Читать книгу Engadiner Abgründe - Gian Maria Calonder - Страница 5
IV
ОглавлениеEr war auch deshalb froh, dass Bernhild fuhr, weil auf dem Bergsträßchen – oft kaum mehr als ein Pfad – gleich mehrmals ein Gemeindefahrzeug die Durchfahrt versperrte, Wegmacher schlugen mit Signalfarbe gestrichene Pfosten ein, um die Fahrbahn für den Winter zu markieren. Dabei brannte die Sonne fast sommerlich, über den Wiesen und zwischen den Lärchen flimmerte der Staub, und das Bergpanorama schien mit jeder Kurve an Tiefe und Kraft zu gewinnen. Im Vorbeifahren nannte ihm Bernhild die Flurnamen, und sie sprach sie so rund und geschliffen aus, als lutsche sie ein Bonbon: Crap Sassella, Bugliets, Muntarütsch, Surpunt Dadeins. Obwohl der Citroën Jumper stank und polterte, fühlte Capaul je länger, je mehr den Hauch von Ewigkeit, von dem einer seiner Ausbilder ihm vorgeschwärmt hatte, nachdem bekannt geworden war, dass Capaul die Stelle in Samedan bekam.
Als er Bernhild davon erzählte, setzte sie noch einen drauf: »Sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit«, zitierte sie erst Friedrich Nietzsche, danach gab sie gleich eine ganze Reihe Zitate zum Besten, herausgegeben vom Tourismusverein Engadin in einer Broschüre eigens für die Wirte und Fremdenführer des Tals. Das ihres Erachtens schönste, eines von Proust, sagte sie gleich mehrmals auf: »Wir haben einander geliebt in einem verlorenen Örtchen des Engadins, das einen zweifach süßen Namen trägt. Ringsum gibt es drei seltsam grüne Seen, die zwischen tiefen Tannenwäldern liegen.«
Danach herrschte im Citroën Jumper einen Augenblick lang eine Art aufgeladene Stille. Capaul brach sie, indem er fragte: »Der St. Moritzersee, der Silsersee, und welcher ist der dritte?«
»Eigentlich sind es ja vier«, antwortete Bernhild etwas widerwillig, »der Champfèrersee und der Silvaplanersee.« Gleich darauf erreichten sie die Padellahütte.
Die Kehrausparty war in vollem Gang, die Veranda gestoßen voll mit Menschen. Viele saßen in der Sonne und tranken, doch in der Hütte wurde auch getanzt, zu Ziehharmonika und Bass, und ein Junge, dessen verklärter Blick etwas Engelhaftes hatte, schlug mit Löffeln den Rhythmus. Während Capaul und Bernhild sich durch die Menge schoben, stimmte die Musik Alles fährt Ski an, wohl zu Ehren des Pinggera Rudi, denn er schwang mit einer älteren Frau das Tanzbein, der Mutter des Hüttenwarts, wie Bernhild ihm zurief.
Bernhild schwang mit ihm auch gleich die Arme, doch auf einen richtigen Tanz ließ Capaul sich nicht ein. »Ich hätte im Wirtshaus noch auf die Toilette gehen sollen«, sagte er und ließ sie stehen.
Vor allem wusch er ausgiebig das Gesicht, denn mit zunehmender Höhe waren die Kopfschmerzen wieder stärker geworden, und er hoffte, die Kälte würde sie vertreiben. Doch das eisige Wasser machte, dass er sich noch mehr verspannte. Während er den Nacken massierte und aufs Geratewohl einige Stellen drückte, die er für Akupressurzonen hielt, kam Rudi in den Waschraum.
»Die meinen es ja jeweils nur gut«, stöhnte er, »doch ich kann dieses Alles fährt Ski nicht mehr hören. Und Sie, wer sind Sie heute, Linard Meier oder Capaul?«
Capaul überging die Frage. »Wie geht es Ihrem Onkel?«, erkundigte er sich.
»Blendend, er amüsiert sich draußen. Ich glaube, er spielt Karten. Er war mal Preisjasser, eine richtige Wettkampfsau. Von irgendwem muss ich das Gen ja haben. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie zu ihm.«
»Gern«, sagte Capaul. Doch dazu mussten sie an der Theke vorbei, und im Gedränge verlor er Rudi. Er sah eine Weile zu, wie Bernhild mit Peter, einem ihrer Stammgäste, tanzte, dann quetschte er sich durch die Masse, um an die frische Luft zu kommen. Er war fast draußen, als ihn jemand am Arm festhielt, es war Luzia.
»Du hast ja schnell herausgefunden, wo man sich trifft«, schrie sie ihm ins Ohr. »Wie wär’s mit einem Tänzchen?«
»Ich kann nicht tanzen.«
»Dann ein Gläschen.« Den glühenden Wangen nach schien sie schon einige intus zu haben, es wäre auch nicht nötig gewesen, dass sie so schrie.
»Ich bin im Dienst«, behauptete er.
Doch sie lachte nur. »Diesen Dienst kenne ich. Linard hat mir verraten, dass alles nur ein Spaß war.«
»Was heißt Spaß? Außer mir war niemand da, um den Fall aufzunehmen.«
Luzia zuckte mit den Schultern. »Klärt das besser untereinander.«
Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch nun hielt er sie zurück. »Hast du ihn gesehen?«, fragte er.
»Linard? Der hat Dienst.«
»Nein, den alten Pinggera.«
»Ja, der war hier, aber das ist eine Weile her.«
»Und Annamaria?«
»Welche Annamaria?«
»Ich weiß nicht, ich glaube, sie ist Rudis Freundin.«
Doch die schien sie nicht zu kennen, sie schüttelte den Kopf und mischte sich unter die Tanzenden.
Als Capaul die Veranda erreichte, stand Bernhild mit Peter am Zaun, er rauchte, sie leistete ihm Gesellschaft.
»Stand dir jemand auf der Leitung?«, fragte sie gereizt. »Ich dachte, wir sind zusammen hier.«
»Ich habe den alten Pinggera gesucht. Kennst du eine Annamaria? Er wollte gestern, dass sie mitkommt mit Rudi und ihm.«
Bernhild zeigte auf eine Mittvierzigerin, das Haar mit einem roten Glarner Tüchlein zurückgebunden, die bei einer Jassrunde älterer Männer saß. Sie warf Kommentare ein, die Männer lachten, und Annamaria wirkte darüber jedes Mal von Neuem überrascht. In ihrer ganzen Erscheinung hatte sie etwas Rührendes, irgendwie Bedürftiges. Wie sie und der knallige Rudi zusammenpassen sollten, konnte Capaul nicht begreifen.
Während er sie beobachtete, sagte jener Peter: »Es stimmt, sie sind zu dritt gekommen, Rudi, sein Onkel und sie.«
Capaul stellte sich zur Jassrunde, wartete, bis Annamaria ihn ansah, und fragte: »Entschuldigung. Rainer Pinggera, wo finde ich den?«
Sie stand gleich höflich auf. »Drinnen, nehme ich an. Er wollte der Musik zuhören.«
»Sein Neffe meint aber, er wäre hier draußen.«
Annamaria überblickte kurz die Veranda, dann berührte sie scheu Capauls Schulter und versprach: »Ich werde ihn suchen.«
Die Männer setzten ihr Spiel fort. Der Kartengeber sagte zu den anderen: »Ich dachte, ich hätte gesehen, dass der Rudi mit ihm weg ist, am Mittag schon.«
»Ich dachte es erst auch, das neben Rudi war aber die Annamaria, die ist ja heute auch ein Rotkäppchen. Sie sind zusammen in die Pilze.«
Die Männer lachten, und weil inzwischen auch ausgeteilt war, konzentrierten sie sich wieder auf ihr Blatt.
Bernhild war Capaul nachgekommen. »Willst du jetzt etwa jassen? Meinetwegen jassen wir auch.«
»Ich kenne die Regeln gar nicht«, gestand Capaul. »Ich warte auf Annamaria, sie will Rainer Pinggera für mich finden.«
»Was willst du eigentlich von ihm?«
»Nur fragen, wie es ihm geht. Wie er sich vom Brand gestern erholt hat. Ob er noch immer keinen Rapport will.«
Annamaria kam ohne Rainer Pinggera, dafür mit Rudi. Er schimpfte: »Hat der Idiot sich heimlich davongemacht?«
Annamaria antwortete: »Vielleicht hat ihn jemand heimgefahren«, und Rudi rief gleich in Zuoz an, doch nahm keiner ab.
Bernhild war dafür, die Festgemeinde zu befragen, doch Rudi meinte: »Dann ist die Party gelaufen. Nein, ich fahre zu ihm nach Hause und sehe nach. Annamaria und Capaul, ihr sucht inzwischen die Gegend ab. Weit kann er nicht sein, höchstens auf einen Spaziergang, vielleicht hat er sich den Fuß verknackst.«
»Peter und ich helfen natürlich suchen«, sagte Bernhild. Sie teilten sich gleich auf.
Capaul bekam die leichteste Strecke zugeteilt, den Panoramaweg Richtung Alp Muntatsch mit Blick über den Morteratschgletscher, die Diavolezza und auf den über allem thronenden Piz Palü, der laut Annamaria aussehen sollte wie eine Teufelsklaue, die krampfhaft das Bergmassiv niederzieht, damit es nicht ganz in den Himmel wächst und den Menschen erlöst. »Sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit«, bemerkte Capaul und marschierte los.
Zu Fuß durch die wilde Landschaft zu ziehen hatte eine nochmals andere Kraft. In aller Heftigkeit fühlte er im Wald den steten Wechsel von Sonnenhitze und Schattenkälte, wohlig war das nicht, dafür umso eindrücklicher. Dazu der schwere Duft der Disteln, von Nadelholz und Heu. Der Waldboden gab unter seinen Füßen nach. Als er mit dem Schuh den Nadelteppich zur Seite schob, wimmelte es von Ameisen, roten, schwarzen, einige davon riesig.
Die Vögel, die er hörte, zwitscherten nicht, sie schrien. Auch Grillen glaubte er zu hören, wobei das ebenso die Heuwender und Jauchewagen sein mochten, die er klein und emsig wie Käfer auf dem Talboden ihre Spur ziehen sah. Ein Murmeltier beobachtete ihn, gleich darauf rannte ein Eichhörnchen vor ihm her, das doch ziemlich anders aussah als Bernhilds Frisur. Und die Aussicht über das Tal, durch das der Inn sich schlängelte wie eine Blindschleiche, auf kleine smaragdgrüne Bergseen und auf Gipfel, so scharfkantig wie gebleckte Wolfszähne, war von einer Wucht, die Capaul mit einem sehr tiefen Gefühl erfüllte, für das er allerdings keinen Namen hatte. Nur vom alten Pinggera fehlte jede Spur, er rief mehrmals vergeblich, und keiner der Wanderer, die er ansprach, hatte ihn gesehen.
Dann führte der Weg um eine Biegung, das musste das Val Bever sein, hier reichte die Sonne nicht hin, und sofort schlug ihm auch eisiger Wind entgegen. Sein Schädel pochte plötzlich wieder, zudem roch es nach Winter. Capaul hatte Angst, sich zu verirren und die Nacht am Berg verbringen zu müssen, und kehrte um.
Die Angst verschwand gleich wieder, als er zurück in der Sonne war, ebenso die Eile. Kurz bevor er bei der Padellahütte war, setzte er sich für ein paar Minuten auf einen Wegstein, schloss die Augen, ließ die Sonne aufs Gesicht scheinen und sah, als er sie wieder öffnete, wie ein Kleinflugzeug, das auf dem Flugplatz hatte landen wollen und wohl von einer Bö erfasst wurde, eine abenteuerliche Schlaufe flog, bevor es in zweitem Anlauf ruppig aufsetzte.
Summend kehrte er zur Hütte zurück, dort herrschte unerwartete Hektik. Capaul hatte die hohen Wolken gar nicht bemerkt, die sich inzwischen über dem Piz Padella türmten. Angeblich konnte es jederzeit zu schneien beginnen, dabei war der Schnee erst auf die Nacht hin erwartet worden. Viele Gäste waren schon talwärts gefahren, der Hüttenwart und seine Leute machten eilig klar Schiff. Bernhild hatte auf Capaul gewartet, auch sie drängte zum Aufbruch.
Er konnte kaum glauben, dass er drei Stunden fortgeblieben war. Annamaria hatte den Alten längst gefunden und die anderen, da sie untereinander die Handynummern ausgetauscht hatten, zurückgerufen. Unterhalb der Hütte, abseits vom Weg, lag ein Geröllhang, in dem nicht nur Steinschlaggefahr bestand, er hieß im Volksmund auch »Öv in painch«, Spiegelei, weil die Sonne ihn aufheizte wie ein Ei in der Pfanne. Dort hatte er gesessen oder gelegen, völlig betrunken. Annamaria hatte versucht, ihn hoch zur Hütte zu schaffen, dann wollte sie die Rega rufen. Doch inzwischen hatte Rudi den Hüttenwart mobilisiert, der eine Art Raupenfahrzeug hatte und den Alten hochgeschafft hatte.
Das alles erzählte ihm Bernhild unterwegs zum Lieferwagen, den sie einige hundert Meter tiefer am Wegrand geparkt hatten.
»Haben sie ihn ins Spital gebracht?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, ich glaube, sie wollten ihn heimbringen. Rudi meinte, es sei nicht der erste Suff seines Onkels.«
»Zeig mir die Stelle, wo sie ihn gefunden haben«, bat Capaul, aber Bernhild zeigte ihm den Vogel.
»Wir haben Sommerreifen drauf«, erinnerte sie ihn. »Dazu bremst die Karre kaum noch. Wie willst du im Schnee vom Berg runterkommen?«
»Runter kommt man immer«, stellte Capaul fest, und der Scherz kam für Bernhild so unerwartet, dass sie ihn erst nur mit offenem Mund ansah.
»Schau an, der Partymuffel taut auf! Aber jetzt eingestiegen.«
Und wirklich, sie hatten kaum den Lieferwagen im Hof des Wassermanns geparkt, als die ersten, dicken Flocken fielen.
Schönerweise war gleichzeitig Capauls Kopfweh wie weggeblasen. Das ließ ihn wieder unternehmungslustig werden, und nachdem er festere Kleidung angezogen hatte, machte er sich auf zum Polizeiposten, um die Wegfahrsperre an seinem Auto loszuwerden. Zwar brannte auf dem Revier Licht, doch auf sein Klingeln öffnete niemand.
Also nahm er den Zug nach Zuoz, um sich nach Pinggeras Befinden zu erkundigen. Er freute sich, denn er fuhr in einer jener kleinen roten Kompositionen der Rhätischen Bahn, wie er sie am Albulapass gesehen hatte, mit Waggons wie aus einer anderen Zeit, selbst die Fenster ließen sich noch öffnen. Und für eine Minute, bis jemand schimpfte, hielt er das Gesicht in den Fahrtwind und war glücklich wie ein Schulbub.
Die Bahn zuckelte durch die Abenddämmerung von Bahnhof zu Bahnhof – Bever, La Punt-Chamues-ch, Madulain –, tiefblau breitete sich die verschneite Ebene hinter den Waggonfenstern aus, und nur in den Kegeln der Stationslampen sah er, in wie dicken Flocken inzwischen der Schnee fiel. Während er in Gedanken wieder bei den drei Sätzen für den Bericht war, ahnte er auf der parallel zum Bahngleis verlaufenden Kantonsstraße ein Chaos, vielleicht ein kleinerer Auffahrunfall. Im Stillen grüßte er hinüber zu seinen Kollegen, danach genoss er die gemütliche Zugfahrt noch mehr und fing, als er in Zuoz ausstieg, mit der Zunge ein paar Schneeflocken. Der Schnee schluckte die Geräusche, wie durch Watte hörte er aus mehreren Richtungen Gehupe und war abermals froh, dass er den Zug genommen hatte.
Auch hinter Rainer Pinggeras Fenster brannte Licht, und obwohl Rudis Mercedes in der Gasse stand, öffnete ebenso keiner auf Capauls Klingeln. So machte er einen kleinen Spaziergang durchs Dorf, betrachtete die Auslage in Luzias Lädelchen und wunderte sich darüber, wofür andere Menschen augenscheinlich Verwendung fanden: Duftkissen mit Arvenspänen, Flaschenabtropfhalter und Handtücher mit aufgestickten Sprüchen wie Vergissmeinnicht oder Dû bist mîn, ich bin dîn, we lôve Engadîn.
Als er in die Foura Chanels zurückkehrte, war Rudis Auto fort, und er brauchte nur einmal zu klingeln, gleich kam Annamaria an die Tür. Sie sah verweint aus.
»Ich dachte, Rudi hat etwas vergessen«, erklärte sie ihre Eile.
Capaul sagte: »Ich bin froh, dass sein Onkel nur betrunken ist. Darf ich kurz reinkommen?«
Annamaria zögerte, trat dann aber beiseite und wies ihm den Weg den Flur entlang. »Das Schlafzimmer ist rechts.«
Rainer Pinggera lag in einem antiken Kastenbett, es war noch für viel kleinere Menschen gebaut, dafür unüblich breit, so als hätten in alten Zeiten ganze Familien darin geschlafen. Pinggera lag unter einer Federdecke, die mehr wie ein überdimensioniertes Kissen aussah, nur seine Füße und der Kopf sahen heraus, beides feuerrot. Die Stirn kühlte eine Kompresse, seine Augenlider flatterten, und er winselte fast ununterbrochen.
»Oh, das sieht aber gar nicht gut aus«, stellte Capaul fest. »Müsste er nicht ins Spital?«
»Rudi holt gerade Medikamente«, erklärte Annamaria. »Wir haben mit der Notfallzentrale telefoniert, die Spitäler sind überfüllt mit Leuten, die auf dem Schnee ausgerutscht oder mit dem Auto geschlittert und irgendwo reingekracht sind. Sie haben explizit darum gebeten, dass wir Rainer zu Hause pflegen. Man kann sowieso nicht viel tun, er hat einen Sonnenstich. Einen Suff und einen Sonnenstich.«
Sie tauschte die Kompresse aus, und als der Alte würgte, stellte sie einen emaillierten Nachttopf aufs Bett und wollte ihm hochhelfen. Doch er wehrte sich überraschend heftig, und nachdem sie ihn erschreckt hatte fahren lassen, fiel er willenlos wie eine abgetane Sau ins Kissen zurück und röchelte zwar, doch das Würgen immerhin blieb aus.
»Kann ich helfen?«, fragte Capaul. »Man könnte ihm die Beine mit Alkohol einreiben und mit einem rauen Tuch frottieren.«
Annamaria sah ihn überrascht, vielleicht auch einen Hauch amüsiert an. »Was sind das denn für Methoden?«
»Keine Methoden, nur ein Gefühl, dass ihm das helfen könnte.«
»Haben Sie noch mehr solche Gefühle?«
Statt darauf zu antworten, sagte er: »Was ich nicht verstehe, ist, warum er heimlich trinken musste oder wieso er sonst aus der Hütte abgehauen ist.«
Annamaria suchte nach einer Erklärung: »Er gibt nie unnötig Geld aus. Ich weiß nicht, ob er arm ist, jedenfalls ist er sparsam. Die Flasche Wein hat er bestimmt nicht in der Padellahütte gekauft.«
»Woher wissen Sie, dass es Wein war?«
Sie stutzte. »Ich glaube, ich habe die Flasche gesehen. Außerdem, schauen Sie.« Sie schob die Lippen des Alten auseinander, sein Zahnfleisch hatte die typische Rotweinverfärbung. »Die Zunge sieht genauso aus.«
Capaul spann den Faden von vorhin weiter. »Aber zahlt Rudi nicht für ihn? Und bestimmt hätten viele seinem Onkel eine Runde ausgegeben, nach dem, was ihm gestern passiert ist.«
Annamaria presste den Mund zusammen und dachte nach, dann schüttelte sie aber den Kopf. »Keine Ahnung, vielleicht hatte er mit Rudi Streit und wollte ihn bestrafen, indem er sich volllaufen ließ. Das würde zu ihm passen. Und die beiden liegen sich eigentlich permanent in den Haaren.«
»Weswegen?«
»Ach, wegen allem Möglichen. Manchmal denke ich, es ist nur ein Sport.«
Capaul betrachtete den Alten. »Warum ist eigentlich seine Kopfhaut so rot? Ist das Sonnenbrand? Hatte er nicht die Mütze auf?«
Annamaria versuchte sich zu erinnern. »Ich kann nicht sagen, ob er sie noch aufhatte, als ich ihn gefunden habe. Womöglich hat er sie bei der Rettungsaktion verloren, die lief ziemlich ruppig ab. Aber die Füße sind genauso rot, angeblich ist das typisch für einen Sonnenstich. Dafür ist der Körper ganz käsig und kalt, deshalb die Daunendecke.« Kurz sahen sie beide auf den Alten, als würden sie ein Gemälde betrachten, dann sagte sie: »Jetzt möchte ich aber schon gern hören, was Ihr Gefühl vorhin noch gesagt hat.«
Capaul schüttelte den Kopf. »Nichts Relevantes.«
»Etwas über mich?« In ihrem Blick war ein Funken Koketterie.
Ja, er hatte gedacht, dass sie eine Frau war, die sich leicht ausnutzen ließ. »Sollte er nicht sehr viel trinken?«, lenkte er ab. »Wasser, meine ich, oder Suppe?«
Annamaria erschrak. »Doch, natürlich. Als Sie geklingelt haben, war ich unterwegs in die Küche.«
Capaul verstand das als Aufforderung zu gehen.
»Danke, dass Sie mir aufgemacht haben«, sagte er, und zum Alten: »Alles Gute, Herr Pinggera. Ich bleibe dran.«
Die Lider des Alten zitterten wieder heftig, dann riss er mit einem Ächzen oder mehr Krächzen die Augen auf und warf ihm einen dieser starren, flehenden Blicke zu, wie Capaul sie von Menschen kannte, die der Tod bereits gepackt hält.
Bernhild nutzte den Großeinkauf, um die Ordnung in ihrer Speisekammer auf den Kopf zu stellen, deshalb hatte sie auch noch nichts gekocht.
»Soll ich uns eine Pizza holen?«, fragte Capaul.
»Nicht nötig, Capuns oder Pizochels?«, fragte sie und öffnete den Tiefkühler. »Acht Franken für die Capuns, zehn für Pizochels. Freundschaftspreis.«
Capaul wählte Pizochels.
»Man gönnt sich ja sonst nichts«, sagte sie – ob zu ihm oder zu sich, blieb offen – und schob sich auch eine Portion in den Ofen.
Während Capaul ihr half, die Konservendosen einzuordnen, und die Pizochels im Ofen auftauten, stöhnte sie: »Das war vielleicht eine Aufregung heute. Wobei, für euch von der Polizei ist das ja Alltag. Wie geht es dem Dummkopf?«
»Er sah nicht gut aus. Aber Annamaria kümmert sich um ihn.«
»Über die könnte ich dir auch Geschichten erzählen. Sie war mit dem Stadtpräsidenten von St. Gallen liiert – was sage ich liiert, verheiratet. Würde man auch nicht von ihr denken, oder? Willst du wissen, wie es auseinanderging?«
Capaul antwortete nicht. Er hatte soeben einen Fleck auf sein Hemd gemacht, das erinnerte ihn daran, dass er mit einem Koffer voll Schmutzwäsche angereist war, weil in seiner Wohngruppe in Amriswil alle vor der Abreise noch dringend hatten waschen wollen, und es war nicht seine Art, sich vorzudrängeln. »Gibt es in Samedan einen Waschsalon?«, wollte er wissen.
»Einen Waschsalon? Wie in Amerika? Nein.«
»Oder in St. Moritz?«
»Nein, kann ich mir nicht vorstellen.«
»Dann dürfte ich vielleicht bei dir waschen?«
»Dürftest du, wäre die Maschine nicht kaputt. Ich wasche bei meinem Bruder. Meinetwegen kann ich ab und zu ein Hemd von dir reinschmuggeln, aber mehr nicht. Hans bereut schon längst, dass er so nett war.«
»Aber Handwäsche, das geht?«
»Nein, bei aller Liebe. Ich will nicht dauernd deine Unterhosen in meinem Bad hängen sehen. Und nasse Wäsche im Zimmer geht schon gar nicht. Der Teppich würde leiden.«
Er hatte eine Bemerkung zum Teppich auf der Zunge, doch dann fragte er nur: »Was tue ich jetzt?«
Bernhild zuckte mit den Schultern. »Schlussendlich ist alles eine Frage des Geldes. Für fünfzig Franken pro Nacht kannst du keinen Zimmerservice wie im Kempinski erwarten.«
»Ich habe nun mal nicht mehr. Ich werde mir eine WG suchen. Aber waschen muss ich jetzt.«
»Warum eigentlich so geizig? Die anderen Polizisten leisten sich nette Wohnungen, manche ernähren eine Familie. So schlecht könnt ihr nicht bezahlt sein.«
»Ich stottere ab«, gestand er.
»Viel?«
Capaul zuckte mit den Schultern, gleichzeitig nickte er.
»Dann zahlst du das Zimmer von jetzt an besser im Voraus.«
»Das werde ich tun«, versprach er und wollte sie gerade um einen Rat wegen seines Berichts bitten, als plötzlich Peter im Durchgang zur Küche stand.