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Tatort Leipzig
Himmel und Hölle
Bennet Kühner lauscht angespannt der Stimme des Moderators Tim von Radio Leipzig.
»Tausende freiwillige Helfer von der Feuerwehr, von Katastrophendiensten sowie unzählige Dresdner kämpfen mit dem Hochwasser.«
Bennet atmet tief durch.
»Big Bags werden zum Schutz vor dem Elbwasser aufgebaut, erste Evakuierungen in Betracht gezogen.« Hatte Bennet Kühner sich gerade noch Gedanken über seine Freizeitgestaltung gemacht, weiß er jetzt, was er an diesem Wochenende tun wird. Über Facebook organisiert er ein soziales Netzwerk und macht sich zwei Stunden später schon mit 10 weiteren freiwilligen Helfern auf den Weg nach Dresden.
In elbenahen Schulen fällt der Unterricht aus. Es ist Katastrophenalarm im Landkreis Sächsische Schweiz/Ostergebirge und entlang der Weißeritz. Um 10 Uhr ruft die Stadt Dresden Alarmstufe 4 aus. Ein Krisenstab mit Vertretern der städtischen Ämter, Polizei, Feuerwehr und Bundeswehr wird gebildet.
Unentwegt verteilen Bennet und seine Freunde belegte Brötchen und Getränke an die freiwilligen Helfer und Helferinnen, ruhen sich nur für kurze Zeit auf Sandsäcken in einer Lagerhalle aus. Sie sind erschöpft, aber die Stimmung unter den Helfern ist gut. Zwei Tage später wird Bennet Kühner im Einsatz in Grimma sein. Als Hauptkommissar. Der sozial geprägte Mann weiß es aber noch nicht.
100 Polizisten haben sich im Ramadan Hotel in Leipzig einquartiert. Sie sind im eigenen Auto angereist. Einige von ihnen haben 20 Stunden am Stück durchgearbeitet. Darunter Bennet Kühner, Hauptkommissar. Sie haben die Altstadt in Grimma gesperrt.
»Er wollte verdammt nicht raus aus seinem Haus«, sagt Bennet aufgebracht. »Ich bin hier geboren und werde hier auch sterben«, hat er zu mir gesagt.
Bennet trinkt einen großen Schluck Kaffee, dann stellt er die Tasse mit einem Ruck auf den Tisch zurück.
»Er hat eine getigerte Katze«, murmelt Bennet. »Die hat zwei verschiedenfarbige Augen.«
Bennett Kühner nimmt wieder einen Schluck Kaffee, stellt wieder die Tasse mit einem Knall auf den Tisch zurück. Braune Brühe schwappt über seine Hand. Bennet beachtet es nicht. »Ein blaues Auge und ein grünes Auge.«
Der Hauptkommissar greift nach dem Glas mit dem Orangensaft, trinkt, verschluckt sich, hustet. »So ein Dickkopf aber auch«, sagt er zu Uli, der ihm gegenüber sitzt und mit dem er sich das Hotelzimmer teilt. Ulli schweigt.
Bennet starrt ins Leere, verliert sich in Erinnerungen. Er kennt den Nachbarn seiner Patentante, bei der er aufgewachsen ist, schon von Kindesbeinen an, hatte viel Zeit bei Torsten Bonkwald, dem Amphibienliebhaber, verbracht. Bennet durfte ihn sogar einmal bei einem seiner Amphibien-Hilfs-Einsätze begleiten. Er erinnert sich noch gut daran, hat den Lärm der Laubfrösche noch im Kopf. Sie hatten damals einen Krötenzaun gebaut. Und Bennet durfte lange aufbleiben. Viel zu lange für ein Kindergartenkind, wie seine Patentante meinte.
»Lass mal gut sein, Else«, hatte der kinderlose Torsten Bonkwald damals gesagt. Dann hatte er Bennet stundenlang über Knoblauchkröten, Grasfrösche, Moorfrösche und Rotbauchunken erzählt. Nach dem Einsatz hatte Torsten Bonkwald einen Riesentopf mit Gulaschsuppe für die Helfer vom Nabu in Grimma gekocht, Bäckerkalle hatte Brötchen und Hefezopf spendiert und Tante Else auf dem Schifferklavier gespielt. Da war die Ehefrau von Torsten Bonkwald, die Bonkwaldtante, wie Bennet sie liebevoll nannte, schon lange tot.
»Es ist ein gutes Krötenjahr heuer«, sagte Torsten Bonkwald zu Tante Else. Bennet kann sich noch gut daran erinnern, damals hatte er nicht verstanden, was Herr Bonkwald damit meinte. Heute weiß er es, ist selbst Mitglied beim Nabu in Grimma, ebenso wie seine Kollegen Kalle und Röhre.
Manchmal hatte Bennet sich vorgestellt, wie es wäre, wenn seine Patentante und Herr Bonkwald ein Paar wären. Und er ihr Kind. Sie hätten dann immer zusammen die Kröten über die Straße geführt oder Zäune gebaut, Äpfel in Streuobstwiesen gesammelt, Insektenhotels aufgebaut und Gulaschsuppe gekocht. Und er hätte immer Kalle mitgenommen, seinen besten Freund aus dem Kindergarten. Aber irgendwie merkte Tante Else nicht, dass der 1. Vorstand vom Nabu Grimma ein Auge auf sie geworfen hatte. Else Stresemann hatte und hat nur das Wohl ihres einzigen Neffen im Auge, dessen Eltern bei einem Verkehrsunfall bei Leipzig ums Leben gekommen sind. Männer hatten und haben in ihrem Leben keinen Platz.
Seine Eltern wollten ins Theater. Damals. In der lauen Sommernacht, als die Grillen um die Wette zirpten, Glühwürmchen im Dunklen leuchteten, das Quaken der Frösche und Kröten zu hören war. Es war ihr Hochzeitstag. Bennet weiß nicht mehr der wievielte. Silvia Kühner hatte sich fein gemacht, hatte das kurze tomatenrote Kleid an, dass sie sich in einer Boutique in Leipzig gekauft hatte. Extra für diesen Tag. Und Bennet Kühner bekam den Mund nicht mehr zu, als seine Mama ins Wohnzimmer gestöckelt kam. In Schuhen so hoch wie Stelzen, aus schwarzem Lackleder. Silvia Kühner drehte sich lachend im Kreis, strahlte den Sohn an wie die Sonnengöttin höchstpersönlich. »Na, mein Großer, wie gefalle ich dir?«
»Mein Gott, Silvie«, sagte Bennet Kühner Senior. »Wie schön du bist!«
Dann kniete der Ehemann sich auf dem Fliesenboden nieder, streichelte seiner Angetrauten zärtlich über den flachen Bauch, sagte: »Zuckermami.«
Silvia Kühners Augen funkelten wie Sterne, als sie ihren Sohn in die Arme nahm und sagte: »Du bekommst ein Brüderchen, Bennet.«
Aus den Augenwinkeln heraus sieht Bennet, wie sich seine Kollegin Marie am Nebentisch niederlässt. Sie hat ihren Gürtel mit den Waffen umgebunden. »Hatte keinen Bock auf Panzerschrank«, sagt sie zu Kalle, der sie fragend ansieht. Sie nippt an ihrem Kaffee. »Mein Gott, ist das wieder eine schwache Brühe.«
Marie flirtet mit den Kollegen am Tisch, mit Kalle. Vor ein paar Wochen noch hat sie mit Bennet geflirtet, mit ihm zusammen gewohnt. Im dem Häuschen in Günthersdorf, das er von seiner Großmutter vererbt bekommen hat. Sie hatten Pläne zusammen gemacht, wollten heiraten, das Haus von Oma modernisieren, ein Kind zusammen haben, vielleicht auch zwei oder gar drei. Sie wollten seine Patentante Else zu sich nach Günthersdorf holen. Aber dann wurde es Marie zu eng in der kleinen Stadt, zu eng in der Beziehung mit Bennet. Und sie zog aus dem Haus mit dem großen Garten aus, in dem ihre Kinder hätten spielen sollen, obwohl die Anträge zur Förderung von Privatmaßnahmen in der Dorferneuerung schon gestellt waren.
Bennet starrt auf das Rührei auf seinem Teller, schiebt den Teller weit von sich. Seine Patentante wohnt immer noch in Grimma. Und Tante Else will auch nicht raus aus ihrem Haus.
Handyklingeltöne vermischen sich mit Kaffeelöffelklappern, Gläserklirren, Stimmengewirr. Wortfetzen streifen sein Ohr.
»Sie schicken wieder alle Leute nach Berlin zurück«, sagt Uli. Er schüttet Milch über die Cornflakes. »Sind noch im Hotel, komme raus.«
Der Einsatzleiter brüllt in sein Mobiltelefon, knallt seinen Schreibblock und den schwarzen Kugelschreiber auf den Tisch. »Ableitung des Verkehrs!«
Kalle schließt während des Telefonierens die Augen.
»Alles klar. Danke. Komme nach.«
Maries Hand streift wie zufällig über Kalles Oberschenkel.
»Es besteht die Möglichkeit hierzubleiben«, stottert Kalle. Marie lächelt, verzieht ihren Mund zu einer Schnute, sagt: »Jut.«
Uli steht auf, schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich melde mich, sobald wir in Grimma sind, Bennet.«
Bennet schielt nach Marie. Seine Blicke streifen über ihr schwarzes T-Shirt, den Gürtel mit den Waffen und Werkzeugen um ihre Hüften. Er ist mit ihr und Kalle in einer Gruppe zur Verkehrskontrolle eingeteilt.
»Wenn du den Job machen willst, musst du das ertragen«, sagt
Uli. Bennet schweigt.
»Die nächsten zwei Tage schlafen wir für alle Fälle noch mal im Hotel«, brüllt Uli durch den Frühstücksraum. »Euer Gepäck könnt ihr hierlassen, Leute.«
Er telefoniert mit Hotte. »Genau. Alles klar! Danke, Hotte. Grüße an Lutze. Bis dann.«
Der Saal leert sich. Bennet trinkt seinen Kaffee aus und begibt sich auf das Zimmer. Lange steht er am Fenster, sieht über die Dächer von Leipzig, schaut den Menschen hinterher, die aufgeregt wie eine Ameisenhorde umherwuseln, auf den orangefarbenen Riesenkran. Der Himmel ist katzengrau, es regnet aber nicht. Es kommt Hilfe aus der Partnerstadt Hamburg. 30 Fahrzeuge mit 170 Feuerwehrleuten aus der Hansestadt treffen in Dresden ein. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht Pirna. In der Nacht zum 6. Juni wird am Pegel Schönau die Zehn-Meter-Marke überschritten. Marie und Kalle sind ein Paar.
»Hallo Röhre«, flötet Marie in die Sprechmuschel ihres roten Handys. »Wie geht es dir denn so?«
Sie erzählt von ihrem Einsatz in Grimma. »Lauter Bekloppte da unten. Sie wollen nicht raus aus ihren verdammten alten Häusern.«
Sie schimpft über das Frühstück im Ramadan Hotel.
»In dem Kasten gibt es noch nicht einmal frische Ananas, keine blauen Trauben, keinen Parmaschinken. Der Kaffee war wieder einmal viel zu schwach, lauwarm. Ich hasse lauwarmen Kaffee! Die haben noch nicht einmal …«
Marie steigt in den gläsernen Fahrstuhl. Sie hat Höhenangst, starrt während der Aufzugsfahrt konsequent auf den Boden. Einige der Polizisten unterhalten sich im Flüsterton miteinander. Sie sind sichtlich betroffen von den Ereignissen der letzten Stunden.
Der Aufzug hält. Marie drängt sich an ihren Kollegen vorbei. »Es ist ja so was von egal, egal wie alles andere, von dem man nicht betroffen ist«, sagt sie und steuert geradewegs dem Ausgang zu, zückt ihr Handy, wählt eine Nummer und flötet. Ich habe große Lust auf Party machen. Wir könnten uns heute Abend treffen, Kalle. Im großen Garten vielleicht?«
»Er ist überflutet, Marie.«
»Wie wäre es mit Kino gehen?«
»Kino?«
»Es läuft gerade die Titanic, Kalle.«
»Das ist aber nicht dein Ernst, Marie.«
Die Hausbesitzer müssen zusehen, wie ihre Keller volllaufen, ihre Autos absaufen. Bennet, Kalle und Marie fahren in einem Boot des technischen Hilfswerks in die Altstadt von Grimma, Bennet will seine Patentante dazu überreden vorübergehend in eine Notunterkunft
zu ziehen. 200 Menschen haben dort schon Zuflucht genommen. Er ist entsetzt, als er das Haus sieht in dem er aufgewachsen ist. Die Haustür steht unter Wasser. Bennet hat noch einige Kartons mit Bekleidung hier, Bücher, seine Briefmarkensammlung und andere Erinnerungsstücke. Demnächst wollte er die Sachen abholen. »Die Bilder meiner Eltern«, murmelt Bennett.
»Meine Umzugskartons stehen abholbereit im Untergeschoss.«
»Das kannste dir abknicken«, sagt Marie. »Mit Schadensbegrenzung ist hier nischt mehr!«
Im Nachbarhaus steht Torsten Bonkwald am offenen Fenster im ersten Stock. Er hält seine Hände in Brusthöhe. Sein Gesicht sieht wie in Stein gemeißelt aus, seine Augen starren ins Leere. Bennet ruft »Herr Bonkwald, Herr Bonkwald«, winkt ihm zu. Torsten Bonkwald reagiert nicht, starrt weiter Richtung Nirgendwo.
»Das Vieh wird abgesoffen sein«, sagt Marie.
Erst jetzt sieht Bennet den Kopf zwischen den Händen des alten Mannes hervorlugen, die halb geschlossenen Katzenaugen. »Minka.«
Während viele Einwohner mit den Aufräumarbeiten ihrer überschwemmten Wohnungen, den kaputten Möbeln beschäftigt sind und mit dem Schlamm kämpfen, gibt es Plünderungen.
»Man fasst es nicht, zu was Menschen fähig sind«, sagt Kalle erschüttert. Er sieht auf sein Elternhaus, reibt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Die Schaufenster der Bäckerei sind schon zur Hälfte überflutet. Bennet nimmt den Freund in die Arme, streichelt seinen Rücken. »Kalle, Kalle.«
Marie zerrt den Apfel aus der Hosentasche, den sie vom Frühstücksbüffet mitgenommen hat, beißt hinein.
»Kein bisschen süß.«
Sie wirft den Granny Smith in hohem Bogen in das Wasser, lacht. »In Weitwurf war ich immer besonders gut.«
Die Fahrt zurück ins Ramadan Hotel nach Leipzig verläuft schweigend. Kalle und Bennet lauschen angespannt der Stimme von Radio Leipzig.
»Die Polizei in Dresden erlässt eine Verordnung, wonach Hochwassergaffern ein Bußgeld bis zu 1000 Euro droht.«
Marie sitzt auf der Rückbank und hackt auf ihrem Handy herum.
»Eine Gruppe der Freiwilligen Feuerwehr aus Rüdesheim unterstützt uns derzeit in Grimma. Sie werden das Rathaus vom Wasser befreien.
Es wurde eine Soforthilfe für Hochwassergeschädigte eingerichtet. Die Betroffenen können das Handgeld in ihrer Gemeinde beantragen. Pro Erwachsenem gibt es 400 Euro.«
»Dann mach das mal, Bennet«, sagt Marie. »400 Euro für den alten Plunder deiner Eltern zu bekommen ist reine Glückssache. Die Gelegenheit kriegste auch nicht alle Tage.«
Marie telefoniert mit Hotte. »Ich habe Lust auf Party machen.«
»Heute?«
»Heute!«
»Nach diesem Tag, Marie?«
»Jetzt stell dir mal nischt so an, Hotte.«
»Ein anderes Mal, Marie.«
»No second chance, Hotte!”
Marie telefoniert mit Lutze. »Ich habe Lust auf Party machen, Lutze.«
»Party machen?«
»Jups.«
»Hast du Geburtstag oder was?« Marie lacht. »Nee.«
»Was gibt es zu feiern, Marie?«
»Das Leben«, sagt Marie.
»Heute?«
»Jups«, sagt Marie. »Heute! Und du kriegst keine zweite Gelegenheit, Lutze.«
»Wo treffen wir uns, Marie?«
»Vor dem Hoteleingang, Lutze.«
»Vor neun Uhr schaffe ich es aber nicht, Marie.«
»Jut«, sagt Marie. »Dann bis um neun Uhr vor dem Hoteleingang, Lutze.«
Pünktlich um neun Uhr steht Lutze vor dem Haupteingang des Ramadan Hotels, sieht immer wieder auf seine Armbanduhr. Er ist hungrig, hatte keine Zeit mehr etwas zu essen.
Kalle tritt aus der Tür, fummelt sich eine Zigarette aus seiner Hosentasche, steckt sie mit zitternder Hand in den Mund und hält das Einwegfeuerzeug dicht darunter. Er inhaliert tief, betrachtet besorgt den Himmel. Es sieht nach Regen aus. Dann erst sieht er Lutze.
»Auf was wartest du denn?«, fragt Kalle.
»Ich habe ein Date mit Marie.«
»Ach?«
Bennet gesellt sich zu Kalle, zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Er klopft Kalle auf die Schultern. »Ich freue mich, dass deine Eltern sich für die Notunterkunft entschieden haben.«
»Ich auch«, sagt Kalle und sieht den Rauchwölkchen seiner Zigarette hinterher.
Röhre gesellt sich dazu. »Du warst nicht beim Abendbrot, Lutze«, sagt Röhre. »Keinen Hunger gehabt heute?«
»Ich habe geduscht, meine Haare gewaschen, habe eine Verabredung mit Marie. Sie will Party machen und ...«
»Ich weiß, Lutze.«
Es gesellen sich noch Hotte, Achim, Edgar und andere junge Männer dazu. Einige von ihnen haben Taschen dabei, einige Rucksäcke mit Flaschen auf dem Rücken.
Marie erscheint, strahlt in die Runde. »Schön, dass ihr gekommen seid, Jungs. Dann mal auf zur Sandsackparty!«
Marie hat sich fein gemacht: kurzer Jeansrock mit schwarzem Volant, hautenges weißes T-Shirt, schwarze High HeelSandaletten. An ihren Ohren baumeln die riesengroßen Gold-kreolen, die sie sich von Bennett zum 25. Geburtstag gewünscht hatte.
»Sie trägt keinen BH«, sagt Kalle zu Bennet. »Man kann sogar ihre Nippel sehen.«
»Hm«, sagt Bennet, dreht sich um und peilt die Eingangstür an. »Bennet?«, ruft ihm Kalle hinterher.
»Gehst du nicht mit uns mit?«
»Nein«, sagt Bennet und verschwindet im Hotel.
»Wir laufen zur Uni«, sagt Marie in die Runde. »Dort warten schon ein paar Typen.«
»Aha«, sagt Kalle.
»Sie haben Mangiare und Alk mit«, lacht Marie.
»Aha«, sagt Röhre.
Sie laufen hintereinander wie eine Entenfamilie, Marie im Laufschritt voraus, am Grassi-Museum und an der Gutenberg-Galerie vorbei bis zur Uni. Marie wackelt provozierend mit ihrem Hintern. »Diese Schlampe«, nuschelt Röhre.
Schon von weitem ist die grölende Gruppe mit den jungen Männern hörbar. »Da sind sie ja«, sagt Marie und winkt.
Sie begrüßt jeden einzelnen mit Küsschen links und
Küsschen rechts auf die Wange. »Das ist Röhre, das ist Kalle, das ist …«
Kalle und Röhre setzen sich auf eine Bank. Eine der tätowierten Jungs breitet auf dem Boden eine Decke aus, schüttet Knabbersachen darauf. Schmitti mit den eidottergelb eingefärbten Haaren lässt seine Flasche mit dem Mecklenburger Doppelkorn reihum gehen.
»Nein, danke«, sagt Kalle. »Nein danke«, sagt Röhre, als er ihnen die Flasche anbietet. »Dann eben nicht«, sagt Schmitti, setzt die Flasche an und rülpst wie ein Schwein. »Seid wohl etwas besseres, was?«
Marie rockt zur Rammstein-Musik. Es herrscht Ballermann Stimmung. Eine der Gestalten mischt Cocktails, hat in einer Plastikschüssel sogar Eiswürfel und braunen Zucker mit dabei.
Marie hat Kreide mitgebracht, malt 11 Kästchen auf den Boden. In das erste Kästchen schreibt sie »Erde’. Die weiteren Kästchen nummeriert sie. 1,2,3,4,5,6,7,8. In das neunte Kästchen schreibt sie »Hölle’, in das zehnte »Himmel.’
»Wir spielen Himmel und Hölle«, sagt Marie. Sie hebt ihr linkes Bein hoch wie ein Hund beim Pinkeln, fällt fast um und hüpft auf dem rechten Bein von Feld zu Feld. »Ich hab die Reihenfolge verwechselt«, kichert sie und fängt noch mal von vorne an. Sie hebt ihr rechtes Bein in die Höhe und hüpft, ist glücklich im Himmel angekommen. »Jetzt du, Röhre«, befiehlt sie. Und vergisst auf dem Rückweg die Hölle auszusparen.
Als nächstes hüpft der nicht mehr standfeste Cocktailmixer. Er stürzt bei Kästchen Nummer drei. Marie lacht. »Noch einmal, Harry.«
Danach hüpfen Hotte, Achim, Edgar, Schmitti, Denny, Gockel, Kevin. Und immer wieder Marie. Sie wird lautstark von den Jungs angefeuert. »Hüüü hüpf, Marie.«
Und Marie hüpft. Und hüpft. Und hüpft.
»Wir ziehen um«, sagt Röhre irgendwann. »Die Party geht anderswo weiter.«
Es sind nur noch Kalle und Röhre da. Röhre zieht Marie von der Bank hoch. »Komm, Marie.«
Kalle sammelt die leeren Flaschen und Pappteller von den Bänken und dem Boden auf, verteilt sie in die Mülleimer, lässt seine Blicke umher schweifen. »Alles sauber!«, stellt er zufrieden fest.
»Wohin geht’s?« fragt Marie.
»Überraschung«, sagt Röhre.
Marie kichert. »Ich liebe Überraschungen.«
Sie laufen los. Marie in der Mitte, Kalle rechts und Röhre links. »Immer schön geradeaus, Marie«, sagt Röhre.
Vor dem neuen Rathaus machen sie Halt. Kalle zieht eine schwarze Monster-Energie-Drink-Dose aus seinem Rucksack, öffnet sie und streckt sie Marie entgegen. »Für dich, Marie.«
Marie trinkt gierig, wischt sich den Mund mit ihrem
Handrücken ab. »Hm, jut. Und wo ist die Überraschung, Kalle?«, fragt sie.
Kalle zeigt auf den Riesenkran. »Die Trinitatis Kirche. Sie bauen hier im Namen des Herrn, Marie.«
»Die heilige Dreifaltigkeit«, sagt Röhre. »So wie wir, Marie. Du, ich und Kalle.«
Er streckt Marie einen Black Bear Energier-Riegel hin.
»Zur gesunden und schnellen Ernährung vor und nach dem Klettern, Marie.«
»Was meinst du damit, Röhre?«
»Wir spielen jetzt blinde Kuh«, erklärt Kalle, nimmt sein rot kariertes Tuch von seinem Hals ab und bindet es Marie um den Kopf. Er verknotet das Tuch an Maries Hinterkopf mit zwei Doppelknoten, hält seine Hände dicht vor ihre Augen und zappelt mit allen zehn Fingern. »Siehst du mich, Marie?«
»Nein«, gluckst Marie. »Ich sehe nischt!«
Maries Maiglöckchenduft raubt Kalle den Atem. »Gab es das Parfüm im Sonderangebot, Marie?«, fragt er.
»Oder gibt es einen anderen Grund, warum du die halbe Flasche von dem Gestank über dich gekippt hast, Marie?«
Röhre erhebt seinen rechten Oberarm und schlägt mit geballter linker Faust darauf.
»Klatsch, klatsch«, sagt Marie.
»Den Duft hast du dir von mir zum Geburtstag gewünscht, Marie.«
Marie kichert. »Jaaa.«
»Füßchen hoch, Marie«, sagt Kalle. »Jetzt geht es ab ins Himmelreich.«
»In den siebenten Himmel?«, lallt Marie.
»In den siebenten Himmel«, sagt Röhre. »Dahin, wo die Engelein singen.«
Marie lacht und steigt die erste Sprosse der Leiter hoch. »Und noch ein Füßchen, Marie«, sagt Röhre. »Ja, so ist es gut, Marie. Immer schön ein Füßchen nach dem anderen setzen.«
Marie steigt und steigt, erklettert auf allen vieren die erste Hälfte des Krans. Dann bleibt sie erschöpft stehen. »Ich kann nicht mehr!«
Ihre strohblonden Haare umwehen ihr mit tomatenrotem Lippenstift verschmiertes Gesicht.
»Noch ein Schlückchen, Kalle«, bettelt Marie. Kalle greift in seine Hosentasche, holt den Flachmann heraus, setzt ihn an Maries Lippen. »Zum Wohl, Marie!« Kalle nimmt die leere Flasche wieder an sich, verstaut sie in seiner Hosentasche. »Und weiter geht’s, Marie!«
»Noch ein Schlückchen. Nur ein klitzekleines Schlückchen, bitte, Kalle!«
»Erst steigen, Marie«, sagt Kalle. »Ein Füßchen nach dem anderen setzen, Marie.«
Er greift Marie unter den Rock, kitzelt ihren Oberschenkel.
»Kalleeee«, stöhnt Marie.
»Später«, sagt Kalle. »Später, Marie.«
Er schiebt Maries Po nach oben und Marie erklettert weiter als erste die Leiter innerhalb des Krans.
»Die Affen steigen auf den Thron«, singt Röhre, der eigentlich Joachim heißt. Den Spitznamen Röhre hatte ihm Marie gegeben. Damals, nach ihrer ersten Liebesnacht.
Röhre grölt. »Irgendwas passiert mit dir, du riechst, hörst wie ein Tier. Du hörst uns kommen, wir sind hier.«
»Steig weiter, Marie!«, befiehlt Kalle.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnt Marie.
»Steig, Marie!«, sagt Kalle. »Steig!«
»Ich will nicht mehr blinde Kuh spielen«, japst Marie. Sie zerrt an dem Tuch um ihren Kopf.
»Gleich hast du es geschafft, Marie«, sagt Kalle. Es sind nur noch ein paar Stufen bis zu den Engeln, Marie.«
»Sie leben hinterm Sonnenschein, getrennt von uns, unendlich weit«, sagt Röhre.
Marie steigt weiter. In der Krankanzel nimmt Kalle das Tuch von ihrem Gesicht ab. »Braves Mädchen!« Marie sieht sich um und wird kalkweiß im Gesicht.
»Wie wäre es mit Höhensex, Marie?«, fragt Röhre.
»Das wäre doch einmal was anderes als es immer nur im Bett oder im Auto zu treiben, was, Marie?«
Maries Lippen beben. »Ihr Gott verdammten Moorfroschmännchen«, zischt sie.
Kalle und Röhre lachen.
»Ich will da runter!«, japst Marie.
Kalle schiebt die Hand unter ihren Rock, zerrt an ihrem Slip. »Du wolltest ficken, Marie.«
Neongrüne Augen starren ihn gebannt an.
»Du wolltest doch ficken, Marie, oder etwa nicht?« Röhre singt »Gleiches Fell, Stadtgestank.«
Marie kreischt. »Runter! Ich will sofort da runter!«
»Willst du gleich oder später Liebe machen, Marie?«, fragt Kalle. »Willst du erst mich vernaschen und dann Röhre oder umgekehrt, Marie?«
»Ich …«
»Du möchtest erst die Aussicht genießen, liebe Marie?«
»Ich …«
»Noch mal ganz von vorne Marie«, sagt Kalle. »Und das gaaaanz langsam, Marie. Damit dein vernebelter Verstand es auch verstehen kann.«
Marie würgt. Röhre lacht.
»Hör mir gut zu, Marie! Ich frage dich noch einmal. Willst du erst mit Röhre Liebe machen oder mit mir, Marie? Hier in der Kanzel oder draußen auf dem Ausleger?«
Kalle zeigt nach draußen. Marie spuckt neongrüne Brühe vor seine Füße.
»Aber nicht doch, Mariechen«, sagt Kalle. »Du beschmutzt ja dein schönes Röckchen, Marie.«
»Wir kommen dich zu holen, die Affen steigen auf den Thron«, singt Röhre.
»Du hast mich betrogen, verarscht, Marie. Mit ihm.«
Kalle zeigt auf Röhre.
»Und mich hast du mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr betrogen, mit dem Bürgermeister von Güntherstadt, mit …« Röhre brüllt gegen den frischen Morgenwind, schiebt Marie auf den Ausleger. »Hier geht die Party weiter, Marie!«
»Ich will runter«, brüllt Marie.
»Dann spring doch«, sagt Kalle. »Spiel Himmel und Hölle, Marie. Hüüü hüpf, Marie.«
Röhre grölt. »Sie leben hinterm Sonnenschein. Getrennt von uns. Unendlich weit. Sie müssen sich an Sterne krallen, damit sie nicht vom Himmel fallen.«
Er macht eine wegwerfende Handbewegung, reißt die Tür auf und gibt Marie einen Stoß. »Fick dich doch selbst, Marie!«