Читать книгу Endstation Engadin - Gian Maria Calonder - Страница 5
IV
ОглавлениеCapaul lehnte sich an den Kotflügel seines Wagens und sonnte sich, bis eine Angestellte des CVJM-Heims kam, Frau Rudolf, und ihn ins Büro bat. Dort erhielt er kurz und bündig Auskunft, dass er auch hier auf kein Bett hoffen konnte.
»Haus Ot ist an eine Schule vermietet, Haus Kesch an eine private Gruppe, die belegt auch die beiden Ferienwohnungen und das sogenannte Spatzennest. Der bevorstehende Tunneldurchstich ist ein Publikumsmagnet. Wir konnten nicht einmal alle Gruppenteilnehmer unterbringen, ein paar mussten wir an den Zeltplatz Madulain verweisen, dort hausen sie in ausgebauten Weinfässern. Wenn Sie möchten, rufe ich auch für Sie dort an.«
»Sehr gern«, sagte Capaul, doch dort war ebenfalls alles belegt.
Er trat wieder hinaus. Nur ein paar Berggipfel hatten noch Sonne, es windete und war empfindlich kalt. Capaul erwog, zurückzufahren und Bernhild zu beknien, ihm doch noch eine Woche zu schenken, doch in diesem Moment kehrten die RhB-Freunde heim. Derjenige, der am Morgen neben dem Kutscher gesessen hatte – sie nannten ihn »Götti« –, winkte ihm schon von Weitem.
Nachdem er Capaul mit markigem Handschlag begrüßt und seinen grün metallisierten Chrysler Imperial bewundert hatte, klatschte er in die Hände und rief: »Kleine Sonderdarbietung, wir gehen fremd. Freund Massimo wird uns etwas über seinen sehenswerten Oldtimer erzählen.«
Das brachte Capaul in Verlegenheit. »Ich habe von Autos keine Ahnung. Es ist ein Automatik, Baujahr 1982, viel mehr weiß ich nicht. Ich habe ihn von meinem Vater geerbt, er hat ihn nie gefahren. Und dummerweise sind Alljahresreifen aufgezogen, ich kam beim ersten Schnee hier oben schön ins Schlittern.«
Damit erntete er Lacher, und ganz selbstverständlich nahmen sie ihn mit in den großen Saal im Haupthaus. Die Männer rochen nach Rauch und Würstchen, sie hatten auf dem Zeltplatz bei den Romands gegrillt und sich die Bäuche so vollgeschlagen, dass sie mit Handaufheben beschlossen, das Abendessen zu streichen. Capaul war gezwungen, sich von Chips und Salzstangen zu ernähren.
Trotzdem mochte er sich nicht verabschieden, er fand die Runde je länger, je liebenswerter.
»Was uns alle eint«, erklärte der Götti, »ist die Liebe zur RhB oder generell zur Eisenbahn. Wir alle sind hier, um wohl das historische Ereignis des Jahrhunderts mitzuerleben, den zweiten Albuladurchstich. Abgesehen davon sind wir ein bunter Haufen von Eisenbahnfotografen, sogenannten Trainspottern, Modellbahnfotografen – was bereits etwas völlig anderes ist –, Modelleisenbähnlern und pensioniertem Zugpersonal, in erster Linie Lokführern. Die Fotografen fachsimpeln über Brennweiten, wir Modellbähnler haben es mehr mit Schienenweiten, die echten Bähnler wieder sind verliebt in technische Daten zu den Zugkompositionen. Natürlich gibt es auch Überschneidungen, eben die Begeisterung für die Ingenieursleistung am Albula, wie da Megatonnen aus dem Berg gesprengt werden. Und auch eine Fahrt mit der Nostalgiekomposition lässt keinen hier kalt, im Salonwagen im Pullmanstil mit Nussbaumtäfelung, Messinglampen und Plüschfauteuils, vornweg die sogenannte ›Tante‹, wie die erste D 3/4 von 1889 genannt wird. Böse Zungen nennen uns übrigens Ferrofile oder auch Eisenbahnsexuelle. Dabei ist unser Begehren ganz keusch.«
Er grinste und stellte ihm die Männer am Tisch vor, es waren dieselben wie in der Kutsche.
Einer hatte schon mehrmals gedrängt: »Jetzt sind aber wir mit Referieren dran, Götti.«
»Das ist der Hermi«, erklärte der Götti seelenruhig, »ein Modelleisenbähnler, spezialisiert auf die selten gewordene Spurbreite 0.«
»Du wirst sehen, die kommt schon wieder«, sagte Hermi. »Und nenn mich gefälligst Hermann.«
Der Götti lachte nur und fuhr fort: »Jimmy zu deiner Linken ist Modellbahnfotograf und unser schwarzes Schaf. In erster Linie ist er nämlich Ferrari-Fan.«
Grinsend zeigte Jimmy seine in Rosso Corsa gehaltene Handyhülle. »Schnell ist schnell, und stark ist stark.«
»Dann haben wir da noch Richard, pensionierter Lokführer.«
»Fast vierzig Jahre lang, nenn mich Richi.« Er stand höflich auf und gab Capaul die Hand.
Blieb noch ein bleicher, hohläugiger Bursche mit Hawaiihemd. Der Götti klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Das ist Jacek aus Polen. Er ist unser Tor zur großen, weiten Welt. Jacek versteht sehr gut Deutsch und spricht es angeblich auch, nur können wir ihn nicht verstehen. Deshalb kommunizieren wir via Facebook.«
»Wie geht das denn?«, wunderte sich Capaul.
»Wirst du noch sehen«, versicherte der Götti und erhob sich. »Ich werfe noch eben den Beamer an, und los geht’s.«
»Bestimmt ruft er wieder Margot an, seine Frau«, zog Hermi über ihn her, »sie telefonieren mindestens einmal die Stunde. Dabei hat er sie dabei, sie zeigt sich nur nicht. Er schläft ja auch nicht hier, sie wohnen ganz mondän im Bever Lodge. Angeblich ist sie dort in einer Frauenclique und macht Nordic Walking.«
»Bitte alle herhören!«, rief der Götti aus der Mitte des Saals und ließ per Handy das Glockensignal einer Schranke ertönen. »Aussi nos amis philosophes, merci.«
»Offenbar hat er sie nicht erreicht«, witzelte Hermi.
»Warum ›philosophes‹?«, fragte Capaul flüsternd.
Jacek schien Bescheid zu wissen, aber Capaul verstand nur ›Fass‹, und das half ihm nicht weiter.
Der Götti verlas die Referatsliste für den ersten Block, dann ging es los. Die projizierten Bilder waren nicht schwer zu begreifen. Ein Zug reihte sich an den anderen, manche rot, andere nicht, einmal echt, einmal als Modell, begleitet von Geraune, manchmal Applaus. Dazu meist knappe, doch offenbar sehr aufschlussreiche Kommentare, denn sie wurden ebenfalls allesamt von Geraune, manchmal Applaus begleitet.
»RhB Ge 2/2 Nr. 162 ›Mini Krokodil‹ mit C 114 ›Bucunada‹ in Poschiavo.«
»Zug 1044 von Malans Richtung Landquart. Aufnahmen mit der Nikon D750, ASA 300 bis 1000, 1/50 bis 1/250 Sek. Blende 16.«
Nur Richi uferte in seinem Vortrag aus – obwohl der Götti mehrmals mahnte: »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.« Er hatte daheim ausgiebig in seinen Alben gekramt und kämpfte mit den Tränen, als er bemerkte, dass er nur einen Bruchteil der geliebten Schätze würde präsentieren können. Dann übermannten ihn die Gefühle völlig, er musste unterbrechen.
»Zugabe, Zugabe!«, rief der Saal.
Und endlich versprach der Götti: »Wir räumen dir morgen noch ein Zeitfenster ein.«
Danach gelang es Richi, das Schluchzen zu unterdrücken und auch das letzte Bild zu kommentieren: »Der in den Sechzigerjahren mit einem Stahlkasten versehene Be 4/6 1607 am dritten Juni 1974 in Luino. Wegen ihres etwas klobigen Aussehens wurden sie liebevoll ›Geranienkistchen‹ genannt und hatten die seltene Achsfolge A1A A1A. Bis 1994 verschwanden die letzten Fahrzeuge dieses von 1923 bis 1927 gebauten Typs.«
Das tat auch er. »Etwas frische Luft schnappen«, murmelte er, als er an den Tischgenossen vorbeiging.
Capaul ging ihm nach. Dabei sah er den Hotzenplotz bei der Tür stehen, er musste sich nachträglich hineingeschlichen haben.
Richi stand am Ende des Vorplatzes an einen Altglascontainer gelehnt und trocknete sich mit einem karierten Stofftaschentuch die Tränen.
»Wie kindisch, so zu heulen«, sagte er mit kläglichem Lachen, als er Capaul kommen sah, und schnäuzte sich ausgiebig. »Aber für uns Alte ist eben die Erinnerung alles, was wir haben. Auf diese Be 4/6 waren wir ja so stolz, und auf uns, denn man musste schon ein ganzer Kerl sein, um sie zu meistern. Beschleunigung auf der Rampe von null auf fünfzig in gerade mal zweieinhalb Minuten, stell dir vor!« Er seufzte, dann suchte er eine trockene Stelle im Taschentuch und schnäuzte sich nochmals.
Capaul sah hoch in den Nachthimmel, der so tiefschwarz und klar war, dass er die Milchstraße im ersten Augenblick für ein Nebelband hielt. »Was gibt es da noch zu sagen. Aber weißt du, wir Menschen sind doch sehr klein im Vergleich mit alldem da draußen.«
»Wo?«
»Da oben.«
Richi folgte seinem Blick. Kurz waren beide still, dann nickte er. »Wohl wahr. Du verstehst es zu trösten, Massimo. Ich glaube, wir können wieder rein.«
Im Saal begann gerade die Pause, die Ersten kamen heraus, um zu rauchen. Darunter war auch Hermi.
»Du hast noch gar nichts von dir erzählt«, sagte er zu Capaul. »Was ist eigentlich dein Steckenpferd?« Der Götti gesellte sich zu ihnen, und Richi ging allein weiter.
»Mein Steckenpferd?« Capaul dachte nach. »Ich fange gerade an, mich für Märchen und Sagen zu interessieren.«
Hermi tat das offensichtlich nicht. »Aha«, sagte er bloß. »Und was tust du beruflich?«
»Ich bin Polizist.«
»Ei, ei, ei«, rief Hermi aus, »im Ernst?«
Und der Götti neckte: »Einer von der Trachtengruppe, sieh mal an. Wie viele böse Buben hast du bisher eingelocht?«
»Erst einen, ich bin aber ganz neu dabei. Davor war ich ein paar Jahre Pfleger in einem Sterbehospiz.«
»Echt? Das wird ja immer schlimmer«, feixte Hermi.
Der Götti nickte. »Das stelle ich mir auch deprimierend vor.«
Capaul schüttelte den Kopf. »Kranke Menschen können deprimierend sein, aber sterbende sind sehr schön. Wenn sie sich erst damit abgefunden haben, dass sie gehen, fangen sie an zu leuchten. Fast so, als wären sie schon drüben.«
»Drüben«, wiederholte der Götti, »und wo ist das?«
Capaul lachte. »Ja, das ist die große Frage. Aber manche Menschen wurden so schön und ruhig, dass ich richtig Sehnsucht danach bekam.«
»Gesülze«, warf ein Zigarillo rauchender Schnauzbart ein, den Capaul bisher nicht bemerkt hatte. »Der im Tunnel hat wohl kaum geleuchtet.«
»Richtig, du als Bulle weißt da bestimmt mehr«, witterte Hermi.
Capaul hob die Schultern. »Nur, dass es ein Mineur von der Baustelle war.«
»Aber stimmt es, dass er gehäutet wurde?«
Capaul zögerte. »Es war jedenfalls ein Unfall.«
Der Schnauzbart trat seinen Zigarillo aus. »Scheiße mit Reis, auf die Art will ich echt nicht abkratzen.«
Das war das Stichwort für den Götti. »Genießen wir also das Leben, solange wir können«, sagte er und klatschte in die Hände. »Leute, es geht weiter. Allez, les philosophes.«
Während sie gemeinsam zurück ins Haus gingen, fragte Capaul: »Habt ihr eine Idee, wo ich ab morgen unterkommen könnte? Meine Vermieterin hat mit dem Zimmer andere Pläne, und ich kann partout nichts Zahlbares finden. Reist nicht bei euch einer früher ab?«
»Oder tritt ab«, scherzte der Götti, »wie der Mineur? Nein, nichts in Sicht. Wobei mir einfällt, der Moor hat in Bever eine ganze Pension gemietet, wohlgemerkt die Traumpension eines jeden Eisenbahnfreunds, direkt in der Streckenverzweigung Engadin–Albula. Nur mag er keine Gesellschaft.«
»Probieren kann ich es ja. Wo finde ich diese Pension?«
»Brauchst du gar nicht, er steht da drüben bei der Tür. Peter Moor. Er besteht darauf, dass man ihn siezt.«
Er zeigte auf den Hotzenplotz.
»Ha«, entfuhr es Capaul, denn er war in der Mittelschule ein halbes Jahr lang mit Schillers Räubern gequält worden. »Nomen est omen.«
Doch der Götti verkündete bereits die Startliste des zweiten Blocks. Capaul setzte sich so, dass er Peter Moor im Auge behielt.
Die zweite Vortragsrunde geriet fröhlich. Ein dadaistisch anmutendes Gedicht auf das Modellbahnzubehör der Firma Sommerfeldt wurde gegeben, und Jacek hielt einen Vortrag, der zum munteren Ratespiel ausartete. Der Lärmpegel stieg rasant, Capaul hielt sich die Ohren zu, und als er zu Moor hinsah, war der verschwunden. Hastig erhob er sich und eilte nach draußen, der Götti gab ihm noch aufmunternd das Zeichen: Daumen hoch.
Erst glaubte Capaul, er habe ihn verloren, doch er hatte nur in die falsche Richtung geschaut. Der Hotzenplotz ging nicht dem Inn zu, was naheliegend gewesen wäre, wenn man nach Bever wollte, sondern zügigen Schritts quer über den Parkplatz und den angrenzenden Hof bergwärts. »Herr Moor«, rief er und rannte ihm nach. »Herr Moor, warten Sie!«
Der Hotzenplotz missachtete die Rufe und schritt noch energischer aus. Capaul erreichte ihn dennoch, der Hotzenplotz blieb kurz stehen. »Was fällt Ihnen ein, meinen Namen in die Welt hinauszuschreien?«
Er ging weiter, einen Kanal entlang, Capaul folgte ihm.
»Verzeihen Sie, es ist dringend.«
»Für mich nicht.«
Sie überquerten den Kanal und gingen auf der anderen Seite zurück. Sie folgten einem Sträßchen mit verstreuten Einfamilienhäusern.
»Wohin gehen wir?«
»Ich weiß nicht, wohin Sie gehen. Ich gehe schlafen.«
»In Ihre Pension? Deshalb wollte ich Sie sprechen. Ich bin ab morgen ohne Bett.«
Der Hotzenplotz bog abermals ab, sie nahmen eine Art Feldweg, der sich aber nach und nach verlor. Zuletzt gingen sie querfeldein. Der Mond war aufgegangen, dennoch fiel es Capaul schwer, sich zu orientieren. Erst als der Hotzenplotz eine Kamera mit riesigem Teleobjektiv aus der Tasche zog und die Gebäude auf der anderen Seite des Kanals fotografierte, erkannte er das CVJM-Heim wieder.
»Es ist zappenduster. Wozu tun Sie das? Warum von hier aus? Vorhin waren Sie viel näher dran.«
»Mich reizt die Herausforderung«, sagte Herr Moor, nachdem er zwei-, dreimal abgedrückt hatte, steckte die Kamera ein und setzte seinen Weg fort.
Sie erreichten den Inn und gingen in Richtung Bever. Capaul sah, dass ein Pfad vom CVJM-Heim direkt in den Weg mündete, sie hatten eine unnötige Schlaufe von wohl zwei Kilometern gemacht.
Um das unangenehme Schweigen zu brechen, sagte Capaul: »Jedenfalls brauchen Sie keine Angst vor mir zu haben, ich bin Polizist.«
»Ich habe vor niemandem Angst. Und falls Sie mich warnen wollten: Ich tue nichts Unrechtes.«
Capaul beschloss, das Thema zu wechseln. »Wie viele Zimmer hat denn die Pension?«
»Gar keine. Es gibt keine Pension. Der Pächter ist weitergezogen, die Inhaber finden keinen Nachfolger.«
»Na schön, dann eben das Gebäude. Wie viele Zimmer hat es?«
»Ich habe es gemietet, weil ich meine Ruhe haben will.«
»Hand aufs Herz, ich bin der ruhigste Mitmensch, den Sie sich wünschen können.«
»Ja, ganz offensichtlich.«
»Ich meine, ich kann ruhig sein. Mehr als ruhig, verschwiegen wie ein Grab.«
Der Hotzenplotz verschärfte abermals das Tempo.
Capaul kam ins Keuchen, aber er wollte das Gespräch nicht abreißen lassen.
»Zu welcher Gruppe Tschutschu-Bähnler gehören Sie denn?«, erkundigte er sich, dann lachte er, daraus wurde ein Husten. »Dumme Frage, bei der Riesenkamera. Ich selbst habe heute Abend ja nur Bahnhof verstanden.« Das Wortspiel war ihm passiert, und er freute sich darüber. Der Hotzenplotz verzog keine Miene.
Sie gingen nun parallel zur Kantonsstraße, dazwischen lag der Inn. Immer wieder wurden sie von entgegenkommenden Autos für einige Sekunden geblendet.
»Finden Sie den Ausdruck ›Tschutschu-Bähnler‹ unhöflich?«, redete er weiter vor sich hin. »Robin hat Sie heute so genannt. Robin und Laura, das sind zwei der Schüler im CVJM. Sehen Sie.«
Er zückte den Fidget Spinner und gab ihm Schwung.
»Den habe ich von Laura. Vielleicht wird das ja mein Hobby. Jedenfalls wäre das ein sehr leises Hobby, auch wenn der Spinner etwas schnarrt, er ist nicht gut gelagert. Wenn ich damit in meinem Zimmer spiele, können Sie sich leicht einbilden, Sie wären allein.«
Er hatte nicht mehr mit einer Antwort gerechnet und zuckte zusammen, als der Hotzenplotz sich ihm zuwandte und fragte: »Sie kennen die Kinder im CVJM?«
»Nicht alle. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
»Gehen Sie dort aus und ein? Und wissen die, wer Sie sind?«
»Ja, tun sie. Und wenn ich mit dem Spinner auf ein höheres Level kommen will – man sagt doch ›Level‹? –, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Außer Robin kenne ich keinen, der mir die Tricks und Kniffe zeigen könnte.«
Sie hatten sich wieder von der Straße entfernt und erreichten eine Wegkreuzung.
»Ich biege hier ab«, erklärte der Hotzenplotz. »Wohin müssen Sie?«
»Für heute habe ich noch ein Bett in Samedan.«
»Dann gehen Sie weiter geradeaus. Da vorn ist schon der Flugplatz von Samedan. Pensiun Trais Piz, ich erwarte Sie morgen früh um neun.«
Capaul wusste vor Überraschung nichts zu sagen, und der Hotzenplotz hatte auch nichts erwartet, sondern marschierte bereits auf die Lichter von Bever zu. Fast sah es aus, als renne er.
Capaul zögerte, ob er zurückgehen und das Auto in La Punt holen sollte, doch Samedan schien ihm näher. Der Weg machte allerdings einen Schlenker und führte nah an den Berghang, den Wald entlang und an einem kleinen See vorbei. Das alles war bei Tageslicht sicherlich sehr malerisch, doch jetzt wäre ihm eine befahrene Straße lieber gewesen.
Capaul sagte sich, dass Angst in dieser Lage ein durchaus gesunder Reflex war. Und mit einem Mal erinnerte er Silkes Worte, die Erinnerung war ganz klar, wie eingebrannt.
Zum Leben gibt es zwei Wege. Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg.
Gleich fühlte er sich in der Nacht, im Schatten der Bäume, die das Mondlicht auf ihn warf, in der Kälte und Klarheit der Bergluft so sehr zu Hause, dass ihn nichts mehr erschrecken konnte.
Selbst als er an die Leiche dachte, sich ausmalte, wie er an Fluris Stelle den blutigen Klumpen Mensch gefunden hätte, fühlte er mehr Zärtlichkeit als Schauder. Erst hätte er ihn gewaschen – wo eine Wasserscheide war, da war auch Wasser. Er hätte die gebrochenen Glieder gestreckt und den Körper zugedeckt. Er hätte an seiner Seite gewacht und ihn vor Aasfressern beschützt, Ratten und Füchsen. Dann hätte er Silke geholt, damit sie für den Toten las und sang, denn in diesem Augenblick konnte er sich keine schönere Art denken, von dieser Erde verabschiedet zu werden.
Ganz versunken spazierte er bis Samedan. Bernhild war bei Peter oder schon zu Bett gegangen, jedenfalls war im Wassermann alles dunkel.
Sie hatte ihm bereits das Frühstück gedeckt – Brot in der Plastiktüte, je einen kleinen Napf Butter und Marmelade sowie Kaffee in der Thermoskanne – und die Rechnung auf den Teller gelegt.
Daneben lag das leere Zuckersäckchen einer Konditorei:
Das Verlangen nach Gegenliebe ist nicht das Verlangen der Liebe, sondern der Eitelkeit.
Friedrich Nietzsche
Und darunter, mit einem halb ausgetrockneten Kugelschreiber gekritzelt: »Capaul, leb wohl.«