Stadt. Wenn jeder entscheiden will, bricht doch Chaos aus.“ Das Mädchen überlegte einen Moment, errötete dann leicht. Trotzdem fügte sie hinzu: „Bei euch schafft doch auch nicht jeder die Prüfung zum Jäger – das haben Clearwater und Greenleaf gesagt.“
Rainbird nickte; nicht jeder konnte Jäger werden und genauso war nicht jeder dazu geboren, Wissenschaftler zu sein. Trotzdem hatte sie den Eindruck, dass es Unterschiede gab. Schließlich versuchte sich jeder der Dorfbewohner an der Prüfung und wenn auch die Jäger aufgrund ihrer Fähigkeiten als etwas Besonderes angesehen wurden, hatten sie im Dorf doch nicht mehr zu sagen, als jeder andere. Das erklärte sie Annika. Dann jedoch hielt sie inne: „Ich glaube, wir sollten über solch ernste Themen erst wieder sprechen, wenn es dir besser geht. … Ruh dich noch ein wenig aus.“
„Aber es geht mir schon viel besser, wirklich.“
Die Heilerin fühlte die Stirn des Mädchens. „Ich glaube, du hast Recht. Das ist ja wundervoll. Trotzdem bleibst du erst einmal noch hier liegen und ich hole uns beiden das Abendessen hier auf die Terrasse. Dann schläfst du nachher gut und morgen bist du wieder auf den Beinen.“
Den nächsten Tag verbrachte Annika noch beim Haus, ruhte sich aus und half Rainbird, Kräuter zu putzen und zum Trocknen zusammen zu binden. Sie fühlte sich schon wieder besser.
Ein junger Mann kam vorbei. Er war Fischer, wie Rainbird später erklärte. Annika betrachtete neugierig sein Gesicht, wandte dann verlegen den Blick ab, als er sie angrinste. Sie hatte schon festgestellt, dass manche der Männer im Dorf Bart trugen, aber noch keinen von ihnen aus der Nähe angesehen. Wo sie herkam, waren alle Männer glatt rasiert. Doch der junge Fischer sah gut aus mit seinem kurzen Bart, wirkte verwegen. Dann erst bemerkte das Mädchen das blutige Tuch und drehte sich schnell zur Seite. Der Mann war beim Ausnehmen der Fische mit dem Messer abgerutscht und hatte sich eine tiefe Schnittwunde zugefügt, die die Heilerin nun mit einigen Stichen nähte, nachdem sie die Wunde mit einer betäubenden Tinktur eingestrichen hatte. Annika war unterdessen an den Rand der Terrasse getreten, blickte angestrengt über die Blumen auf den Fluss. Ihr war vom Anblick der blutigen Hand schlecht geworden und auf keinen Fall mochte sie ansehen, wie der Schnitt versorgt wurde. „So, das sollte erst einmal reichen. Stormcloud, du solltest mindestens zwei, drei Tage warten, bis du mit der Hand wieder Fische anfasst, hörst du?“, empfahl Rainbird.
Der junge Fischer erhob sich. „Gut, ein paar Tage frei tun mir sicher ganz gut. Mal sehen, ob Wildwind Zeit hat“, lachte er dann.
„Vergnügt euch nur, aber bei der Gartenarbeit darfst du ihr nicht helfen. Du willst ja keinen Wundstarrkrampf bekommen, nur weil Erde in die Wunde gekommen ist.“
Wieder lachte Stormcloud. „Dann nehmen wir uns einfach frei und ich lasse mich von ihr pflegen. Gute Idee eigentlich. … Du, Mädchen, du kannst dich wieder umdrehen. Das war doch gar nichts mit dem Schnitt. Du hättest mal Brooke sehen sollen, als der letztes Jahr den Arm mit dem Haken …“
„Hör auf“, unterbrach ihn Rainbird, „Erzähl deine Schauergeschichten Wildwind, wenn die sie hören will. … Geh jetzt und hör auf mich: Mach keinen Unfug!“
Lachend ging Stormcloud, die Hand dick bandagiert.
„Er ist ein Spaßvogel, Stormcloud“, lächelte die Heilerin, „aber er ist ein guter Fischer und er passt wunderbar zu Wildwind.“
Stormcloud, Wildwind, Rainbird … Annika überlegte. Sie errötete. „Entschuldige, ich … ich will dich, euch nicht kränken oder so, aber … hm, eure Namen – sie sind so … anders. Ihr habt alle so … so ungewöhnliche Namen.“
Die Heilerin lächelte. „Na, so ungewöhnlich sind sie nicht, zumindest bei uns nicht. Wie heißen denn bei euch die Leute?“
„Theo oder Jenni oder Benni und Hanna, na ja, so was jedenfalls. Meine Mutter heißt Berit und mein Vater Georg und meine Schwester Sina. Natürlich sind die Namen alle etwas anders aber selbst in Rom oder Warschau heißen sie Paolo oder Viktor oder so. So wie früher, vor der Katastrophe. Aber eure Namen sind so ganz anders – irgendwie“, versuchte Annika zu erklären.
„Hm, ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Du bist verwundert, dass wir alle Namen haben, die einen Bezug zur Natur haben, nicht wahr?“ fragte Rainbird, „Oder ist es, weil es englische Wörter sind?“, fügte sie hinzu.
„Beides.“
„Da muss ich ein bisschen ausholen“, erklärte Rainbird. „Warte, ich mache uns einen Tee und dann erzähle ich dir von unserer Geschichte.“ Bald saßen die beiden wieder auf der Terrasse, jede eine Tasse vor sich. „Vor der Katastrophe gab es viele Staaten auf den Kontinenten und die Leute haben verschiedene Sprachen gesprochen. Das wirst du sicher auch wissen.“ Annika nickte. „Dann geschah die Katastrophe, die die Welt an den Rand der Vernichtung brachte. Die Zivilisation, wie sie damals bekannt war, brach vollständig zusammen. Nach dem Zusammenbruch der alten Welt zogen sich einige der Überlebenden zurück in die Wälder und kehrten zurück zu einem Leben wie zu Urzeiten. Sie wollten sich nicht noch einmal einer unkontrollierbaren Technik aussetzen, sondern im Einklang mit der Natur leben. Die Vorfahren von uns Dorfbewohnern gehörten dazu. Meist taten sich Menschen zusammen, die aus einer Gegend kamen oder die gleiche Sprache sprachen. Sie zogen gemeinsam los und bildeten kleine Siedlungen, organisierten ihr Leben mit und in der Natur neu. Weil sie die Sprache sprachen, die sie schon vor der Katastrophe gesprochen hatten, gaben sie natürlich auch ihren Kindern Namen aus ihrem Sprachraum. … Doch unsere Vorfahren entschieden sich nicht nur für Namen in englischer Sprache, die mit ihrem Ursprung verbunden waren, sie wollten auch ausdrücken, wie sehr sie sich der Natur verbunden und verpflichtet fühlten. Deshalb erhielten alle Kinder Namen, die einen klaren Bezug zur Natur hatten, bis niemand mehr die alten Namen benutzte.
Trotzdem, wir sind nicht weltfremd. Wir achten sehr darauf, das Wissen über unsere Geschichte zu bewahren wie auch das Wissen, das unsere Vorfahren erworben hatten. Wir haben die Bibliothek oben auf dem Hügel, lehren unsere Kinder die alten Sprachen und wenden sie noch an, wenn auch manchmal nur in Liedern. Du hast ja einige schon gehört. … Zurück zur Geschichte: Irgendwann begannen dann die Menschen in den Dörfern auch ihre weitere Umgebung zu erforschen. Sie trafen auf andere Menschen, die ebenfalls in Dörfern lebten. Die Menschen begannen also, miteinander zu kommunizieren und zu handeln. Jedes Dorf kann ja auch nicht alles herstellen, was es braucht, also treiben wir Handel. Dafür ist es natürlich wichtig, sich mit den anderen verständigen zu können, doch nicht alle sprachen früher die gleiche Sprache. Aber die Menschen fanden eine Lösung und so ist dann im Laufe der Zeit die Weltsprache entstanden.“
„Aber wenn die Weltsprache zwischen den Dörfern entwickelt wurde, wieso sprechen wir sie auch? Wieso kann ich euch verstehen?“, wollte Annika wissen.
„Tja, das weiß ich nicht genau. Ich weiß aber, dass anfangs noch Kontakte zwischen den Städten und Dörfern bestanden und ich könnte mir denken, dass damals die Weltsprache entwickelt wurde. Doch irgendwann brachen die Kontakte ab, warum, das weiß ich nicht. Wir haben nur gelernt, dass einige Menschen nach der Katastrophe die Städte, die ja alle zerstört waren, wieder aufgebaut haben. Sie … ihr Stadtbewohner schottet euch gegen die Natur ab. Doch wir wissen eigentlich viel zu wenig über euer Leben, viel weniger als über die Menschen in den anderen Dörfern. Aber da kannst du uns sicher helfen.“
Bevor Annika jedoch erzählen konnte, wie die Geschichte seit der Katastrophe aus ihrer Sicht aussah, wurden sie unterbrochen. Zwei Kinder kamen und baten Rainbird mitzukommen. Die ältere Schwester des einen war böse gestürzt und benötigte Hilfe. Die Heilerin packte ihre Tasche und folgte den Kindern, während Annika zurückblieb, aufräumte und schließlich das Abendessen vorbereitete.
Auch in dieser Nacht quälte sie wieder der Alptraum von der Flucht durch den Wald. So war Annika froh, dass sie den Tag ruhig angehen konnte. Clearwater und Greenleaf waren noch nicht von der Jagd zurückgekehrt, deshalb blieb das Mädchen auch am folgenden Tag im Dorf. Sie lernte einige der anderen jungen Leute näher kennen. Am Flussufer traf sie Wildwind, eine achtzehnjährige Gärtnerin, die in einem Gemüsebeet hockte und sorgfältig die Erde lockerte. Sie hatten sich beim Mittagessen im Heim schon kennengelernt und Wildwind freute sich nun, die Bekanntschaft zu vertiefen. Sie verstanden sich sofort. Die Gärtnerin arbeitete gern an den Beeten, erzählte sie; hatte mit Pflanzen viel Glück. Aus ihren Schilderungen schloss Annika, dass nicht nur Glück, sondern ein fundiertes Wissen und viel Sorgfalt und Ehrfurcht dafür sorgten, dass alles, was die Gärtnerin pflanzte, gut gedieh. Neugierig fragte das Mädchen nach dem Nutzen der Pflanzen und Wildwind zog Möhren aus der Erde, Sellerie und Kohlrabi; schnitt einen Kohlkopf ab und erklärte jedes Mal wie das Gemüse am besten zubereitet wurde. Sie mochte Annikas Fragen, freute sich darüber, ihr alles erklären zu können. Bald war der große Korb mit dem Gemüse gefüllt. Die beiden Mädchen gingen zum Heim. Gemeinsam wuschen, schälten und schnitten sie alles und dann lernte Annika, wie man eine schmackhafte Suppe kochte. Dabei erzählte Wildwind von einigen witzigen Ereignissen im Dorf, wie davon, dass einmal ein Achtzehnjähriger einen Kürbis ausgehöhlt und ihm eine Fratze verpasst hatte. Er hatte ihn auf die obere Treppenstufe im Heim gelegt und zwei Fünfzehnjährige hatten sich fürchterlich erschreckt, denn der Junge hatte eine Kerze hineingestellt und damit die Augen gruselig zum Leuchten gebracht. Danach erzählte Annika von ihrer Familie und der Schule und was sie dort Lustiges erlebt hatte. So hatte ein Mädchen einmal den Lehrermonitor im Klassenraum manipuliert und jedes Mal, wenn der Professor den Bildschirm berührte, schrie das Gerät: „Au, fass mich nicht an!“ Nach dem ersten Schreck hatte es eine Weile gedauert, bis der Professor die Veränderung wieder rückgängig gemacht hatte. Die beiden Mädchen lachten aus vollem Hals. Sie hatten viel Spaß miteinander.
Clover kam mit einem Korb Fische herein, stellte ihn schwungvoll auf den Tresen. „Das sollte zum Abendessen reichen – nur das Beste für uns“, sie erblickte Annika. „Hei, du hier? Sieht aus, als ob dir die Arbeit hier im Heim Spaß macht“, lachte die Fischerin und ging dann auf ihr Zimmer hoch. Annika war irritiert. Doch bevor sie Wildwind auch nur eine Frage stellen konnte, kam ein Junge herbei, nahm die Fische, legte sie auf den Tisch neben dem Herd und fing an, sie auszunehmen und zu putzen. Wildwind grinste, als Annika die Nase rümpfte. „Wenn du die jetzt schon nicht magst, dann solltest du nie einen Fisch riechen, der alt ist. Du glaubst gar nicht, wie der stinkt.“
„Es ist nicht der Geruch“, erklärte Annika, „ich finde er riecht eigentlich gar nicht so sehr. Aber ich finde es schrecklich, wenn Tiere … äh, aufgemacht werden.“
„Ausgenommen“, verbesserte der Junge, „aber wie willst du sie sonst braten? Du kannst ja nicht die Schwimmblase und den Darm und die Galle und das alles drin lassen.“
„Es ist nur … ich mag das nicht ansehen“, entschuldigte sich Annika, wandte dem Jungen den Rücken zu und reichte Wildwind die gewünschten Kräuter.
Whitewave saß auf seinem Wachposten, einen Fuß auf den Ast gestellt. Er blickte über die Felder auf den Wald, doch er sah die Bäume nicht. Seine Wache war bald zu Ende. Hoffentlich würde er heute Nachmittag Annika wiedersehen. Er wünschte es sich. Sie war so anders: Zart und hellhäutig – und dann die langen blonden Haare. Er seufzte. Ob sie ihn auch mochte – wenigstens ein bisschen? Neulich hatte sie ihn freundlich angelächelt. Er musste mit ihr ins Gespräch kommen, ihr etwas Nettes sagen. … Verdammt, warum bloß hatte Greenleaf sie gefunden. Ausgerechnet Greenleaf. Er war Jäger! Die meisten Mädchen fanden ihn toll – bestimmt weil er Jäger war, dachte der Junge verärgert. Annika auch? Er konnte es nicht sagen. Sie schien Greenleaf zu bewundern, aber schließlich hatte der sie auch gerettet. Hatte er deswegen mehr Anrecht auf sie als andere? Warum nur war er, Whitewave, nicht auch Jäger geworden? Er hatte es wirklich versucht, hatte das Jahr im Wald recht gut überstanden. Dann aber hatte er versagt – so empfand er es zumindest, egal, was die anderen sagten.
Eines Nachmittags, nach vielen Wochen der Suche, hatte er endlich die Spur eines einzelnen Großschnabels entdeckt, der sich von seiner Herde entfernt hatte. Drei Tage lang folgte er ihm, kam ihm immer näher. Dann endlich, am Morgen, hatte er den Vogel schließlich gestellt. Doch der drehte blitzschnell um sich und griff an. Whitewave zögerte nur einen Moment – erschrocken – und der Vogel, riesengroß, die Federhaube aggressiv aufgestellt, sprang auf ihn zu. Voller Entsetzen hob der Junge den Bogen, doch bevor er schießen konnte, kamen zwei weitere Vögel aus den Büschen. Nur mit knapper Not konnte Whitewave sich in letzter Sekunde auf einen Baum retten. Dabei verlor er seinen Bogen, aber er hätte ohnehin vom Baum aus keinen Großschnabel geschossen. Wer ein Jäger werden wollte, musste seiner Beute gegenübertreten, sie im fairen Kampf töten, so wollten es die Regeln. Bis in die Nacht musste er dann auf dem Baum aushalten. Als es schließlich dunkel wurde, liefen die Großschnäbel krächzend fort und er hatte keine Gelegenheit mehr, einen von ihnen zu schießen. Er versuchte es noch einmal, fand nach langer Suche noch einmal Spuren, doch auch dieses Mal glückte es ihm nicht, entdeckten ihn die Vögel zu früh und er entkam ihnen nur knapp. Danach gab er auf, kehrte enttäuscht und mit einem Gefühl der Demütigung zurück.
Whitewave war wütend auf Greenleaf. Immerzu glückte ihm alles. Er war der jüngste Jäger gewesen, zusammen mit Clearwater. Noch bevor das Jahr vorbei war und er 15 wurde, hatte er eine Waldkatze erlegt und war als stolzer Jäger zurückgekehrt. Greenleaf war so selbstsicher – warum konnte er das nicht auch sein. Er musste etwas machen, dass Annika merkte, dass auch er seine Qualitäten hatte. Mit ihr reden war vielleicht doch nicht so gut – er wurde immer rot, wenn er mit einem Mädchen sprach, errötete schon, wenn er nur daran dachte. Whitewave setzte sich bequemer hin und überlegte, wie er Annika davon überzeugen konnte, dass er ein ebenso großartiger Gefährte und guter Freund war wie Greenleaf. Vielleicht etwas Witziges? Mädchen mochten Jungen, die sie zum Lachen brachten – glaubte er zumindest.
Nach dem Mittagessen machte einer der Jungen einen Vorschlag und schon bald ging eine große Gruppe zu einer flachen Bucht am Fluss. Eine Weile saßen sie am Ufer, genossen die Freiheit, nichts tun zu müssen und Annika berichtete vom Leben in der Stadt.
„Die Stadt ist viel größer als das Dorf hier, viel größer. Deshalb haben wir teilweise ganz schön lange Wege. Also zum Beispiel von da, wo ich wohne bis zum Institut. Aber das ist nicht schlimm, denn auf allen großen Straßen sind Elos, Elektrofahrzeuge, die tragen uns dahin, wo wir wollen.“
„Elektrofahrzeuge?“, fragte ein Junge, „Was ist das?“ Niemand konnte sich etwas unter dem Begriff vorstellen.
Annika erklärte: „Überall sind offene Wagen, … also, wie früher die Autos; nur eben ohne Dach, das brauchen wir ja nicht. Sie haben auch keine Türen, sondern breite Einstiege und halten an, wenn du an bestimmten Punkten stehst und ein Zeichen gibst. Dann kannst du einsteigen und sie bringen dich dann dahin, wo du hin willst. Sie fahren lautlos, weil sie elektrisch sind und können ziemlich schnell werden. Aber nicht zu schnell, denn sie müssen ja sofort anhalten können, wenn jemand aus- oder einsteigen will, ohne dass die anderen da drin hin und her geschleudert werden. Elos sind klasse, sie werden per Computer gesteuert, mit Spracherkennung. Du sagst einfach, wo du hin willst und dann geht es los. Du musst nichts machen, nicht mal aufpassen. Das machen alles die Elos selbst. Sie sind total sicher; sie haben Sensoren, damit sie sofort anhalten, wenn jemand nach ihnen winkt oder einer über die Straße geht und nicht aufpasst. Aber normalerweise gehen wir nicht da, wo die Elos fahren.“ Von Rainbird hatte das Mädchen sich ein Blatt Papier und einen Stift geben lassen und zeichnete nun einen groben Grundriss des Stadtzentrums und das Prinzip der Elektrofahrzeuge auf.
„Ist das nicht gefährlich? Fällt man da nicht raus?“, fragte ein Junge besorgt und ein Mädchen wollte wissen: „Warum lauft ihr nicht? Die Stadt ist doch nicht größer als der Wald?“
Weitere Jugendliche waren inzwischen dazugekommen, lauschten ungläubig.
Annika lachte: „Nein, sicher nicht. Aber weißt du, wenn wir alle zu Fuß unterwegs wären, würde alles viel länger dauern und wir wollen doch schnell vorankommen. Deshalb haben wir die Elos entwickelt. Die bringen uns bequem überall hin. Aber …“, antwortete sie auf die Fragen des Jungen, „sie sind nicht so schnell, dass man da rausfällt. Nur eben bequemer und schneller als zu Fuß.“ Einen Moment überlegte sie. Natürlich waren die Elektrofahrzeuge wirklich bequem, aber sicherlich war das auch ein Grund, warum sie immer noch das Laufen der vergangenen Tage in den Beinen spürte. Die Menschen hier im Dorf liefen viel mehr als die in der Stadt – das hatte sie ja schon bei Clearwater und Greenleaf gesehen. Man konnte meinen, sie lebten in völlig unterschiedlichen Welten. Sollte sie ihren Zuhörern auch noch von den Gleitern erzählen, die dem schnellen Transport von Menschen und Waren dienten und mit leisem Summen dicht unter den Schutzdächern der Stadt flogen, sowie auf den langen Strecken von Stadt zu Stadt? Nein, entschied sie, das würden die anderen hier wohl nicht verstehen. Inzwischen hatten die Zeichnungen die Runde gemacht und nach einigen weiteren Erklärungen von Annika meinten nun die meisten, zu verstehen, wie die Elektrofahrzeuge funktionierten.
„Ich würde das zu gerne mal sehen“, sagte eine Zwanzigjährige und blickte verträumt über den Fluss. Andere stimmten ihr zu. Inzwischen hatten sich die Mehrheit der jungen Leute des Dorfes und auch einige Ältere an der Bucht versammelt.
„He, lass uns ins Wasser gehen!“, rief plötzlich einer der Jungen aus. Schnell streifte er Hemd, Schuhe und den Gürtel mit dem Messer ab und lief zum Wasser. Alle Jungen folgten seinem Beispiel und auch einige der Mädchen zogen ihre Hemden aus. Nach und nach waren nun alle Jugendlichen ins Wasser gelaufen, spritzten sich gegenseitig nass, tauchten unter oder schwammen ein Stück in die Bucht hinaus.
„Annika, los komm!“, rief Wildwind, „Das Wasser ist herrlich!“
„Ja los“, rief auch Whitewave, der sich erst vor Kurzem zu ihnen gesellt hatte, „Komm doch mit. Ich weiß ein tolles Spiel, das macht dir bestimmt Spaß!“ Er hielt einen Moment inne, wartete unsicher auf eine Reaktion des Mädchens, bevor er sich umdrehte und schließlich ins Wasser lief.
Annika jedoch zögerte. Das Wasser sah – nun, so nass aus. Weiter draußen wirkte es blau, denn der Himmel spiegelte sich darin. Hier aber in der Bucht war es braun und nur nahe am Ufer konnte man den Grund sehen. Was, wenn etwas Schreckliches im Wasser war? Ein Junge tauchte auf, schrie. Annika richtete sich erschrocken auf. Doch schnell merkte sie, dass es ein Freudenschrei war. Immer wieder tauchten einzelne Jungen und Mädchen unter, um dann ein Stück entfernt wieder hochzukommen, die Haare tropfnass, lachend. Annika blickte sich um. Sie war die einzige, die noch am Ufer saß. Also stand sie auf, zog ebenfalls ihre Schuhe aus und ging behutsam zum Wasser. Es war ungewohnt, barfuß zu gehen; das Gras war glatt unter ihren Füßen und die Steinchen piekten. Sie machte kleine, behutsame Schritte. Doch bevor sie sich noch über die Steine beklagen konnte, hatte sie das Ufer erreicht. Der Sand war kühl und feucht zwischen ihren Zehen. Vorsichtig tauchte sie den Fuß in das Wasser und war überrascht. Es war frisch, aber angenehm. Langsam ging sie weiter, spürte, wie es allmählich an ihren Beinen höher stieg. Dann erreichte es die kurze Hose – ih, das fühlte sich aber komisch an. Annika zögerte einen Moment, ging weiter.
„Los komm, mach mit!“, schrie Whitewave, winkte ihr zu. Erschrocken stolperte das Mädchen ein Stück zur Seite: Der Junge spritzte einem anderen Wasser ins Gesicht; der wehrte sich und schon trugen beide fröhlich lärmend eine Wasserschlacht aus. Ein Junge schnellte sich aus dem Wasser, tauchte platschend ein, kam prustend wieder hoch. Andere, Jungen und Mädchen, machten es ihm nach. Vorsorglich wich Annika ihnen aus; das sah ihr zu wild aus. Ein Stück weiter versuchten ein Mädchen und ein Junge, ein anderes Mädchen unterzutauchen. Es sah gefährlich aus, auch wenn alle dabei lachten. Annika hoffte, dass sie das nicht auch mit ihr versuchen würden. Sie watete weiter. Jetzt umspülte der Fluss ihren Bauch, dann die Brust. Es fühlte sich merkwürdig an – am liebsten wäre sie wieder zurückgegangen.
Plötzlich tauchte Wildwind neben ihr auf. „Hei, da bist du ja“, rief sie lachend, freute sich, dass ihre Freundin nun auch ins Wasser gekommen war, „Ist das nicht herrlich?“ Dann schwamm sie energisch einigen anderen Schwimmern hinterher, die sich weit in die Bucht hinaus gewagt hatten und nach ihr riefen.
Annika breitete die Arme aus. Auf einmal schrie sie auf. Ihre Füße hatten keinen Grund mehr! Hastig fing sie an zu strampeln, schlug wild mit den Armen. Wasser schwappte in ihr Gesicht, sie schrie, hatte plötzlich den Kopf unter Wasser, verschluckte sich und musste husten. Nun geriet sie in Panik. Sie würde ertrinken! Sie würde untergehen und sterben! Sie schlug und strampelte wie wild, hustete wieder, als sie erneut Wasser ins Gesicht bekam. Wo war das Land? Wo waren die anderen? Sie sah nur braunes Wasser um sich herum, hörte fern Gelächter. Sollte sie hier einsam sterben, während überall die anderen spielten und tobten?
„Hilfe!“, schrie sie, schluckte wieder Wasser, schlug um sich.
Plötzlich fühlte sie sich gepackt. Zwei kräftige Hände umfassten ihren Körper, hoben sie nach oben.
„Halt still! Hör auf, rumzuschlagen!“, befahl eine Stimme, während Annika japsend nach Luft schnappte. Sie folgte dem Befehl und wurde durch das Wasser gezogen. Voller Angst klammerte sie sich an dem Arm fest, der um ihren Körper lag.
„So, jetzt kannst du stehen“, sagte die Stimme. Annika schüttelte panisch den Kopf, wollte den Arm nicht loslassen, der sie immer noch hielt. „Stell dich hin, du kannst hier stehen. … Sie mich an, ich stehe auch.“
Annika drehte sich, blickte in das grimmige Gesicht von Greenleaf. Jetzt erst tastete sie mit ihren Füßen nach dem Grund, ließ seine Hand los, hustete. Sie hörte lautes Schimpfen, wandte den Kopf. Nur wenig entfernt stand Clearwater im Wasser, schrie wütend auf einige der Schwimmer ein, die im Kreis um sie herum standen. Weitere kamen herbei.
„Seid ihr verrückt geworden? Wie könnt ihr Annika allein ins Wasser lassen, ohne zu prüfen, ob sie schwimmen kann? Meine Güte, ihr seid echt Idioten!“, fauchte sie.
Whitewave, blutrot im Gesicht, stammelte: „Aber ich wusste nicht, …“
Clearwater ließ ihn nicht ausreden: „Ihr wisst, dass sie aus der Stadt kommt und ihr wisst, dass die dort irgendwie nichts mit Natur am Hut haben. Verdammt, da müsst ihr sie fragen, ob sie schwimmen kann.“
„Aber woher sollten wir denn …“, begann nun auch Wildwind.
Wieder unterbrach Clearwater: „Verdammt, dann hättet ihr sie wenigstens im Auge behalten müssen. … Seid nur froh, dass Greenleaf und ich gerade gekommen sind!“
Ein junger Mann trat nun auf Clearwater zu, legte seine Hand auf ihren Arm. „He Clearwater, hör zu. Ich kann verstehen, dass du wütend bist. Du hast Recht, wir hätten Annika fragen oder zumindest auf sie aufpassen sollen. Aber keiner konnte doch wissen, dass sie nicht schwimmen kann. Es nützt gar nichts, wenn du jetzt rumschreist. Zum Glück war Greenleaf zur rechten Zeit da. … Jetzt beruhigt euch wieder … ihr alle“, er machte eine Pause. „Aber wir sollten uns bei Annika entschuldigen – Annika, es tut mir Leid, wir haben das nicht richtig eingeschätzt. Ich bin Redstone. Kannst du uns verzeihen?“
Das Mädchen nickte. Jetzt erst ließ sie Greenleafs Arm los und folgte dann den Zwillingen aus dem Wasser. Dort sank sie erschöpft ins Gras. Auch die anderen kamen nun ans Ufer. Niemand hatte mehr Lust zu baden. Eine Weile saßen sie noch zusammen, drückten sich das Wasser aus den Haaren und zogen sich wieder an. Immer wieder flogen Blicke zu Annika, murmelten Stimmen. Zögernd erst, doch dann munterer, wurden nach und nach wieder Gespräche aufgenommen. Einige Jugendliche standen auf, verabschiedeten sich und gingen, irgendjemand lachte.
„Ich wusste doch nicht, dass du nicht schwimmen kannst“, entschuldigte sich Wildwind.
„Bei uns kann das niemand. Könnt ihr denn alle schwimmen?“, fragte Annika, noch immer leicht keuchend. Nach all der Angst fing sie an zu zittern. Beruhigend legte Greenleaf seinen Arm um sie.
„Natürlich“, erklärte Redstone, „das lernen bei uns schon die kleinen Kinder. Schließlich leben wir hier am Fluss, da ist das wichtig. … Geht’s wieder?“ Wieder nickte Annika, löste sich aus Greenleafs Arm und blickte auf die Zwillinge.
Clover sah spöttisch grinsend erst auf Annika, dann auf Greenleaf. „Du meine Güte, es ist doch klar, dass jeder schwimmen können muss. Du kannst immer mit dem Boot kentern, wie willst du sonst wieder ans Ufer kommen? Außerdem …“
Greenleaf zog die Augenbrauen hoch. „Lass sie, Clover!“, er wandte sich an Annika: „Ich glaube, für heute reicht es erstmal. Ich bringe dich zu Rainbird. Aber du musst dringend schwimmen lernen … ich bin ja nicht immer hier und wir können nicht jedes Mal jemanden abstellen, der dich vor dem Ertrinken rettet“, grinste er dann.
„Du bist genauso blöd wie die anderen“, fauchte seine Schwester ihn an. „Annika ist fast ertrunken und du machst Scherze darüber.“
„He, was soll das? Erst machst du die anderen an, jetzt mich? Sie ist ja nicht ertrunken – ich habe sie rausgezogen, vergiss das nicht. … Übrigens war das gar nicht nötig“, wandte er sich an Annika, „du hättest da noch stehen können … na ja, auf Zehenspitzen, aber es war da echt noch nicht so tief. … Egal, für heute reicht’s. Kannst du aufstehen und gehen?“ Das Mädchen erhob sich und in Begleitung der Zwillinge ging sie zum Haus der Heilerin.
Rainbird schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie von dem Abenteuer hörte. „Du liebe Güte, wer hätte denn gedacht, dass du nicht schwimmen kannst. Das war etwas unvorsichtig von den anderen, dir nicht zu sagen, wo das Wasser tief wird, wo du doch den Fluss nicht kennst. … Nun, ich freue mich, dass Greenleaf so prompt reagiert hat. Aber er hat Recht, du musst unbedingt schwimmen lernen. … Jetzt setz dich erst mal auf die Terrasse, ich mache dir eine schöne Tasse Tee, dann geht es dir gleich besser“, mit diesen Worten verschwand sie im Haus. Auch die Zwillinge verließen Annika wieder; sie hatten einen Auftrag zu erledigen. Allein auf der Terrasse, kam die Angst zurück – es war so schrecklich gewesen; sie hatte wirklich gedacht, sie müsse sterben. Greenleaf und auch Rainbird wollten, dass sie schwimmen lernte? Nie wieder würde sie in das Wasser gehen, nie wieder. Es war nass und dunkel und bedrohlich. Überhaupt: Warum gab es hier überall nur Sachen, die gefährlich waren und ihr Angst machten? Ihr Magen grummelte wieder – sie hatte es ja geahnt, das, was die Leute hier aßen, bekam ihr auch nicht. Sie wollte nach Hause, wollte zurück zu ihren Eltern und in die Stadt, wo sie in Sicherheit war und keine gefährlichen Sachen passieren konnten.
Annika hatte befürchtet, dass alle über sie lachen oder sie zumindest mitleidig ansehen würden, doch am nächsten Tag sprach niemand mehr von dem Vorfall. Gleich am Morgen nahm Rainbird das Mädchen mit. Schon in der Dämmerung gingen sie los. Die Heilerin trug einen großen Korb über dem Arm, hatte in der anderen Hand einen langen kräftigen Stab; beide hatten Messer am Gürtel. Am Fluss entlang gingen sie über eine weite, feuchte Wiese. Silbern glänzte der Tau auf dem Gras, nässte ihre Beine. Die Tautropfen glitzerten in der Morgensonne, die sich eben über den fernen Baumwipfeln erhob. Nach wenigen Schritten schon setzte Rainbird den Korb ab, bückte sich und nahm eine Pflanze in die Hand. „Das ist Blutweiderich – sieh nur, wie hübsch seine Blüten sind. Seine Blätter wirken gegen Infektionen – wenn du sie auf Schnittwunden legst, heilen die schneller.“
Sie gingen weiter in die Wiese hinein. Immer wieder zeigte die Heilerin auf verschiedene Pflanzen – Heilkräuter wie Schafgarbe und Salbei, essbare Pflanzen wie Pastinake und Löwenzahn, hübsche Blumen wie Margeriten und Storchenschnabel. Zu jeder Pflanze wusste die Heilerin etwas zu erzählen, nahezu jede war hilfreich gegen etwas, wie Krankheiten oder Verletzungen, oder für etwas, wie Wohlbefinden oder guten Schlaf. Schließlich zupfte sie ein pfeilförmiges Blatt von einem hohen Stängel. „Probier das mal“, sagte sie und reichte Annika das Blatt, „Das ist Sauerampfer. … Ja“, lachte sie, als sie das Gesicht des Mädchens sah, „er ist ziemlich sauer, aber er löscht den Durst, wenn du unterwegs bist.“
Inzwischen waren sie am Waldrand angekommen. Ruhig bewegte Rainbird sich zwischen den Büschen und Bäumen. Sie schien keine Furcht zu haben und auch Annika wurde ruhiger. Es war so ganz anders als mit den Zwillingen – die Heilerin bewegte sich gemächlich umher, hatte immer wieder Zeit, stehenzubleiben und eine Pflanze oder einen Schmetterling zu betrachten. Rainbird erzählte dem Mädchen vom Zusammenwirken aller Pflanzen und Lebewesen im Wald, von der Bedeutung eines jeden für den Erhalt des Ökosystems. Selbst der große Tausendfüßler, der Annika zunächst zurückzucken ließ, war wichtig, denn er half, das verrottende Holz zu zersetzen, so dass aus dem Humus, der daraus entstand, neue Pflanzen wachsen konnten. Es war ruhig unter den Bäumen, nur die Vögel sangen in den Ästen, erfüllten die Luft mit ihrem Konzert. Sonnenstrahlen tasteten sich wie Finger durch das Laub; Insekten tanzten in ihrem Strahl; alles war friedlich. Rainbird hatte auf der Wiese schon einige Pflanzen in ihrem Korb gesammelt, pflückte jetzt hier im Wald mit Annikas Hilfe die hellgrünen Spitzen einer Fichte.
„Können denn alle Pflanzen heilen?“, fragte das Mädchen erstaunt.
„Nein, nicht alle – aber viele. Du musst nur wissen, wie du sie anwendest. Von manchen musst du die Wurzeln verwenden, von anderen die Blätter. Einige isst du oder trinkst ihren Sud, andere werden äußerlich angewendet. Aber es gibt auch Pflanzen, die gefährlich sein können. Sieh, da hinten auf der Lichtung wächst Fingerhut. Er sieht wunderschön aus, nicht wahr, aber er enthält ein starkes Gift – Digitalis. Es kann dich töten, aber wenn dein Herz erkrankt, hilft dir das Gift. Es ist bei allem so: Wenn du von etwas zu viel nimmst, ist es nie gesund. Das kennst du ja aber, nicht wahr. Wenn du zu viel Süßes naschst, wird dir auch schlecht. … Manchmal ist auch nur ein Teil der Pflanze giftig, der andere ist essbar. Nimm die Kartoffel: Das Kraut und alles ist giftig, aber wenn du die Kartoffeln kochst, sind sie lecker und nahrhaft.“
Sie waren wieder zurück am Waldrand und Rainbird reckte sich zu einem Busch hoch, an dem gelblich-weiße Blüten in dichten Dolden hingen. „Sei so lieb und hilf mir“, bat die Heilerin, „Aus den Holunderblüten koche ich leckeren Sirup, der ein erfrischendes Getränk ergibt und auch noch gegen Husten, Fieber und Kopfschmerzen hilft.“
Annika hatte schon ihr Messer genommen, aber dann zögerte sie. Stormcloud und seine Schnittverletzung fielen ihr ein. Doch Rainbird schnitt unbeirrt die Blüten und so und machte auch sie sich daran, die erste Dolde abzuschneiden. Prompt schrie sie „Au!“, und ließ das Messer fallen.
„Was ist los?“
Annika streckte der Heilerin ihre linke Hand entgegen. Über den Zeigefinger lief ein Tropfen Blut.
„Oh, du hast dich geschnitten. Zeig mal.“ Nachdem Rainbird den Finger untersucht und das Blut weggewischt hatte, sagte sie nur: „Na, das ist ja nicht schlimm, nur ein kleiner Ritz. Das kann schon mal passieren. Mit den Messern musst du eben vorsichtig sein – wir halten sie schön scharf, sonst nützen sie nichts.“ Sie empfahl dem Mädchen, den Finger kurz in den Mund zu stecken. Obwohl Annika den Rat unappetitlich fand, befolgte sie ihn und wenig später hatte die Blutung aufgehört. Dennoch, in dem Mädchen festigte sich die Meinung, dass nahezu alles in dieser Welt gefährlich war. Eine Weile stand sie herum, sah Rainbird zu. Dann hob sie das Messer wieder auf und half der Heilerin – doch vorsichtiger als vorher. Gemeinsam schnitten sie Dolde um Dolde ab.
Bald war der Korb gefüllt. Die Sonne stand inzwischen hell am Himmel und es wurde warm. „Lass uns zurück gehen“, schlug Rainbird vor, „Du hast sicher auch schon Hunger. Heute haben wir uns ein gutes Frühstück verdient, wir waren sehr fleißig.“ Sie schlug einen anderen Weg ein, pflückten von einem Busch kleine rosa Beeren, die herrlich süß waren und kamen bald zu den Feldern. Auf dem Weg trafen sie Moonbeam. Auch sie trug einen Korb mit Kräutern über dem Arm.
„Oh, ihr habt Holunderblüten gepflückt … das gibt köstlichen Sirup“, grüßte die junge Frau.
„Sammelst du auch Kräuter?“, fragte Annika.
„Ja, ich bin auch Heilerin. Ich bin lange bei Rainbird in die Lehre gegangen – ich habe so viel von dir gelernt“, anerkennend neigte Moonbeam den Kopf vor der älteren Frau.
„Ja und du bist eine wirklich gute Heilerin. Weißt du, Annika, es ist gut, wenn es nicht nur eine Heilerin im Dorf gibt. Ich kann ja mal krank werden oder einen Unfall haben. Dann weiß ich, dass Moonbeam mir helfen wird.“
„Und umgekehrt auch“, ergänzte die junge Frau, „Außerdem gibt es immer etwas zu tun und wenn wir nur leckeren Sirup herstellen.“ Gemeinsam gingen sie zum Dorf.
Später half das Mädchen, einige der Samen im Mörser zu zerstoßen, während die Heilerin die Holunderdolden wusch und putzte. Ein Mann kam vorbei; an seinen Armen und Beinen zeigten sich hässliche Kratzer und Abschürfungen – ein Ast war abgebrochen und er war vom Baum gefallen. Rainbird wusch seine Wunden und versorgte sie mit einer Salbe – zum Glück hatte er sich nichts gebrochen. Annika aber staunte, wie gelassen der Mann mit den Verletzungen umging. Schmerzten sie denn nicht? Einer alten Frau, die kurz danach herein schaute, gab die Heilerin ein Mittel gegen ihre Gelenkschmerzen. Dann kam ein zwölfjähriger Junge mit einer hässlichen, entzündeten Verätzung an der Wade. Er hatte eine Feuernessel übersehen. Mit Entsetzen sah das Mädchen, welch schlimme Verletzung die Pflanze hervorrief. Es dauerte lange, bis Rainbird die Wunde gereinigt, mit einer schmerzstillenden und entzündungshemmenden Salbe bestrichen und schließlich verbunden hatte. Einige Male hatte der Junge zischend die Luft eingezogen – die Behandlung war äußerst schmerzhaft. Annika mochte nicht hinsehen, goss lieber das Wasser in die Büsche und räumte dann im Haus auf.
Später packte Rainbird ihren Korb und sie besuchten eine Familie mit einem kranken Kind.
Am Nachmittag bog plötzlich Whitewave um die Hausecke. „Hei Annika“, stammelte er und errötete wieder. „Wir … wir sitzen alle beim Heim und … und ich dachte, vielleicht hast du Lust, auch dahinzukommen.“ Greenleaf würde nicht da sein, darum wollte der Junge die Gelegenheit nutzen. Auf seinem Weg zum Haus Rainbirds hatten ihn die schlimmsten Befürchtungen gepeinigt: Was, wenn Annika gar nicht da wäre, weil sie mit der Heilerin unterwegs war? Was, wenn sie ‚nein‘ sagte? Oder schlimmer noch, was, wenn sie ihn einfach auslachen würde. Doch nun erwiesen sich alle seine Befürchtungen als gegenstandslos. Als das Mädchen lächelnd zustimmte, errötete der Junge noch mehr – doch er war überglücklich.
„Weißt du“, erklärte Whitewave eifrig, „alle sind da. Ach, das habe ich ja schon gesagt. … Äh, also, wir sitzen ganz oft nachmittags beim Heim draußen, also alle, die mit der Arbeit fertig sind, weißt du? Das ist viel schöner als auf den Zimmern, weil wir da eben alle zusammen sein können. Aber jeder kann dahin kommen, also, nicht nur wir aus dem Heim, die anderen kommen oft auch vorbei und machen mit, manche jedenfalls. Das ist richtig schön, du wirst sehen. Das macht richtig Spaß, glaube mir.“
Im Schatten unter den mächtigen alten Linden, die über dem Heim aufragten, trafen sich die Bewohner, unterhielten sich, sangen gemeinsam oder spielten Gesellschaftsspiele. Als der Wächter stolz mit seinem Gast ankam, legten die beiden Mädchen, die gerade ein Gesellschaftsspiel begonnen hatten, schnell die Würfel zur Seite; ein Junge lehnte seine Gitarre an die Wand.
„Komm zu uns“, forderten sie Annika auf.
„He, ich …“, Whitewave verzog verärgert das Gesicht. Der Vorschlag war ihm gar nicht Recht, denn er hatte die Idee gehabt, sich mit dem Mädchen ein wenig abseits zu setzen und sich ungestört mit ihr zu unterhalten. Eigentlich hatte er sogar erwartet, dass Swiftwater sein Gitarrenspiel nicht unterbrechen und so die stimmungsvolle Musik den richtigen Rahmen für das Gespräch bieten würde. Jetzt kam es ganz anders: Dicht rückten sie zusammen und Whitewave hatte Mühe, einen Platz neben Annika zu ergattern. Dann jedoch stellte er errötend fest, dass er so dicht neben ihr saß, dass ihre Körper sich berührten. Sie fühlte sich ungeheuer gut an, so weich und zart. Zuerst machte es ihn verlegen, doch dann fing der junge Wächter an, die Situation zu genießen.
Ein Sechzehnjähriger wollte von Annika wissen, wie es ihr hier bei ihnen gefiel. Das Mädchen überlegte kurz. Die Wahrheit war, dass sie nicht sagen konnte, ob sie sich hier wohl fühlte oder nicht. Sie mochte Greenleaf, Clearwater und Rainbird, das Haus mit seinen gemütlichen Räumen und dem herrlichen Blick über den Fluss, schätzte die Offenheit und Freundlichkeit der Dorfbewohner und ihre Gastfreundschaft. Doch es gab so vieles, das ihr primitiv und schrecklich erschien.
So sagte sie: „Ihr seid alle so nett zu mir, das finde ich wundervoll. Ich habe das Gefühl, als wärt ihr alle meine Freunde.“ Die anderen strahlten; Annika hatte ihnen ein großes Kompliment gemacht. Das Mädchen fuhr fort: „Eigentlich bin ich gerne hier, weil es hier schön ist. Aber vieles ist so anders als bei uns. … Wisst ihr, heute war ich mit Rainbird bei Leuten, die hatten ein kleines Kind, das war krank. Das war schrecklich.“
„Oh“, fragte ein Junge besorgt, „konnte Rainbird ihm nicht helfen?“
„Doch, sie hat ihm einen Sirup gegen seine Bauchschmerzen gegeben.“
Zufrieden blickten sich die Jugendlichen an – auf ihre Heilerin konnten sie sich verlassen; Rainbird wusste immer einen Rat.
„Aber, das Kind war krank. Das ist doch furchtbar“, beharrte Annika.
„Wieso?“, fragte Wildwind verwirrt, „das kommt doch immer mal vor, dass jemand krank wird. Das ist doch nicht schlimm, solange jemand da ist, der einem helfen kann.“
Annika schüttelte den Kopf. Sie kannte keine Krankheiten, erklärte sie. Die anderen waren fassungslos – es gab in Annikas Welt keine Krankheiten? Wie war das möglich? Jeder konnte doch zum Beispiel Magenprobleme bekommen, wenn er etwas Falsches aß. Doch das Mädchen blieb dabei – bei ihnen gab es keine Krankheiten. Selbst Verletzungen waren zumindest in der Gegend, in der sie lebte, eine Seltenheit, denn die Gestalter hatten die Stadt so erbaut, dass mögliche Gefahrenquellen von vornherein vermieden worden waren. Zudem sorgte ein nahezu lückenloses Hygienenetz dafür, dass Infektionskrankheiten in der Stadt unbekannt waren. „Wir werden gleich nach unserer Geburt geimpft und dann werden wir jedes Jahr einmal untersucht und bekommen vorbeugend Medikamente, damit niemand je krank wird. Jedes Kind lernt bei uns die Hygieneregeln und befolgt sie. Wir waschen uns immer die Hände mit einer speziellen Waschlotion; unser Essen wird keimfrei zubereitet und in sterilen Behältern gebracht; wir bekommen jeden Tag neue Kleider geliefert und die alten werden abgeholt, gereinigt und desinfiziert. Außerdem haben wir Wachen in der Stadt, die aufpassen, dass nichts hereinkommt, was Krankheiten verursachen kann. Alles, was durch die Stadttore kommt, wird in der Sicherheitszone untersucht. Nur wenn es hygienisch rein ist, darf es in die Stadt, sonst wird es vernichtet oder kommt in Quarantäne. … Manchmal fliegen Vögel oder Insekten unter den Schirmen hindurch. Die werden dann gefangen, die sind ja nicht sauber.“
„Was ist an Vögeln oder Insekten unsauber?“, wunderte sich ein Mädchen.
„Und was macht ihr dann mit denen?“, wollte ein anderes wissen.
„Niemals krank?“, fragte ein Junge, „Das muss gut sein. Ich hatte schon einige Krankheiten – glaub mir, Spaß macht das nicht. Aber wenn du sie durch hast, dann ist dein Immunsystem stark genug und du wirst später nicht mehr krank.“
„Also ich weiß nicht“, überlegte ein anderer Junge, „Dewfly hat Recht, wie soll das Immunsystem sich entwickeln, wenn man als Kind nicht einige Krankheiten durchgemacht hat? Wenn du noch nie krank warst, was ist, wenn du dich hier erkältest? Vielleicht stirbst du dann an einem einfachen Schnupfen, weil du das nicht gewohnt bist?“
„Hört auf, ihr macht ihr Angst“, schimpfte Wildwind, „Wenn Annika Schnupfen kriegt, gibt Rainbird ihr was dagegen und sie wird nicht todkrank.“
„Na, wer weiß. Hast du das nicht gelesen? Früher sind einige Völker an den Rand der Ausrottung geraten, nur weil Fremde oder Eroberer Krankheiten eingeschleppt haben, die ihr Immunsystem nicht kannte und deshalb nicht bekämpfen konnte“, wandte ein älteres Mädchen ein. Annika hörte entsetzt zu.
„Ach kommt, deswegen haben wir ja Rainbird und Moon. Annika kriegt schon nichts, wovon sie richtig krank wird“, verteidigte Whitewave das Mädchen, „So und jetzt hört auf damit. Das ist ein blödes Thema. Lasst uns was anderes machen. Annika, wozu hast du Lust?“
„Ich mag es, wenn ihr singt.“ Alle waren mit dem Vorschlag einverstanden. Swiftwater griff nach seiner Gitarre, stimmte das fröhliche Wohlauf in Gottes schöne Welt an und bald sangen alle laut mit. Weitere Lieder folgten – viele fröhlich, manche besinnlich und einige auch traurig. Begeistert hörte Annika zu. Das war etwas, das sie wirklich großartig fand, dachte sie, als sie mit Einbruch der Dunkelheit zu Rainbirds Haus ging.
Es war nicht so warm, wie am Tag zuvor. Seit dem Mittag verdeckten Schleierwolken die Sonne. Sie waren unter den hohen Bäumen beim Heim. Drei Jugendliche spielten Ball, zwei weitere alberten herum und lachten laut, Annika, Greenleaf und Clearwater saßen mit einigen anderen zusammen und unterhielten sich.
„… und dann haben wir Halfmoon gesehen“, erklärte der Junge gerade.
„Nur von fern, natürlich. Wir haben ihn nicht angesprochen, ganz klar“, versicherte Clearwater.
„Nein, natürlich nicht. … Er ist auf der Jagd. Ich schätze, er wird bald zurück sein!“, Greenleaf machte eine bedeutungsvolle Pause.
Clearwater fiel ein: „Wird ja auch Zeit, sein Jahr ist um.“
„He, was soll das. Du ruinierst alles. Musst du alles verderben!“, schimpfte Greenleaf mit seiner Schwester.
„Pah“, entgegnete das Mädchen, „musst du da so ein Drama draus machen?“
„Was heißt hier Drama? Musst du mich immer unterbrechen, wenn ich was erzähle?“
„Sagt mal, wie kriegt ihr das auf der Jagd eigentlich hin, wenn ihr euch dauernd streitet?“, fragte Clover, „Ich kann mir das richtig vorstellen: Da steht ein Reh – ihr schleicht euch an. Greenleaf hebt den Bogen, dann sagt Clearwater: ‚Ich schieße zuerst‘, dann Greenleaf: ‚Nein, ich‘ und so weiter und am Ende ist das Reh weg. … Erstaunlich, dass es euch trotzdem gelingt, Wild mitzubringen.“
„Du bist …“, begann der Junge.
Doch Clearwater sagte empört: „Quatsch! Auf der Jagd streiten wir uns doch nicht.“
„Nie?“
„Nie!“, bestätigte auch Greenleaf mit Überzeugung, „Himmel, da würde das doch nur stören.“
„Dann macht ihr das nur hier zu unserer Erbauung oder wie?“, fragte Silverleaf grinsend. Alle lachten. Jetzt trat der Zwanzigjährige zu Clearwater, strich ihr sanft über die Wange und setzte sich dicht neben sie. Sie neigten die Köpfe zueinander und bald waren sie in ein leises Gespräch vertieft.
Plötzlich legte Greenleaf seinen Arm um Annikas Schulter. Irritiert hob das Mädchen den Kopf. Sie sah Whitewave um einen Baum herum auf sich zukommen. Er blieb steifbeinig ein Stück vor ihnen stehen, errötete und ballte wütend die Hände zur Faust, sagte jedoch nichts. Clover, die zufällig in seine Richtung blickte, runzelte die Stirn, als sie ihn so sah. Was machte Whitewave denn für ein Theater? Sie folgte seinem Blick, sah von dem jungen Wächter auf ihren Bruder, stutzte, schüttelte dann den Kopf. „Nee … echt Jungs!“, rief sie und grinste breit.
Wildwind, die neben Annika saß, sah Clovers spöttische Blicke, lachte laut und sagte: „Oh, oh, … Whitedove hatte Recht: Jungs sind alle gleich!“ Nun errötete auch Greenleaf, doch er ließ trotzig seinen Arm auf Annikas Schulter liegen.
Die Gärtnerin hatte sich inzwischen an Annika gewandt und fragte: „Hast du denn nun schon mal den Fisch probiert?“ Als das Mädchen bestätigte, fuhr sie fort: „Und, hat er dir geschmeckt?“
Bevor Annika antworten konnte, kam Swiftwater aus dem Heim, einen großen, schweren Krug im Arm, einen Stapel Becher in der Hand. „Hat jemand Durst?“, fragte er. Fröhlich lärmend drängten sich alle um ihn.
Auch einige ältere Erwachsene hatten sich inzwischen dazu gesellt. Zwei Frauen strickten, unterhielten sich leise, während ihre kleinen Kinder auf dem Boden vor ihnen mit einigen Holztieren spielten. Willow stopfte einen Riss in einer Bluse, ein Mann schnitzte an einem Holzstück.
Ein Mädchen, das eine Strickarbeit in den Händen hielt, schlug vor: „Lasst uns Rätsel raten. Ich weiß eins: Was ist das? Ich hab ein Loch und mach ein Loch und schlüpfe auch durch dieses noch. Kaum bin ich durch, stopf ich's im Nu, mit meiner langen Schleppe zu?“
Annika überlegte. Bevor sie auch nur die leiseste Idee hatte, was es sein konnte, rief Swiftwater schon: „Ach, das ist doch alt; das weiß doch jeder! Nadel und Faden sind’s!“
Ein anderer Junge wandte sich lachend an die Fragerin: „Das konnte ja nur von dir kommen!“
„Der Tag ist mir verhasst, die Nacht ist mein Vergnügen. Zwar Federn hab ich nicht, doch kann ich wacker fliegen“, rief eine der strickenden Frauen.
Was mochte das nur sein, fragte sich Annika. Jeder mochte doch den Tag. Es war die Nacht, die – zumindest hier – furchteinflößend war. Greenleaf sah ihre Verwirrung und erklärte grinsend: „Die hast du auch schon gesehen – das sind Fledermäuse.“
Schon wusste ein weiteres Mädchen ein neues Rätsel: „Ich weiß auch was, wo ‚Fliegen‘ vorkommt: Ich habe zwei Flügel und kann nicht fliegen, hab einen Rücken und kann nicht liegen; ich hab ein Bein und kann nicht steh‘n, doch wenn ich lauf, ist es nicht schön!“ Wieder kam die Antwort – Nase – schneller als Annika die Lösung finden konnte.
Clover fragte schließlich: „Weißt du auch ein Rätsel?“
Verlegen gestand Annika, dass es bei ihnen solch lustige Rätsel nicht gab. In der Schule waren die Rätsel eher Aufgaben oder mathematische Gleichungen, die es zu lösen galt und auch in der Freizeit beschäftigte sich bei ihnen niemand damit, anderen Rätsel aufzugeben.
„Schade“, sagte Clover. In was für einer Welt lebten die Stadtbewohner, wenn sie weder Lieder noch Rätsel kannten? Was sie wohl sonst noch alles nicht kannten? Es mochte eine Menge sein! Sie fühlte fast Mitleid mit Annika – und mit Greenleaf. Er brauchte nicht zu hoffen; sie würde sich hier nie wirklich einleben, dachte sie. Dann steuerte sie selbst ein Rätsel bei: „Ein Tal voll und ein Land voll und am End ist's keine Handvoll.“ Nun mussten etliche doch überlegen.
„Felder?“, schlug jemand vor, ergänzte dann aber sofort, „Nee, das haut mit der Handvoll nicht hin.“
„Licht?“, meinte ein Mädchen.
„Da kriegst du aber keine Hand voll“, gab nun Silverleaf zu bedenken, der mit Clearwater inzwischen auch an der Raterunde teilnahm.
„Was ist denn so groß, dass es ein ganzes Tal füllt und gleichzeitig so klein, dass es in eine Hand passt?“, wunderte sich Wildwind.
„Wind, aber den kann man auch nicht in der Hand halten, oder?“
Ein Junge überlegte: „Vielleicht …? Nee, ich weiß es nicht. Man, ist das schwer. Los, Clover, was ist es?“
Niemand wusste die Lösung.
„Nebel!“, rief Clover schließlich.
„Oh … stimmt, der kann ein ganzes Land füllen, aber in der Hand bleibt nur etwas Feuchtigkeit“, bestätigte Wildwind beeindruckt. Bis es Zeit war, zum Abendessen ins Haus zu gehen, wurden weiter Rätsel erzählt und geraten.
Zwei Tage später machte Greenleaf Ernst. Annika hatte gerade eben erst ihr Frühstück beendet, als der Junge an den Tisch trat. „Bist du bereit? Heute lernst du schwimmen!“, erklärte er munter. Die erschreckte Miene des Mädchens beachtete er nicht. Immer noch hatte sie nachts manchmal Alpträume, die inzwischen vom Ertrinken handelten.
„Soll ich euch was zu essen mitgeben?“, fragte Rainbird, „Ihr werdet ja vielleicht den ganzen Tag unterwegs sein.“ Annika schüttelte entsetzt den Kopf: Den ganzen Tag im Wasser, immerzu schwimmen? Nein, das wollte sie nicht.
„Danke, ich habe schon was aus dem Heim mitgenommen. … Ich weiß nicht, wann ich sie wiederbringe. Es kann ein bisschen dauern – sie soll es ja schließlich lernen. … Komm, wir wollen los.“
Bevor Annika Einwände äußern konnte, waren sie schon unterwegs. Sie gingen nicht zu der Bucht, die das Mädchen so schrecklich in Erinnerung hatte, sondern verließen das Dorf und wanderten ein Stück am Fluss entlang bis zu einer kleinen Bucht zwischen Wiesen und Wald. Es musste ja nicht jeder zusehen, wie Annika das Schwimmen lernte, fand der Junge. Greenleaf hängte den Beutel mit ihrem Mittagessen an einen jungen Baum, zog Oberteil und Schuhe aus und legte sie zusammen mit seinem Gürtel unter den Baum. Dann befahl er: „Los, Schuhe und Gürtel aus. Komm schon!“ Annika schüttelte den Kopf – sie wollte gar nicht schwimmen lernen. Wozu brauchte sie das, wenn sie nie mehr ins Wasser gehen wollte. Doch der Junge drohte: „Wenn du es nicht machst, ziehe ich dich aus!“ Dann wandte er sich zum Wasser.
Nach einigem Maulen folgte ihm das Mädchen, doch als das Wasser ihre Knöchel umspielte, blieb sie stehen. „Ich will nicht! Warum willst du, dass ich schwimmen lerne, wenn ich es nicht will? Ich muss das nicht können! Das Wasser ist nass. Ich finde das widerlich.“
„Du musst es einfach lernen. … Hör zu: Du willst, dass ich dich nach Hause bringe, ja? Das ist ein weiter Weg und wahrscheinlich müssen wir auch mal kleinere Flüsse durchqueren. Da musst du schwimmen können, denn wir können nicht jedes Mal ein Floß bauen, dann sind wir in einem Jahr noch nicht da. Also stell dich jetzt nicht so an.“ Greenleaf war weitergegangen, stand jetzt ein Stück entfernt bis zur Hüfte im Wasser. „Außerdem, siehst du, hier ist es überall flach. Da kannst du gar nicht untergehen“, er zeigte in Richtung auf den Fluss, „Bis da hinten geht dir das Wasser nur bis zur Brust, da musst du keine Angst haben. Komm jetzt endlich, sonst hole ich dich.“
Das grimmige Gesicht des Jungen ließ keine Zweifel aufkommen – er meinte, was er sagte. So gab Annika auf. Ergeben ging sie weiter. Das Wasser stieg über ihre Waden, ging bis zu den Oberschenkeln, umspielte schließlich ihre Hüften, als sie bei Greenleaf ankam. Eng schlang sie die Arme um den Oberkörper, zitterte vor Angst. Doch der Junge, der eben noch so grob und ungeduldig gewirkt hatte, beruhigte sie nun. Sanft legte er eine Hand unter Annikas Becken, die andere an ihren Hinterkopf. „Schsch, ganz ruhig. Du musst nichts tun. Du legst dich gleich auf das Wasser. Fühlst du meine Hände? Sie werden dich tragen. Du kannst mir vertrauen – ich werde dich halten“, Behutsam hob er die untere Hand und Annikas Füße verloren den Kontakt zum Boden. Einen Moment verkrampfte sich ihr Körper, doch dann spürte sie, wie sie auf dem Wasser lag, fühlte sich sicher in den Händen des Jungen. Langsam bewegte sich Greenleaf voran, ließ das Mädchen spüren, wie das kühle Nass um ihren Körper strömte. Annika hatte den Eindruck zu schweben. Dann blieb der Junge wieder stehen. „Breite deine Arme aus. … So ist’s gut. Ich lasse dich jetzt los. Keine Angst, ich bleibe neben dir stehen. Fühle einfach mal, wie dich das Wasser trägt.“ Tatsächlich, auch als sich die warmen Hände von ihrem Körper lösten, ging Annika nicht unter.
Schließlich beugte Greenleaf sich über sie, stupste sie an: „Nimm die Beine runter, du kannst dich wieder hinstellen“, sagte er. Dann, als Annikas Füße wieder fest auf dem Sand standen, fragte er: „Und, wie war’s? Es ist nicht schlimm, hast du gemerkt? Das Wasser trägt deinen Körper, du musst nur Vertrauen haben.“ Begeistert nickte das Mädchen. Der Fluss schien ihr viel weniger schrecklich als noch vor einigen Tagen. Vielleicht würde sie sich doch mit ihm anfreunden können.
Sie übten weiter. Erst noch in der Rückenlage, dann in der Bauchlage legte Annika sich auf das Wasser, erlebte den Auftrieb und ließ sich treiben, immer und immer wieder. Einmal wollte sie dem Jungen zu früh etwas sagen, bekam Wasser in den Mund und verschluckte sich. Doch sie geriet nicht in Panik, hustete nur und lachte dann. Auch der Junge lachte: „Pass auf, jetzt machen wir was ganz Tolles.“ Annika musste sich wieder auf den Rücken legen, die Arme leicht ausgebreitet, die Beine gestreckt. Dann fasste Greenleaf sanft unter ihren Kopf und zog sie durch das Wasser, beschrieb Kurven und Bögen. Das Mädchen blickte zum Himmel, sah die Wolken über sich und manchmal das konzentrierte Gesicht des Jungen. Sie genoss die Bewegung. Schließlich stellte Greenleaf sie wieder hin, bestimmte: „Los, raus aus dem Wasser, du kriegst schon blaue Lippen.“ Sie liefen zu dem Baum, unter dem ihre Sachen lagen. Der Junge hatte eine Decke mitgenommen; die legte er Annika nun um die Schultern. Dann setzten sie sich in den Schatten und verzehrten ihr Mittagessen. Dem Mädchen war inzwischen wieder warm geworden. So breitete sie die Decke aus und beide legten sich zurück, blickten auf das Spiel von Licht und Schatten in den Blättern über ihren Köpfen. Es war schön, so zu zweit zu liegen, dachte der Junge. Er spürte Annikas warmen Körper neben sich. Belustigt schüttelte er den Kopf: Du liebe Güte, wie sehr vertraute sie ihm! Das konnte sie selbstverständlich auch, überlegte er dann grimmig.
„Sag, wenn ihr nicht schwimmen geht, was macht ihr in eurer Freizeit?“, lenkte Greenleaf seine Gedanken in andere Bahnen.
„Manchmal treffen wir uns und unterhalten uns, wie ihr auch. … Aber wir singen nicht“, fügte Annika bedauernd hinzu, „Dafür hören wir Musik und manchmal tanzen wir auch – im Jugendclub. Das macht Spaß – es gibt sogar extra Tanzmusik dafür. … Aber meist, meist gehen wir ins Kino oder spielen interaktive Spiele am Bildschirm.“
„Kino und hä?“, fragend drehte Greenleaf sich zu Annika. Das Mädchen stützte sich auf ihre Ellenbogen.
„Das Kino ist ein Raum, so wie eure Versammlungshalle – nur anders. Es ist hell und gemütlich, aber wenn der Film läuft, ist es ziemlich dunkel – sonst geht das nicht. Es gibt kleine Räume, wenn nur wenige Leute einen bestimmten Film gemeinsam sehen wollen und große für viele. Und wenn man einen Film nur allein oder zu zweit sehen will, dann geht man in einen Privatraum. Überall stehen Liegesessel drin. Die passen sich deinem Körper an und sind total bequem. Da setzt du dich dann rein und bekommst ein Glas mit einem Vitamingetränk und manchmal, je nachdem was für ein Film läuft, auch Riegel, die beruhigen oder entspannen. Die Sessel haben extra Halterungen an den Armlehnen, da kannst du die Sachen abstellen. … Na ja, und alle Sessel sind auf die Leinwand gerichtet. Du liegst dann bequem in deinem Sessel und dann siehst du dir den Film an, den du ausgewählt hast.“
Greenleaf verstand kein Wort von dem, was Annika erzählte. Das Mädchen erklärte: „Stell dir vor, du möchtest mal was anderes sehen als unsere Stadt. Dann wählst du einen Film über … über … hm, über die Natur oder so. Dann siehst du, so als ob du selbst es erleben würdest, wie jemand einen Gleiter besteigt und dann über die Wälder fliegt.“
„Aber das macht ihr doch ohnehin, hast du gesagt.“
„Ja, aber du erlebst mehr, als wenn du nur von einer Stadt zur anderen fliegst. Du fliegst nicht nur oben drüber, du tauchst richtig in den Wald ein. Du fliegst dann vielleicht ganz dicht über einen Wasserfall, dass du dich duckst, weil du denkst du wirst sonst nass und dann landet der Gleiter auf einer Lichtung und die Leute steigen aus und filmen die Tiere im Wald. Du hast das Gefühl, du kannst die Blätter um dich herum spüren und du siehst dann, wie Vogelschwärme aufsteigen und dich umkreisen oder wie ein Jaguar ein Wasserschwein jagt und so was. Das ist total aufregend und echt gruselig, wenn der das Tier fängt. Das ist absolut spannend und … na ja, als der Jaguar das Wasserschwein getötet hat, war das echt schrecklich und … eklig. Dann ist man froh, dass man das nur im Film sieht – weil: Jaguare und Wasserschweine – die gab’s früher mal, die sind ausgestorben.“
„Ich verstehe es trotzdem nicht“, wandte Greenleaf ein, „warum seht ihr euch auf dem … wie heißt das?“
„Im Film.“
„… im Film an, wie der Wald aussieht? Warum geht ihr nicht selbst in den Wald? Könnt ihr die Tiere und die Pflanzen in eurem … Film anfassen? Oder riechen und hören?“
„Hören schon, der Film hat ja Ton. Riechen nur, wenn es etwas Angenehmes ist. Dann wird im Kino ein passender Duft vernebelt – meistens von Blumen oder Früchten. Man soll sich ja wohl fühlen, wenn man ins Kino geht. … Aber wenn jemand rennt und schwitzt … oder Blut, das gibt’s nicht als Geruch – nee, zum Glück nicht; das will ja keiner riechen. Aber anfassen geht nicht, es sind ja nur Bilder, auch wenn sie dreidimensional sind und du das Gefühl hast, du bist mitten drin.“
„Ich verstehe es trotzdem nicht. Wenn ich die Tiere sehe, dann will ich in ihre Nähe, dann will ich sie riechen und hören und dann will ich sie jagen können. Wenn ich im Wald bin, will ich den Boden unter meinen Füßen fühlen und die unterschiedlichen Strukturen der Baumrinde und ich will beim Wasserfall den Sprühnebel wirklich fühlen und meine Haare sollen wirklich nass werden. Ich will wirklich rennen, auch wenn ich schwitze, und nicht sitzen und angucken, jedenfalls nicht nur. Was habe ich davon, wenn ich es nur sehe? Welchen Sinn macht der Film?“
Annika zog die Brauen zusammen. So wie Greenleaf es darstellte, klang es schrecklich unbefriedigend und – ja, sogar sinnlos, was sie machten. Es waren Erlebnisse aus zweiter Hand. Konnte er sich nicht vorstellen, wie aufregend es war, dem Jaguar bei seiner Jagd zuzusehen? Sie lachte auf: Was war sie dumm – Greenleaf war doch Jäger, kannte das Gefühl mehr als jeder andere, den sie kannte, Clearwater ausgenommen. Dann dachte sie an ihre Flucht vor den Riesenschnäbeln. Das war noch viel aufregender gewesen als jeder Film – viel mehr als man ertragen konnte. Doch sie hatte es ertragen! Dann sollte es doch jeder andere auch ertragen können. Sie erinnerte sich an die Angst, das Rasen ihres Herzens bei der Flucht, hatte sie doch nicht gewusst, wie die Jagd ausgehen würde. Mehr noch aber erinnerte sie sich an das Gefühl der Freude und Erleichterung, als alles überstanden war. Mit einem Mal war sie sich wirklich bewusst, dass das, was sie als scheinbare Realität im Kino erlebte, tatsächlich nur eine Illusion war, dass nur ihre Fantasie beschäftigt wurde, während der Körper passiv im Sessel lag. Bekamen sie deshalb bei aufregenden Filmen die Knabber-Riegel mit beruhigenden Wirkstoffen, weil sonst der Körper mit zu viel Adrenalin überschüttet wurde?
Annika war unzufrieden. Irgendwie hatte Greenleaf ja Recht. Doch auf der anderen Seite: Kino war doch nicht nur Ersatz für die Wirklichkeit, es war doch mehr. Sie überlegte: „Aber es gibt ja auch noch andere Filme. Zum Beispiel Filme, die zeigen, wie das Leben in der Vergangenheit vor der Katastrophe war. Da kannst du dann sehen, was die Leute früher für Fortbewegungsmittel hatten und wie es in den Städten aussah. Das ist wirklich interessant. Man lernt so viel über die Menschen und auch darüber, wie wir uns entwickelt haben. … Oder lustige Filme! Die guckst du dir mit deinen Freunden an und dann lacht ihr alle darüber. … Wie wenn ein Junge ein Mädchen ansprechen will und nicht weiß, wie er es machen soll und dann verhaspelt er sich oder stolpert über seine eigenen Füße und fällt ihr in den Schoß oder … was ist?“
„Annika, wir sind beide 17. Wir wissen doch, wie blöd man sich manchmal benimmt, wenn man jemanden kennenlernt“, Greenleaf errötete leicht, „Ich meine, du hast Recht, … es ist manchmal lustig. Zumindest war es lustig, als Stormcloud Wildwind eine Blume geschenkt hat, die er aus einem Beet ausgegraben hatte, das sie gerade vorher bepflanzt hatte. Als Wildwind das erzählt hat, haben wir alle gelacht. … Für Stormcloud war das am Anfang echt peinlich. … Na ja, was ich sagen will ist, so was erleben wir doch … ich meine, ich habe mich auch schon mal ziemlich blöd angestellt. Da will ich nicht, dass das jemand im … äh, Film zeigt.“
„Oh, das sind doch aber keine echten Situationen. Im Film spielen Schauspieler die Sachen nach, die in der Wirklichkeit vorkommen, übertrieben meistens, damit man darüber lachen kann, aber es ist nicht jemand Echtes, der ausgelacht wird. Verstehst du?“
Greenleaf war sich nicht sicher, sah aber trotzdem nicht, welchen Nutzen der Film haben sollte, wenn man die meisten Sachen selbst erleben oder in Gesprächen mit anderen Menschen erfahren konnte. Nun gut, vielleicht war es ganz interessant, zu sehen, wie die Menschen vor der Katastrophe gelebt hatten. Es konnte sicher ganz nützlich sein, zu sehen, wie sie mit bestimmten Situationen umgegangen waren, um aus ihren Fehlern zu lernen. Trotzdem war sich der Junge sicher, dass er das Kino nicht erleben wollte und er verstand die Stadtbewohner nicht, die auf echte Erfahrungen zugunsten einer Illusion verzichteten. Doch er wollte nicht mit Annika streiten. Er mochte sie – sie war nett, netter als Clearwater – stritt sich nicht dauernd mit ihm und sie war so ganz anders als die Menschen, die er kannte. Außerdem müsste er erst einmal so einen Film sehen, um wirklich beurteilen zu können, ob er so sinnlos war, wie die Beschreibung vermittelt hatte. Also setzte er sich auf und sagte: „Wir sollten weiter machen. Ich meine, wir sollten wieder ins Wasser gehen. Kannst du noch?“
Sie setzten ihre Schwimmübungen fort. Nachdem Annika gelernt hatte, sich vom Boden abzustoßen und zu gleiten, zeigte Greenleaf ihr die Schwimmbewegungen.
„He, nicht so wild. Lang strecken, lang. Spür doch, wie du gleitest. Ist das nicht schön?“ Zunächst hektisch, zunehmend aber sicherer, folgte das Mädchen den Befehlen des Jungen und stellte nach einiger Zeit zu ihrem Erstaunen fest, dass das Wasser sie sicher trug.
Nachdem sie gelernt hatte, gleichmäßig zu atmen und ruhig zu ziehen, schlug Greenleaf vor: „Komm, lass uns zusammen ein Stück schwimmen“.
Was für ein schönes Gefühl! Nebeneinander glitten sie durch das Wasser, genossen die Bewegung.
Plötzlich jedoch hielt Annika inne, ruderte wild auf der Stelle. „Greenleaf!“, rief sie erschrocken, „Ich kann den Grund nicht mehr sehen! Hier ist es tief!“
„Hör nicht auf, schwimm weiter!“, befahl der Junge und beruhigte sie dann, „Du schwimmst doch an der Oberfläche, da ist es völlig egal, wie tief das Wasser unter dir ist. Ich meine, wenn du schwimmen kannst, kannst du überall schwimmen, ob in einer flachen Bucht oder im tiefsten See der Welt. Verstehst du?“
„Aber ich kann den Grund nicht sehen!“
„Was macht das schon. Du willst doch nicht zum Grund tauchen, du schwimmst doch. … Na gut, für heute reicht das ja auch. Lass uns umdrehen.“ Sie schwammen zurück.
Schwer atmend stieg Annika aus dem Wasser. „Puh, das war anstrengend!“, dann, nach einem Moment der Besinnung, schrie sie plötzlich begeistert: „Ich kann schwimmen! Greenleaf, ich kann’s! Ich kann schwimmen!“ Schwungvoll warf sie sich dem Jungen in die Arme. Auch Greenleaf strahlte – in nur einem Tag hatte Annika schwimmen gelernt, das war toll. Nach einem Moment lösten sie sich voneinander, leicht verlegen, doch dann überwog die Begeisterung. Lachend liefen beide zu ihren Sachen, schnappten sich den Beutel und die Decke und liefen, immer noch voller Begeisterung am Fluss entlang zum Dorf zurück.