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3. Die deutsche Archivlandschaft seit dem 19. Jahrhundert
Оглавление3.1 Öffentliche Archive
Staatsarchive
Der Archetyp eines modernen Archivs ist das staatliche Archiv, denn es waren die Staaten, die als erste im früheren 19. Jahrhundert systematisch historische Archive einrichteten und unterhielten. Alle jüngeren Archivtypen leiten sich entweder von diesem Vorbild ab oder sind später in Abgrenzung von diesem als nicht-staatliches oder sogar sogenanntes „freies“ Archiv entstanden. Die Funktions- und Arbeitsweise der Staatsarchive ist jedoch in der Regel für die meisten Archivtypen Vorbild, oder sollte es wegen ihrer langjährigen Bewährung zumindest sein.
Archivsprengel
Die Frühgeschichte der staatlichen Archive steht in enger Verbindung mit ihrer Vorgeschichte. Sie verwahrten nach wie vor Unterlagen im Besitz und Eigentum des Staates oder – als sogenanntes Hausarchiv – der herrschenden Dynastie. Staatsarchive blieben deshalb geheim, waren also mit Zugangsbeschränkungen versehen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein flächendeckendes Netz staatlicher Archive, indem jeder der neuen Bundesstaaten sein Territorium in sogenannte Archivsprengel unterteilte: Ein territorial fest umrissenes Gebiet, etwa ein Regierungsbezirk, wurde einem Staatsarchiv zugeordnet, das fortan für die Übernahme aller historisch wertvollen Unterlagen aller staatlicher Behörden und Stellen in diesem Sprengel zuständig war und dem alle älteren mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Archivalien aus älteren Territorien innerhalb des Sprengels übergeben wurden.
Die Größe der Archivsprengel bzw. die Zahl der staatlichen Archive richtete sich jeweils nach den örtlichen Verhältnissen. Bei kleineren Staaten reichte auch ein einziges Archiv für das ganze Land aus. Ansonsten musste immer auch ein Archiv als Haupt-Archiv dienen, das die Unterlagen der zentralstaatlichen Ebene, also der Regierung und der Ministerien übernahm. Die Benennung dieser Archive schwankt bis heute zwischen „Hauptstaatsarchiv“, „Landeshauptarchiv“ oder auch „Generallandesarchiv“. Ein deutsches Nationalarchiv konnte naturgemäß erst nach der Reichsgründung 1871 entstehen, allerdings vollzog sich seine Gründung erst 1919 mit Einrichtung des Reichsarchivs, das 1945 mit dem Reich unterging. Die Bundesrepublik richtete dann wieder ein Bundesarchiv ein, während die Deutsche Demokratische Republik ein Zentrales Staatsarchiv unterhielt.
Die Abgrenzung regionaler Sprengel dient in den meisten Fällen als Rechercheinstrument erster Ordnung, das dem Benutzer auch ohne zusätzliche Hilfsmittel erlaubt, vom heimischen Schreibtisch her das staatliche Archiv zu bestimmen, in dem die gesuchten Unterlagen verwahrt werden. Es können sich dann gezielte Anfragen anschließen, die ihn unmittelbar zu den einschlägigen Beständen führen.
Voraussetzung dafür ist eine gewisse Kenntnis der Archiv- und der Verwaltungsgeschichte. Wenn bekannt ist, welche Behörde oder staatliche Stelle zu welchem Zeitpunkt welche Aufgabe hatte (was einer guten Verwaltungsgeschichte zu entnehmen ist), ist wenigstens der Theorie nach automatisch auch bekannt, in welches Archiv diese Stelle abgeliefert hat, wo die Akten zu der Aufgabe, die untersucht werden soll, also zu finden sind.
Theorie und Praxis
Dies beschreibt natürlich einen Idealfall, während sich in der Praxis die Grenzen der älteren Territorien (etwa der geistlichen Herrschaften, die nun in den neuen Staaten aufgegangen waren) häufig nicht mit den neu geschaffenen Verwaltungsgrenzen in Deckung bringen ließen. Auch eine mittelalterliche Grafschaft, deren Territorienbündel sich quer zu modernen Grenzen erstreckte und die vielleicht in der Frühen Neuzeit wegen Aussterbens der Familie geteilt wurde, hat oft keine direkte Entsprechung in heutigen Archivsprengeln. Vielmehr wurden nach dem Prinzip der Archivfolge bei Untergang des Fürstenhauses die Archivalien auf verschiedene Erben verteilt oder einem belassen, wo sie dann dem eigenen Archiv zugeschlagen wurden, in dem sie wiederum bis heute verwahrt werden, auch wenn die politischen Ereignisse, die einst zur Übernahme des Archivs geführt hatten, nur kurzfristiger Natur waren. Auf diese Weise gelangten nicht selten Archivalien in Archive, in denen man sie nicht vermuten würde. Bei den Altbeständen aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert ist auf diese Weise immer mit einem erhöhten Rechercheaufwand zum Verbleib von Archivgut zu rechnen, und auch die festen Zuordnungen zu Archivsprengeln sind bisweilen durch die politischen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts obsolet geworden.
Ausbildung weiterer Archivtypen
Die Entwicklung der deutschen Archivlandschaft war jedoch mit Ausbildung der Staatsarchive seit dem früheren 19. Jahrhundert noch nicht beendet. Sie wurde vielmehr durch diese erst eingeleitet. Denn Staatsarchive übernehmen ja nur Akten staatlicher Stellen, nicht jedoch die kommunaler oder sonstiger Körperschaften des öffentlichen Rechts. Auch diese standen also vor der Aufgabe, ihre eigenen historisch wertvollen Unterlagen zu sichern und benutzbar zu machen, also für eine Archivierung zu sorgen.
Beleg für Autonomie
Von größter Bedeutung waren dabei in Deutschland föderale oder auch dezentrale politische und administrative Traditionen. Ein eigenes Archiv zu unterhalten wird zwar heute bisweilen eher als lästige, weil teuere Pflicht angesehen. Doch im Lichte der deutschen Verfassungsstrukturen ist das Recht, ein öffentliches Archiv zu betreiben, ein tatsächliches Privileg, das Autonomie dokumentiert. Wer selbst für die Sicherung der bei ihm erwachsenen historischen Quellen verantwortlich ist, demonstriert Eigenständigkeit, schafft ein eigenes historisch-kulturelles Gedächtnis und ist so in der Lage, seine verfassungsmäßige Autonomie dauerhaft im Bewusstsein zu halten. Gerade in jüngerer Zeit haben verschiedene Disziplinen mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Nationen und Regionen keine naturgegebenen Größen sind, sondern dass es sich um Konstrukte handelt, die u. a. durch ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein etwa der Bewohner einer Region konstituiert werden. Dieses Geschichtsbewusstsein erfordert die Pflege der Quellen, die es (vermeintlich) dokumentieren – und dazu ist ein eigenes Archiv als Institution und als Ort, als Fixpunkt des Bewusstseins der Gemeinsamkeit wichtig.
Stadtarchive und weitere öffentliche Archive
Auf das Privileg, eigene Archive zu unterhalten, verzichteten daher auch nach Schaffung der Staatsarchive andere potenzielle öffentliche Archivträger nicht. Eine ehemalige freie Reichsstadt, die in der Napoleonischen Zeit zwar ihre politische Unabhängigkeit, nicht aber die Erinnerung an in diesem Sinne bessere Zeiten kommunaler Freiheit verloren hatte, hatte daher durchaus Interesse daran, wenigstens die Restbestände der früheren Selbständigkeit und mit diesen ein eigenes Stadtarchiv zu verteidigen. So entstand nach und nach als Ergänzung zu den Staatsarchiven ein weiterer Typ öffentlicher Archive, die Stadtarchive, die analog den Staatsarchiven jeweils für die Behörden ihres Sprengels, der Stadtverwaltung, die Zuständigkeit übernahmen. Später kamen in einem bis heute noch nicht abgeschlossenen Prozess Kreisarchive, Parlamentsarchive und die Archive verschiedener Körperschaften des öffentlichen Rechts wie etwa Universitäten oder Rundfunkanstalten hinzu, die ebenfalls Wert darauf legen, ihre Autonomie durch eigene Archive zu unterstreichen.
Grundsätzlich arbeiten alle diese Typen öffentlicher Archive nach den gleichen Grundsätzen und ähnlichen gesetzlichen Bestimmungen. Die Abgrenzung der Zuständigkeit nach Sprengeln wird hier durchgängig beachtet, so dass sich die Suche nach bestimmten Beständen hier genauso gestaltet wie bei den Staatsarchiven. Es ist vor allem wichtig zu wissen, wann und wo welche Aufgaben von Kommunen, Ländern, Gesamtstaat oder Körperschaften des öffentlichen Rechts wahrgenommen wurden, um die Akten der entsprechenden Behörden und Stellen zu finden.
Weitere Archivgründungen
Allerdings hinkte die tatsächliche Entwicklung der Theorie oft hinterher. Die Autonomie der Kommunen und Körperschaften hat auch zur Folge, dass staatliche Eingriffe in die Art und Weise, wie mit dem Archivprivileg umgegangen wird, nicht ohne weiteres möglich waren. Es konnte also nicht einfach verordnet werden, dass Städte und andere Körperschaften des öffentlichen Rechts sich im gebotenen Maß um die bei ihnen entstehenden Kulturgüter kümmerten. Daher verlief die Entwicklung des deutschen öffentlichen Archivwesens uneinheitlich und keineswegs gradlinig. Noch immer verfügen nicht jede Stadt und nicht jede Universität über ein professionell geführtes Archiv. Im 19. Jahrhundert und beschleunigt ab dessen Ende entstanden diese Archive erst nach und nach hier und dort, je nach den lokalen Verhältnissen bzw. wenn sich eine Persönlichkeit fand, die eine Archivgründung mit Nachdruck verfolgte. Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben waren, blieb es bei frühneuzeitlichen Verhältnissen: Alte Akten blieben in irgendeiner Weise den Verwaltungen angeschlossen oder wurden ohne fachgerechte Bewertung vernichtet. Zahlreiche schwer wiegende Quellenverluste waren die Folge, die das Fehlen moderner professioneller Archive aus dem Blickwinkel des Erhalts von Kulturgut zu einer ebensolchen Katastrophe machten, wie sie später der Zweite Weltkrieg mit seinen zahlreichen Bombenschäden sein sollte. Beide Phänomene zusammen und zahlreiche kleinere Vorfälle wie Brände oder Überschwemmungen sorgten dafür, dass Quellen, die theoretisch verfügbar sein müssten, nicht mehr vorliegen. Umgekehrt blieben aber auch Quellen erhalten, die eigentlich nach den Kriterien des 19. Jahrhunderts kassiert worden wären, es aber nicht wurden, weil noch genug Platz da war und sich niemand um sie kümmerte. Da es kein zentralisiertes deutsches Archivwesen gab und gibt, wurden nicht selten an einer Stelle Unterlagen erhalten, die an anderer vernichtet wurden, da sie erst im Abstand von mehreren Jahrzehnten als wertvolle Quellengruppe erkannt wurden. Solche Zufälle sollen heute mehr und mehr durch eine wissenschaftliche Bewertungsdiskussion zwischen Archiven ausgeschlossen werden, doch muss man kein Prophet sein um zu erkennen, dass sie weiter stattfinden werden, wenn vielleicht auch in geringerem Umfang als noch im 19. Jahrhundert.
Arbeitsteilung öffentlicher Archive
Für den angehenden Benutzer öffentlicher Archive ist es also wichtig zu wissen, dass es eine flächendeckende Arbeitsteilung zwischen Archiven gibt, die sich an der Trägerschaft von Behörden eines bestimmten Sprengels orientiert (Kommune – Land – Gesamtstaat – Körperschaft des öffentlichen Rechts). Dies lässt theoretisch bei guter Kenntnisse der Verwaltungs- und Archivgeschichte auch ohne zusätzliche Hilfsmittel das Finden der für eine Fragestellung einschlägigen Archivalien zu. Dennoch ist immer mit Quellenverlusten oder auch mit einer inkonsequenten Handhabung der Arbeitsteilung zu rechnen, die die verschiedensten Ursachen haben können und die oft Zufällen geschuldet sind.
3.2 Das Archivwesen der DDR
Archivwesen der DDR
Die Deutsche Demokratische Republik ging auch im Archivwesen andere Wege als die Bundesrepublik, so dass es ratsam ist, ihr Archivwesen in einem besonderen Abschnitt zu behandeln. Sie baute ein zentralisiertes Archivwesen auf, das nach der Wiedervereinigung wieder demontiert wurde, so dass es heute in der Archivorganisation der alten und neuen Bundesländer keine grundsätzlichen Unterschiede gibt. Der Benutzer wird jedoch dem Archivwesen der DDR bei der Einsichtnahme in viele Altbestände in den neuen Bundesländern begegnen. Entgegen der allgemeinen deutschen Tradition arbeitete das Archivwesen der DDR nach einheitlichen, teilweise ideologisch begründeten Richtlinien und Vorgaben – wobei fraglich ist, ob sich die Archivare in der Praxis immer strikt an die Vorgaben gehalten haben.
Daneben war die Unterscheidung zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen Archiven in einem sozialistischen System nicht sinnvoll, in dem Parteien, Verbände oder Unternehmen eng mit dem Staat verzahnt waren. Das hat zum einen zur Folge, dass man in den staatlichen Archiven der ehemaligen DDR auf Bestände beispielsweise von Wirtschaftsunternehmen stoßen kann, dass also der „öffentliche“ Archivbestand in gewisser Hinsicht reicher sein kann als im Westen.
3.3 Nicht-öffentliche Archive
Nicht-staatliches Archivgut
Im 19. Jahrhundert begann also der Aufbau eines flächendeckenden öffentlichen Archivwesens. Öffentliche Archive enthalten jedoch zunächst und ihrer Hauptfunktion nach nur die Akten der Behörden ihres Sprengels. Historisch arbeitende Disziplinen benötigen jedoch neben den Archivalien der öffentlichen Archive auch den Zugriff auf Schriftgut und andere Quellen nicht-öffentlicher und privater Herkunft. Zu denken ist dabei nicht nur an die Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten, sondern auch an die Unterlagen von Vereinen, Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsunternehmen, Familien bzw. Adelshäusern und Kirchen.
Der Staat und die Kommunen konnten im 19. Jahrhundert wie heute jedoch nur über die Unterlagen frei verfügen, die sich in ihrem Eigentum befanden und befinden. Das heißt, dass etwa der Auftrag von Staatsarchiven nicht dahin gehen konnte, alles historisch interessante Quellenmaterial aus ihrem Sprengel zu sammeln und zu verwahren, sondern ihr primärer Auftrag konnte es nur sein, sich um die bei staatlichen Stellen entstehende Überlieferung zu kümmern. Um andere Unterlagen privater Herkunft konnten sie sich zwar bemühen, nämlich um sie als sogenannte Ergänzungsdokumentation neben den eigentlichen staatlichen Beständen zu verwahren. Aber der Staat hatte und hat keine Rechte an solchen privaten Unterlagen. Die Staatsarchive konnten das Eigentumsrecht privater Archive oder Archivalienbesitzer nicht einschränken. Der grundsätzliche Respekt vor Privateigentum, der in Deutschland aus guten Gründen auch im restaurativen 19. Jahrhundert herrschte, verhinderte direkte Eingriffe in den Umgang mit privatem Archivgut bzw. potenziellen Archivgut privater Herkunft. Privatleuten, Vereinen, Unternehmen usw. stand und steht es frei, mit ihren Unterlagen nach Gutdünken zu verfahren, inklusive der Vernichtung oder der Verwehrung jeden Zuganges. Dies behindert zwar die Forschung bisweilen stark, doch ist dies Teil einer Verfassung, die die elementaren Rechte des einzelnen schützt, zu denen das Eigentumsrecht nun einmal gehört. Das ist unter dem Strich bei aller Einschränkung von Forschung im Einzelfall positiv zu bewerten.
Entstehung nicht-öffentlicher Archive
Allerdings gibt es angesichts des hohen kulturellen und historischen Wertes vieler nicht-staatlicher Bestände ausreichend gute Gründe dafür, private Archivalien nicht nur zu schützen und zu erhalten, sondern sie auch frei zugänglich zu machen. Deshalb ist immer anzustreben, sie professionell zu betreuen, entweder in eigenen Archiven oder als Hinterlegung in einem anderen Archiv. Diese Erkenntnis ließ schon im 19. Jahrhundert zahlreiche private bzw. nicht-öffentliche Archive entstehen. Wichtig sind in diesem Bereich die Adelsarchive, die Kirchenarchive und später auch die Wirtschaftsarchive in den Formen als Konzernarchiv, das auf ein Unternehmen bezogen ist, und als regionales Wirtschaftsarchiv, das Unterlagen von Unternehmen aus einem bestimmten Sprengel übernimmt. In der weiteren Entwicklung treten dann Partei- und Vereinsarchive hinzu sowie all die anderen Typen von Archiven, die mittlerweile zu finden sind.
Struktur des nicht-öffentlichen Archivwesens
Nicht-öffentliche Archive lassen sich grob in zwei Gruppen teilen, nämlich in solche, die analog öffentlichen Archiven organisiert sind, und andere. Die erste Gruppe ist einfacher zu beschreiben: Es handelt sich um Archive privater Unterhaltsträger, die sich dazu entschlossen haben, in eigenen Ordnungen oder Satzungen ihr Archivwesen so zu organisieren, wie es das öffentliche Vorbild vormachte. So verfügen die Kirchen beider Konfessionen mittlerweile über ein eigenes Archivwesen, das sich äußerlich kaum noch wahrnehmbar vom staatlichen unterscheidet. Die Landeskirchen und Bistümer unterhalten jeweils ein Archiv für ihren Bereich, während auf lokaler Ebene die oft nebenamtlich betreuten Pfarrarchive der einzelnen Gemeinden tätig sind. Ähnliches ist für große Wirtschaftsarchive festzustellen, und zwar sowohl für die einzelner Konzerne als auch für regionale Wirtschaftsarchive, die die Unterlagen von Unternehmen aus einer bestimmten Region sammeln. Auch die großen Parteien verfügen mittlerweile über fest etablierte Archive, die als Stiftungen organisiert sind. Meist kann der Benutzer in diesen Archiven mit einem guten Service und Offenheit rechnen. Die Zugangsrechte zum Archivgut sind oft ähnlich wie im staatlichen Bereich geregelt, so dass die Benutzung nicht von der Willkür eines einzelnen Archivars abhängen kann.
Nebenamtlich betreute Archive
Das trifft nicht immer für die große Gruppe der sonstigen nicht-öffentlichen Archive zu, die sich in einer bunten Vielfalt herausgebildet haben. Schon im 19. Jahrhundert gab es z. B. bei lokalen oder regionalen historischen Vereinen Sammlungsbestrebungen. Alles mögliche greifbare Material zur eigenen Region, aber auch zu einem bestimmten Thema wurde zusammengetragen, nicht nur Archiv-, sondern auch Bibliotheks- und Museumsgut. Daraus wurden zum Teil Vereinsarchive mit zwar bisweilen auch überregional bedeutsamen Beständen, die aber oft nebenamtlich und bisweilen mit mehr Eifer als Sachkenntnis geführt wurden. Mit welchen Bedingungen Benutzer hier zu rechnen haben, lässt sich nicht vorhersagen. Das gilt auch für Adelsarchive, bei denen die Zugänglichkeit oft vom guten Willen des Eigentümers, also der adeligen Familie, abhängt. Das gilt schließlich natürlich auch für all die Archive von Unternehmen oder privaten Stiftungen, die es nicht zu einer Professionalisierung gebracht haben und nebenamtlich oder gar nicht betreut in irgendeinem Keller liegen. Zugänglichkeit, Erschließung, aber auch die reine physische Erhaltung können hier stark leiden. Es sei jedoch ausdrücklich betont, dass es in diesem Bereich für jedes Negativbeispiel ein Gegenbeispiel eines vorbildlich geführten privaten Archivs gibt. Allerdings lässt sich nicht vorhersehen, wie sich ein solches Archiv im Falle einer Benutzeranfrage verhält, und oft ist die Verantwortung so stark personalisiert, nämlich an eine Person mit Interesse, Engagement und Sachkenntnis gebunden, dass Urlaub, Krankheit oder auch das Ausscheiden aus Altersgründen alles einmal Erreichte wieder zunichte machen kann.
3.4 Nicht-öffentliches Archivgut in öffentlichen Institutionen
Bibliotheken
Neben diesen privaten Archiven gibt es noch zahlreiche oft auch staatliche Institutionen, die Archivalien verwahren, aber weder ein Archiv sind noch sich so nennen. Am wichtigsten sind in diesem Bereich die Bibliotheken. Diese standen im frühen 19. Jahrhundert vor dem gleichen Problem wie die Archive: Von den aufgelösten und übernommenen ehemaligen Herrschaftsgebilden übernahm der neue Staat nicht nur die Archivalien, sondern auch den Buchbesitz, der insbesondere im Falle der aufgehobenen Klöster mit ihren reichhaltigen bis in das Mittelalter zurückgehenden Bibliotheken sehr groß und bedeutend sein konnte. Die Bücher wurden genauso wie Archivgut taxiert und nicht selten vernichtet, vielfach aber auch in eine staatliche Bibliothek übernommen. Hier interessieren v. a. die mittelalterlichen Handschriften, bei denen es sich um handschriftliche Unikate handelt. Als solche sind sie streng genommen als Archivgut zu bezeichnen. Doch die bibliothekarische Tradition war schon im frühen 19. Jahrhundert ausgeprägt genug, um sich für solche nicht gedruckten Unikate zuständig zu erklären, wenn es sich um Codices etwa mit einem literarischen, wissenschaftlichen oder theologischen Inhalt handelte, also um Werke, die in späterer Zeit in gedruckter Form verbreitet wurden und deshalb als Vorstufe des modernen Buchs gelten müssen – im Unterschied zum spätmittelalterlichen Amtsbuch, das mit ihnen die äußere Form teilt, aber nach Zweck und Inhalt etwas ganz anderes ist. Zahlreiche große Bibliotheken verfügen so über eine archivähnliche Handschriftenabteilung.
Nachlässe in Bibliotheken
Hinzu trat während des 19. Jahrhunderts eine bibliothekarische Sammlungstätigkeit, die sich auf echtes Archivgut konzentrierte. Denn da staatliche Archive nicht für die privaten Nachlässe von Dichtern oder Wissenschaftlern zuständig waren, diese aber bedeutende Quellen enthielten, die zudem gewinnbringend gemeinsam mit ihren gedruckten Werken ausgewertet werden konnten, haben Bibliotheken die aus Manuskripten und Korrespondenzen bestehenden Nachlässe von „Dichtern und Denkern“ erworben, vielleicht auch aus der Verehrung der Zeit für „große Männer“ heraus. Diese Tradition wird bis heute fortgesetzt, so dass ihre Nachlässe nicht selten in den Autographenabteilungen von Bibliotheken oder von Literaturarchiven zu suchen sind. Letztere sind ihrerseits aus Bibliotheken entstanden und stehen diesen nach Selbstverständnis und Arbeitsweise näher als Archiven im engeren Sinne.
Für den Benutzer ergibt sich daraus das Problem, dass er es mit zwei großen Gruppen von Institutionen zu tun hat – Archiven und Bibliotheken –, die zwar eng verwandt sind, aber völlig andere Arbeitsweisen im Umgang mit Archivgut haben. In Bibliotheken gilt das Provenienzprinzip nicht so uneingeschränkt als Norm wie in Archiven. Gravierender sind jedoch die Abweichungen bei der Bearbeitung der Bestände selbst: Während Archive möglichst die vorgefundene Struktur erhalten, sortieren Bibliotheken oft die einzelnen Schriftstücke neu, um z. B. zu einer alphabetisch-chronologischen Korrespondenzserie zu kommen, die Entstehungszusammenhänge unberücksichtigt lässt. Die Erschließung setzt dann auf der Ebene der einzelnen Schriftstücke an, die in alphabetischen Katalogen erfasst werden. Das erklärt sich zum einen daraus, dass Bibliotheken auch alle sonstigen Medien, die sie verwahren, Stück für Stück in einem gemeinsamen Verfasserkatalog erschließen und dieses Verfahren auf Autographen übertragen haben. Zum anderen ist dieses Vorgehen bei Künstler- und Gelehrtennachlässen auch sinnvoller als bei Verwaltungsakten, da die Benutzer z. B. mit wissenschaftsgeschichtlichen Fragen oft mehr die Korrespondenz zwischen zwei bestimmten Persönlichkeiten interessiert als Entstehungszusammenhänge. Wo allerdings letztere wichtig sind, ist das Verfahren von Nachteil. Dies zu wissen ist für Benutzer wichtig bei der Vorbereitung ihrer Studien. Bibliotheken fragen sie besser nach Personen, Archive nach sachlichen Gesichtspunkten.
Wissenschaftliche Institute und Museen
Neben den Bibliotheken gibt es noch zahlreiche andere Institutionen, die aus den unterschiedlichsten Gründen Archivgut verwahren. Wissenschaftliche Institute oder Museen erwerben nicht selten Nachlässe oder Sammlungen, die für ein konkretes Forschungsvorhaben wichtig sind und dann als Eigentum dort verbleiben. Bisweilen verwahren sie auch als Form einer institutionsbezogenen Gedächtniskultur die Nachlässe früherer Mitarbeiter. Und schließlich kommt es vor, dass ihnen ungefragt Archivgut übergeben wird, für das sie keine Verwendung haben, das sie aber auch nicht weitergeben wollen. Wie in all diesen Fällen mit dem Archivgut verfahren wird und ob Dritte überhaupt Zutritt haben, hängt dann allein von der jeweiligen Institution ab.
3.5 Archivgut in privaten Händen
Quellen in Privatbesitz
Als letzte Gruppe nicht-öffentlicher Archive ist der Privatbesitz im engsten Sinne zu nennen. Sowohl private Sammlungen als auch Nachlässe bedeutender Familienmitglieder können sich im Besitz der jeweiligen Familie befinden, oft in einem Schrank des Privathauses oder in seinem Keller. Die Lagerbedingungen können dabei gut oder schlecht sein, eine Erschließung findet selten statt und die Zugangsmöglichkeiten oszillieren zwischen äußerster Restriktion und freimütiger Ausleihe. Daher ist auch hier keine Voraussage möglich, welche Verhältnisse angetroffen werden. Das gilt auch für Sammler, die auf dem Markt angebotenes Archivgut aufkaufen und nicht immer bereit sind, andere an ihren Schätzen teilhaben zu lassen.
An dieser Stelle schließt sich wieder der Kreis hin zu den öffentlichen Archiven. Diese haben längst erkannt, dass es eminent wichtig ist, auch privates Schriftgut zu sichern und nutzbar zu machen. Sie bemühen sich daher mit unterschiedlicher Intensität darum, ergänzend zu den als Kernaufgaben verwahrten Verwaltungsakten Nachlässe und Sammlungen zur Geschichte ihres Sprengels zu erhalten. Wenn ihnen das gelingt, und das ist zum Glück nicht selten der Fall, verwahren sie jedoch Archivgut nicht-staatlicher Herkunft und vereinen die beiden Pole des Archivwesens in sich selbst, was auch bei ihnen zu mancher Inkonsequenz und überraschenden Wendung führen kann. Denn auf diese Weise kommt es vor, dass Archivalien in einem Staatsarchiv trotz dessen eigentlich benutzerfreundlichen Einstellung unter ähnlich rigiden Bedingungen zu benutzen sind, wie sie etwa in einem der Öffentlichkeit weitgehend entzogenen Adelsarchiv herrschen können.