Читать книгу Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute - Gideon Botsch - Страница 9
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ОглавлениеRechtsextremismus Rechtsextremismus wird als amtlicher Begriff von staatlichen Behörden (Kommunen, Polizei, Justiz, Verfassungsschutz usw.) verwendet, der zivilen Gesellschaft dient er als Abgrenzungsbegriff. Wissenschaftlich gibt es keine einheitliche Definition. Der Politikwissenschaftler Richard Stöss unterscheidet rechtsextreme Einstellungen von rechtsextremen Verhaltensweisen (Wahlverhalten, Mitgliedschaft, Gewalt/Terror sowie Protest/Provokation). Problematisch ist vielen Forschern die Anbindung an das theoretische Modell des Extremismus, doch lässt sich der Begriff auch unabhängig von diesem Konzept mit Gewinn anwenden. Allerdings macht die sozialwissenschaftliche, systematisch-analytische Konstruktion des Rechtsextremismusbegriffs seine Verwendung für historiographische Untersuchungen schwierig, zumal es sich nicht um einen Quellenbegriff handelt. Folgende Definition gibt der Politologe Hans-Gerd Jaschke: „Unter ‚Rechtsextremismus‘ verstehen wir die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklarationen ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen. Unter ‚Rechtsextremismus‘ verstehen wir insbesondere Zielsetzungen, die den Individualismus aufheben wollen zugunsten einer völkischen, kollektivistischen, ethnisch homogenen Gemeinschaft in einem starken Nationalstaat und in Verbindung damit den Multikulturalismus ablehnen und entschieden bekämpfen. Rechtsextremismus ist eine antimodernistische, auf soziale Verwerfungen industriegesellschaftlicher Entwicklung reagierende, sich europaweit in Ansätzen zur sozialen Bewegung formierende Protestform.“
Den gesamten Komplex des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik beschreiben zu wollen, würde bedeuten, sich auch mit der Entwicklung von Ideologien und Weltanschauungen, Meinungen und Einstellungen, Wahlverhalten und Wählerwanderungen, Mentalitäten und kulturellen Codierungen zu beschäftigen und ebenso die Veränderungen auf dem Feld rechtsextremer Straf- und Gewalttaten – inklusive der Änderungen rechtlicher Normen und der Modifikationen in der Erfassungspraxis der Polizei- und Justizbehörden – im Verlauf zu präsentieren. Einzubeziehen wären gesellschaftliche Großdebatten, in denen sich rechtsextreme Einstellungen, Politikinhalte oder Ideologieelemente Bahn brachen, ohne dass sie von rechtsextremen Akteuren gesteuert worden wären. Schließlich wäre auch die staatliche und gesellschaftliche Reaktion auf rechtsextreme Tendenzen – von polizeilicher und justizieller Repression über die Änderung der schulischen und universitären Lehrinhalte bis hin zur Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Engagements oder gar gewalttätiger Gegenaktivitäten – mit zu diskutieren. All dies würde den Rahmen der Darstellung bei Weitem sprengen.
Bewusst ist im Titel nicht vom „Rechtsextremismus“ die Rede, sondern von der „extremen Rechten“. Dies entspricht einer Veränderung in der internationalen politikwissenschaftlichen Forschung, die sich über lange Jahre auf die „Nachfrageseite“ (demand) konzentriert hatte, also v.a. auf das Wahlverhalten, und den gesellschaftlichen „Gelegenheitsstrukturen“ (opportunity structures) Aufmerksamkeit geschenkt hat, also z.B. den Einstellungen und ihrem Wandel. Gegenwärtig wird wieder stärker die „Angebotsseite“ (supply) thematisiert. Daraus folgt der „akteursorientierte Ansatz“ (actor orientated approach), dem sich auch die vorliegende Darstellung verpflichtet fühlt. Im Mittelpunkt steht die extreme Rechte in der Bundesrepublik als kollektiver politischer Akteur. Ihrem Selbstverständnis nach bezeichnet sie sich als „nationale Bewegung“, „nationales Lager“ oder „nationale Opposition“.