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ОглавлениеDer Lebensbogen
Hanne Seemann2
Einführung
Die Metapher vom »Lebensbogen« ins therapeutische Spiel zu bringen, empfiehlt sich vor allem bei Patientinnen in der Lebensmitte und darüber hinaus. Oft haben psychische Probleme, insbesondere psychosomatische Störungen und Schmerzen, im Alter von 45 bis 50 angefangen oder haben sich in dieser Zeit erheblich verschlechtert, sodass die Betroffenen um Rat nachsuchen. Oft sind sie mit ihren Problemen schon eine ganze Weile in der therapeutischen Landschaft unterwegs und die Störung ist bereits chronisch geworden und hat sich von der Symptomatik her ausgebreitet. Die Symptome blockieren typischerweise das Voranschreiten in die Zukunft, besonders auffällig der Burn-out, Rückenschmerzen, Fibromyalgie, Panik- und Angststörungen. Und das in einem Lebensalter, wo die Frauen schon viel geleistet haben, sich »eigentlich« noch vital fühlen und noch einiges vorhaben – es geht aber nicht! Alles stagniert, ist mühsam und oft auch schmerzhaft, die Frauen sind verzweifelt und sagen: Wenn ich wieder gesund bin, habe ich noch dies und das vor. Oder aber, sie stecken fest und sind hauptsächlich mit den verschiedenen Therapien für ihre Beschwerden beschäftigt. Sehr oft trifft es Frauen, die vorher sehr aktiv, kompetent und erfolgreich waren und gerne gerade so weitergemacht hätten.
Der psychosomatische Hintergrund dieser Entwicklung ist Folgender: Es gibt in jedem Menschen eine Instanz – nennen wir sie Seele oder Unbewusstes –, die weiß: Das Leben soll rund werden, sich vervollständigen und bisherige Einseitigkeiten müssen nun ausgeglichen werden: Das bisher ungelebte Leben will hervortreten. Es drängt. Aber eben berufstechnisch zur Unzeit – und es lässt sich nur sehr schwer bis nach der Berentung vertrösten.
Hier hilft es zu sagen: Dazu erzähle ich Ihnen erst mal eine Geschichte und dann bereden wir, wie es ab jetzt weitergehen könnte.
Die Geschichte vom Lebensbogen kann einfach erzählt werden – allerdings sehr langsam! –, wobei die Patientinnen meistens ohne formelle Induktion in Trance gehen.
Trance: Die Geschichte vom Lebensbogen
Ich denke oft: Das Leben ist wie ein Regenbogen.
Manchmal ist der Regenbogen, den man da am Himmel sieht, brillant und farbig … wie das Leben in seiner Fülle. Und manchmal ist er ganz durchsichtig und fadenscheinig, sodass man ihn kaum erkennen kann, … wie das eigene Leben, wenn es einem durch die Finger rinnt.
Kennen Sie das kürzeste Märchen der Gebrüder Grimm?
Da sieht ein Mädchen am Himmel einen schönen Regenbogen und ruft dem alten Mann, der da auf einer Bank sitzt, zu: »Schau mal, ein Regenbogen!«
Und der Alte, das Kinn auf seinen Stock gestützt, sagt: »Ja, mein Kind … Wenn du an das Ende des Regenbogens kommst, findest du einen Schatz!«
Und das Mädchen macht sich auf den Weg.
Früher fand ich den alten Mann infam: Jeder weiß, dass man das Ende eines Regenbogens nicht finden kann!
Bis ich selbst älter wurde und mir die Weisheit dieser Geschichte aufging:
Es ist die Metapher vom Lebensbogen.
Wir leben in der Zeit … Das Auftauchen eines neuen Menschen in der äußeren Welt durchschneidet den Zeitpfeil … Immer wenn ein Kind geboren wird, ist das der Anfang eines Lebensbogens und ein Schatz, den das Kind findet, ohne es zu wissen.
Ebenso wenn wir sterben, … dann durchschneiden wir den Zeitpfeil wieder, und welchen Schatz wir dann finden werden, wissen wir auch nicht.
Dass Regenbögen, wenn wir sie vom Flugzeug aus sehen, rund und immer brillant sind … und dass das auch für Lebensbögen gilt, wenn man sie aus platonischer Sicht betrachtet, das wäre zu bedenken.
(Wenn die Patientin die Augen offen hat, kann man nun mit der Hand Bögen von links nach rechts in die Luft zu zeichnen, ebenso den Zeitpfeil als Grundlinie, aus dem der Bogen auf- und wieder absteigt.)
Jeder Mensch hat einen ganzen Bogen: … Wenn Kinder früh sterben, haben sie einen kleinen Bogen, … Menschen, die alt werden, einen großen.
Wo genau man sich auf seinem eigenen Bogen gerade befindet, weiß man nicht, außer man ist schon alt. Dann weiß man, dass der Bogen sich schon lang geneigt hat und auf sein Ende zuläuft.
Bei Ihnen (womit die Patientin angesprochen wird) denke ich (je nachdem wie alt sie ist), dass Sie schon ein kleines (oder ein ganzes) Stück über das Hochplateau Ihres Lebens hinweg sind.
Man kann also sagen: Ab jetzt geht es nur noch bergab
(Pause, damit die Patientin Zeit hat, zu seufzen)
und das ist gut so und sehr angenehm.
Erstens geht man bergabwärts langsamer, das schont die Knie, und zweitens hat man dabei einen weiten Blick auf die Landschaft ringsum, die da vor einem ausgebreitet liegt.
Wenn Sie so auf Ihre Zukunft schauen, merken Sie, dass Sie in viele verschiedene Richtungen gehen und ganz verschiedene Wege wählen können …, wenn Sie wollen.
Die Frage, die sich viele in der Mitte ihres Lebens stellen: »War das jetzt schon alles? Kommt noch was?«, rührt daher, dass sie glauben, es gehe gerade so weiter wie bisher.
Und das ist ein schwerer Denkfehler! … Weiter so wie bisher hat ja gerade dazu geführt, dass es überhaupt nicht weitergeht … Daher kommen die Blockaden und Stillstände und all die Beschwerden, die das Weitergehen verhindern.
Nun ist etwas anderes dran …, nämlich das Gegenteil, das die erste Bogenhälfte ergänzt.
Es ist ja jedem Bergsteiger klar: Der Aufstieg erfordert eine besondere Gangart: zielorientiert, planvoll, trittsicher, aufmerksam, um nicht abzustürzen … Hindernisse überwinden oder umgehen …, nach oben orientiert …, sich anstrengen, durchhalten, etwas erschaffen und Verpflichtungen einhalten.
Dann, in der Lebensmitte, kommt man auf dem Hochplateau des eigenen Lebensbogens an …, und hier hat man zum ersten Mal richtig freie Sicht in alle Richtungen.
Nun kann man, und sollte vielleicht auch, zum ersten Mal zurückschauen: … auf die Anfänge …, woher man gekommen ist …, welchen Weg man zurückgelegt hat …, und sollte sich selbst auf die Schulter klopfen: Ich bin noch am Leben und manches habe ich sogar gut gemacht!
Die Erträge können nun besichtigt werden.
Da braucht man vermutlich auch einigen Humor und Fehlerfreundlichkeit und Nachsicht mit sich selbst und ein paar anderen Leuten.
Diese Rückwendung in die Vergangenheit kann man sich leisten, denn von nun an wendet sich der Mensch herum und geht mutig über die Horizontalkurve in Richtung seiner Zukunft …, wobei ihm sehr bald der Blick zurück nicht mehr gelingt. Die Vergangenheit verschwindet auf der Rückseite des Berges …, aber sie gehört zu einem vollständigen Lebensbogen dazu und wird geehrt und geachtet und so ganz nebenbei auch mitgenommen.
Nun aber wieder zum freien Blick den Berg hinab, wo die weite Landschaft vor einem liegt mit all ihren Wegen und Pfaden und Wassern, die genau wie der Wanderer abwärts fließen.
An ihnen kann sich der Mensch ein Beispiel nehmen: Sie mäandern hierhin und dahin, bleiben eine Weile stehen, füllen einen Teich oder See und fließen weiter hinunter in den Fluss und später in das Meer.
Dort ist die Wanderung zu ihrem Ende gekommen … und nun verstehen Sie, warum ich Ihnen empfehle, langsam zu gehen und immer mal zu verweilen.
Kurz und gut: In der jetzt beginnenden Zukunft ist was anderes dran als bisher. Es geht darum, zu sich zu kommen und das eigene Sein zu spüren, zufrieden zu werden und am Ende auf ein vollständiges Leben zu schauen.
Exduktion
Nach dieser langen Geschichte, die auch noch langsam erzählt werden muss, können sich der Therapeut und seine Patientin den unerfüllten Träumen, Wünschen und Lebenslandschaften zuwenden. Dabei ist es wichtig, in imaginären Räumen zu bleiben und die Patientin nicht in die konkrete Realität entwischen zu lassen – außer sie sagt: »Also gut, ich werde mal sehen, ob ich mir nicht doch das Häuschen auf Borkum kaufe, um das ich schon so lang herumgeschlichen bin.«
2In leicht modifizierter Form zuerst erschienen in: Seemann 2018.