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ОглавлениеMECKLENBURG-VORPOMMERN
Tatort Schwerin
Der Honiganbieter
Friedrich Witte betritt die Geschäftsstelle des Landesverbands der Imker Mecklenburg Vorpommern e.V. Es ist Dienstag. Und die Sprechzeiten der Geschäftsstelle der Imker sind nur Dienstag und Donnerstag. Von 9 16 Uhr. Der ehemalige Imker wird wie jeden Dienstag und Donnerstag bis 16 Uhr am Telefon für alle Fragen rund um die Bienenzucht zur Verfügung stehen. Ehrenamtlich. Neben der Telefonarbeit wird er, wie seit vielen Jahren schon, die schriftlichen Arbeiten der Honigerzeugergemeinschaft erledigen sowie die jährliche Sommerund Weihnachtsfeier vorbereiten. Friedrich Witte ist sehr gut im Organisieren und im Planen, steckt seine ganze Kraft in seine zahlreichen Projekte und obwohl er schon auf die 80 zugeht, reißt Witte, wie er von den Vereinsmitgliedern genannt wird, sich immer noch mehr Arbeit unter den Nagel. Vor allem die Arbeit, die nach außen dringt. Er ist im Vorstand der katholischen Kirche St. Anna, der Mutterkirche aller katholischen Kirchen in Mecklenburg, betreut das Frühstück für Bedürftige in den Sozialräumen von St.
Anna, St. Martin und St. Andreas.
Mit demütig-gütigem Blick, nach rechts und links grüßend, läuft Friedrich Witte jeden Sonntagmorgen nach der Frühmesse durch die Reihen der Bedürftigen, jeden ersten Sonntag im Monat in St. Anna, jeden zweiten Sonntag im Monat in St. Martin, jeden dritten Sonntag im Monat in St. Andreas. Das Gebetbuch fest an seine Brust gepresst. Den vierten Sonntag im Monat bringt sich der christliche Mann für die kirchliche Telefonfürsorge bei der Caritas ein. Friedrich Witte macht sich gerne stark für die Menschen am Rande der Gesellschaft, kümmert sich um die Bedürfnisse von einsamen Senioren und Seniorinnen.
»Überzeugung und Glaube muss man in die Tat umsetzen«, betont Friedrich Witte immer wieder. Und natürlich sorgt der fromme Mann dafür, dass eine regelmäßige Berichterstattung über seine sozialen Tätigkeiten in der Schweriner Volkszeitung erscheint.
Er selbst habe die Kuchen gebacken, die seine abgehetzte Ehefrau jeden Sonntag in den Küchen der jeweiligen Kirchengemeinden abliefert, erklärt er lächelnd.
»In den frühen Morgenstunden schon, vor der Frühmesse.«
Wohlwollend nickt Witte seiner Frau zu. »Danke fürs Herbringen, Hiltrud.«
Und mit einem lässigen Winken mit der rechten Hand, so wie man eine lästige Fliege verscheucht, ist die Ehefrau verabschiedet. Friedrich Witte wird pünktlich um 12.00 Uhr zum Mittagessen zuhause sein. Wie jeden Sonntag. Und er wird wie immer eine Kohlrabisuppe, Rumpsteak Medium gegrillt, eine bunte Gemüsepfanne und Kartoffelecken serviert bekommen. Drei Kugeln Eis als Nachtisch: Vanille, Erdbeere, Schokolade. Mit zwei Esslöffeln Sirup über dem Eis, vier Esslöffeln Schlagsahne obenauf. Friedrich Witte liebt Schlagsahne, will aber nur die Schlagsahne von Südmilch auf seinem Eis dulden, und er will exakt zwei Päckchen Vanillezucker in der Sahnewolke haben, und es muss der Vanillezucker von Dr. Oetker sein. »Nur keine Außergewöhnlichkeiten, Hildchen!«
Friedrich Witte wird nach dem Mittagessen wie immer ein Nickerchen machen, Hiltrud Witte die Essensreste in Plastikschüsseln verstauen und zu Frau Schulze eilen, der gehbehinderten Frau, die Friedrich Witte über das Sorgentelefon kennengelernt hatte. Sie wird der alten Dame das Bett frisch überziehen, die Waschmaschine füllen, bügeln, die Wohnung saugen, Staub wischen und die Einkaufsliste für die kommende Woche schreiben. Dann wird sie zusammen mit der einsamen Frau Kaffee trinken, ein bisschen erzählen. Die alte Dame hat weder Freunde noch Verwandte in der Stadt.
Hiltrud Witte ist nach den Besuchen bei Luise Schulze immer sehr erschöpft, ihrer letzten Energie beraubt. Tagein, tagaus ist die verbitterte Frau damit beschäftigt, sich alle negativen Erlebnisse der letzten 70 Jahre in Erinnerung zu rufen. Sie hadert mit ihrer Kindheit, fühlt sich vom Leben betrogen.
»Da bist du ja, Hiltrud. Du kochst doch gleich mal einen Kaffee?«, ruft Heinrich Witte, sobald Hiltrud Witte die Haustür aufgeschlossen hat. »Hilde, du bist es doch?«
Hiltrud Witte zieht seufzend ihre Straßenschuhe aus, stellt sie in den Schuhschrank, schlüpft in ihre rosaroten Plüschhausschuhe, geht in die Küche, bindet ihre geblümte Schürze um ihr Sonntagskleid und schaltet die Kaffeemaschine ein. Danach spült sie die Essensreste von den Schüsseln und Tellern, räumt sie in die Spülmaschine ein. Das Silberbesteck, die Gläser und die Eisschalen mit dem Goldrand spült sie von Hand. Sie holt die Kaffeetasse mit dem Motiv des Schweriner Schlosses aus der Vitrine, den Unterteller, die Zuckerdose, stellt alles auf das Servierbrett in Apfelform. Friedrich Witte besteht darauf, seinen Sonntagnachmittagskaffee aus der Tasse mit dem Motiv des Schweriner Schlosses zu trinken.
»Hiiiilde, wo bleibt der Kaffeeeee?«
»Stell ihn da hin«, sagt Friedrich Witte, deutet mit seinem Zeigefinger neben den überquellenden Aschenbecher und starrt weiter in die Flimmerkiste. Auf dem Tisch türmen sich VideoKassetten: Sexualität im reifen Alter. Heiße Sexy Frauen. Lust und Liebe ohne Altersgrenze. Sex, Lust und Leben Teil 1. Sex, Lust und Leben Teil 3. Die Hülle von Teil 2 »Mehr Spaß am Sex’ liegt auf dem Boden vor dem Video Gerät. Hiltrud Witte schiebt die Videos zur Seite, stellt das Tablett auf den Tisch, bietet Apfelkuchen an. »Der Zuckerlöffel fehlt, Hiltrud«, tadelt Friedrich Witte. »Wo hast du heute bloß wieder deinen Kopf?«
Hiltrud Witte eilt zurück in die Küche, holt einen Kaffeelöffel aus der Besteckschublade und legt ihn neben die Tasse mit dem Schweriner Schloss Motiv … »die Qualitäten der Orgasmen verbessern ...«
Hiltrud Witte weiß, dass sie, sobald Er sich das Video und den Apfelkuchen reingezogen hat, mit ihm ins Schlafzimmer muss. Und ihr graut davor. Sehr!
Der ehemalige Bienenzüchter gründet einen Verein für vernachlässigte Kinder, ruft zu Spenden auf, engagiert sich in der Diakonie, organisiert die Hilfsaktion
»Weihnachten im Schuhkarton’. »Kinder, die sonst kein Weihnachtspaket in den Händen halten würden, erhalten so Aufmerksamkeit und Liebe. Die menschliche Nähe ist es, die Hoffnung …«
Ein äußerst nachdenklich blickender Friedrich Witte ist am 1. Advent auf dem Bild in der Schweriner Volkszeitung zu sehen. Und Hiltrud Witte muss für die Schuhkartons Weihnachtskarten basteln, Handschuhe, Mützen, Schals stricken, Schuhkartons mit Geschenkpapier bekleben. Zu dem Ehrenamtlichen-
Dankeschön Treff zum Frühstück im Kaffeehaus Prag nimmt Friedrich Witte seine Ehefrau nicht mit. »Du hast noch viel zu tun, Hildchen!«
Nach wie vor backt die lungenkranke Frau die Kuchen für die kirchlichen Treffs, mittlerweile auch noch für die monatlichen Events in den Räumen der Diakonie. Und jetzt soll Hiltrud Witte auch noch Weihnachtskekse backen.
»Meine Frau macht das sehr gerne«, sagt Friedrich Witte gegenüber der örtlichen Presse. Liebevoll drückt er Hiltrud einen Kuss auf die Wange. Die Anwesenden klatschen. Das Kussbild erscheint am nächsten Morgen in der Schweriner Volkszeitung unter der Überschrift
»Helden unserer Zeit’. Darunter ein Interview mit Friedrich Witte.
»Ich freue mich sehr darüber, dass es uns gelungen ist, ein Miteinander zu gestalten, das von religiösem Leben geprägt ist. Wir zeigen die Kirche und die Diakonie in ihrer bunten ökonomischen Vielfalt. Wir singen miteinander. Wir reden miteinander. Wir beten miteinander. Wir …«
»Selbstverständlich werden wir uns auch dieses Jahr wieder ein Abonnement fürs Mecklenburgische Staatstheater nehmen«, sagt Friedrich Witte und führt bedächtig seine Kaffeetasse an den Mund. »Wir werden natürlich den Frühkäuferrabatt nutzen, Hildchen.«
Gönnerhaft tätschelt er ihren Handrücken. »Und du bekommst ein neues Kleidchen, Hildchen. Dir passt ja nichts mehr, hast ja so sehr abgenommen. Neue Schuhe, ein neues Handtäschchen.« Hiltrud Witte weiß, dass ihr Mann sich nichts aus Theateraufführungen macht, sie nur wieder einmal vorführen muss.
Er verschläft fast die komplette Ballettaufführung von Romeo und Julia, wacht erst durch den Endapplaus der begeisterten Zuschauer auf. »Romeo und Julia«, flüstert Hiltrud Witte ihrem Gatten zu, als urplötzlich ein Redakteur der Schweriner Volkszeitung mit einem Mikrofon in der Hand vor ihnen steht. Friedrich Witte blinzelt in das Neonlicht, reibt sich mit beiden Fäusten die Augen. »Ich, äh, ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.«
Er zieht sein weißes Stofftaschentuch aus der Jacketttasche und schnäuzt sich. Die Stimme versagt ihm fast, als er ins Mikrofon stottert. »Eine großartige Inszenierung! Emotional sehr berührend, innig!«
Er dreht sich zur Seite, legt den rechten Arm um seine Ehefrau, zieht sie eng an sich, sieht direkt in die Linse des Fotografen, hält das Mikrofon dicht vor seinen Mund, räuspert sich. »Wir haben das unsägliche Glück, unsere Liebe ausleben zu können.«
Hiltrud Witte, obwohl 18 Jahre jünger, verblasst immer mehr neben dem Mann, der sich so gut zu verkaufen weiß, in der Öffentlichkeit immer einen dunklen Anzug und eine bedeckte Krawatte trägt, meist grau gestreift, dazu schwarze Lederschuhe. Die zierliche
Frau mit den halblangen mahagonifarbenen Haaren, den toten braunen Augen und der fahlen Gesichtshaut macht nur noch selten den Mund auf. Seit Friedrich Witte verentet ist, ist er es, der die Telefonanrufe im Hause Witte entgegen nimmt, den PC für sich beschlagnahmt, ihre Mails beantwortet. So hat Friedrich Witte erfolgreich auch die letzten Freundinnen seiner Ehefrau vergrault. Die Kinder, längst ausgezogen, schauen immer seltener bei der Mutter herein. Zu belastend ist die Stimmung der nach außen glücklichen Familie. Friedrich Witte ist es aber recht so, die drei Töchter seiner verwitweten Ehefrau hatte er noch nie gemocht.
Das Ehepaar Witte lebt mehr oder weniger von Hiltrud Wittes Beamten-Pension. Hiltrud war Lehrerin am Gymnasium Fridericianum, unterrichtete dort Englisch und Latein. Allein könnte es ihr gut gehen. Hiltrud Witte weiß das, scheut sich aber vor Veränderungen. Die Rente von Friedrich Witte ist mager. Viele Jahre lang hatte er es versäumt, sich selbst zu versichern, verbraucht den Großteil seiner Rente für seine nach Maß geschneiderten Anzüge, für Hemden, Krawatten, Schuhe. »Ich bin ein öffentlicher Mensch, Hildchen. Ich kann nicht immer in denselben Klamotten herumlaufen. Bei dir ist das natürlich etwas anderes. Du stehst ja ohnehin fast nur in der Küche.«
Hiltrud Witte hat im Laufe der Jahre gelernt zu vergeben, zu verzichten. Gezwungen von äußeren Umständen bleibt sie bei ihrem Mann. Sie sucht ihren Platz in der Welt nicht mehr, hat sich längst schon aufgegeben, will nur noch in Ruhe und Frieden leben, in Ruhe und Frieden sterben dürfen, mehr verlangt sie nicht mehr. Aber die Ruhe will Er ihr nicht gönnen.
Hiltrud Witte hatte nie geraucht, das Lungenleiden wurde ihr in die Wiege gelegt. Auch ihre um drei Jahre jüngere Schwester starb daran, im letzten Herbst. Hiltrud Witte schläft schlecht, macht die Nacht oft zum Tag und den Tag oft zur Nacht. Sie greift immer öfter zur Flasche, trinkt Schweriner Burggarten Sekt zum Frühstück, Mecklenburger Landwein zum Mittagessen, Lübzer Pils zum Abendbrot. Dazwischen trinkt sie immer wieder ein Glas Schwechower Obstbrand Apfel. Sie schluckt Schmerztabletten, Beruhigungstabletten, Schlaftabletten bis sie eines Tages zusammenbricht. Ihre älteste Tochter Magda, gerade auf Besuch, bringt die Mutter in die Lungenklinik Amsee.
Hiltrud Witte genießt die Zeit in der Klinik, genießt es, wie ein Mensch behandelt, nicht bevormundet zu werden. Das Essen schmeckt ihr wieder, sie hat etwas an Gewicht zugelegt, auch ist ihre Gesichtshaut nicht mehr so fahl, die Haare nicht mehr ganz so spröde, die Bewegungen weniger fahrig, die Augen wacher. Sie hat sich mit ihrer Bettnachbarin angefreundet, einer Lehrerin im Ruhestand. Und genießt die Gespräche mit der Gleichgesinnten.
»Ich denke, wir können Sie diese Woche noch entlassen, Frau Witte«, sagt der Chefarzt bei der Visite. Hiltrud Witte erschrickt. Die Tatsache, dass sie irgendwann einmal wieder nach Hause muss, hatte sie verdrängt, ihren Mann fast vergessen. Friedrich Witte hat nie angerufen in der Klinik, sie nie besucht, war zu sehr mit seinen kirchlichen Projekten zur Rettung der Welt beschäftigt.
Je näher der Tag der Entlassung rückt, wird Hiltrud Witte unruhiger. Sie hat keinen Appetit mehr, schläft schlecht, leidet unter Albträumen. Die seelisch und körperlich misshandelte Frau betäubt sich mit den Tabletten, die sie in ihrem Schrankteil versteckt hatte, ganz hinten im obersten Fach unter den weißen Frotteewaschlappen. Sie besorgt sich Schnaps bei einem Mitpatienten, den sie im Klinikflur kennengelernt hatte, erschafft sich wieder eine Traumwelt. Die Mahnungen ihrer Bettnachbarin Frida Lehmann schlägt sie in den Wind. »Lass mal, Frida, ich sterb’ ja sowieso.« Gegen diese Aussage ist Frida Lehmann machtlos. Sie deckt ihre neue Freundin in ihrer endlosen Traurigkeit, hat nichts gesehen.
Schlaflos wälzt sich Hiltrud Witte im Bett, sieht immer wieder auf die Ziffern des Weckers auf dem Krankenhausnachttisch. Sie kratzt sich am Kopf, an den Armen, an den Beinen, am Rücken. Ihre Haut brennt und kribbelt, so als würde sie in einem Ameisenhaufen liegen. Hiltrud Witte hat Bauchkrämpfe, Kopfschmerzen. Sie möchte sich am liebsten unter dem Kopfkissen verkriechen, nie wieder aufstehen müssen. Sie möchte nicht, dass der Morgen beginnt, will nicht nach Hause zu dem Mann, der keine Liebe in sich trägt, der sie jeden Sonntag benutzt wie eine aufblasbare Puppe. Hiltrud Witte holt die Schnapsflasche aus ihrem Schrankteil, trinkt in gierigen Zügen die Flasche mit dem Obstbrand leer. Sie will in ihre Traumwelt flüchten, in der sie sich nicht entscheiden muss. Anna, ihre Zweitälteste, wird sie in ein paar Stunden von der Klinik abholen.
»Zuckersüße Freude bereiten und gleichzeitig Gutes tun«, so preist Friedrich Witte seinen Honig bei den Weihnachtsfeiern in St. Anna, St. Martin, St. Andreas, der Diakonie, der Telefonfürsorge und dem Verein für Kinder in Not an. Er wird den Reinerlös zu 100 Prozent in seine Projekte stecken, gibt Friedrich Witte kund, schaut mit ernstem Blick in die Kameras der Pressefotografen. »Die Not in der Welt ist groß!«
Zeitgleich erscheinen Artikel über die Hilfsaktionen von Friedrich Witte in den drei regionalen Tageszeitungen von Mecklenburg-Vorpommern. Und der Absatz von Friedrich Wittes Rapshonig danach ist enorm.
Alle 5 Schweriner Rewe Filialen haben seinen Honig im Regal stehen.
Der Honiganbieter muss zukaufen, macht sich sofort daran, seinen Bestand zu vermehren. Und dann passiert eines Tages etwas sehr Außergewöhnliches. Nach einem Bienenstich schwillt die Nase des Imkers an, sein Körper rötet sich, er ringt nach Luft. Hiltrud Witte ist in der Küche mit dem Teig für die Waffeln beschäftigt, die es am Nachmittag im Jugendhaus geben soll.
»Hiiilfe.«
Hiltrud Witte runzelt die Stirn. Sie schaltet den Rührmixer aus.
»Hiiilfe.«
Hiltrud Witte eilt in den Flur, sieht in das geschwollene und mit Quaddeln übersäte Gesicht ihres Ehemanns. Friedrich Witte hält mit beiden Händen seinen Bauch, stöhnt. In seinen Augen steht die nackte Angst. Dann fällt er um wie ein gefällter Baum.
»Friedrich. Friedrich.«
Die Ehefrau kniet sich auf den Steinboden nieder, tätschelt die Wangen ihres Ehemannes, rüttelt ihn an der Schulter, zwickt in seinen Oberarm. Friedrich Witte bleibt stumm wie ein Fisch.
Hiltrud Witte legt ihren Kopf an seine Brust, lauscht seinem Atem, fühlt mit der Wange, ob es Luftbewegungen gibt. »Friedrich. Friedrich.«
Sie eilt in die Küche, hält ein Geschirrtuch unter das kalte fließende Wasser, legt es ihm auf die Stirn. Friedrich Witte bleibt leblos.
Sie entfernt die Zahnprothese aus dem Mund mit den bläulich-blassen Lippen. Macht Mund-zu-Mund-Beatmung.
»Friedrich. Friedrich.«
Hiltrud Witte fühlt den Puls ihres Mannes an der Halsschlagader, bringt ihn in die stabile Seitenlage und ruft den Notarzt an.
Eine Lache mit Urin hat sich um den Bewusstlosen gebildet. Der Duft von Kot erfüllt die Luft. Hiltrud Witte reißt die Fenster auf. Sie holt eine der Winterschlafdecken aus der Holztruhe im Schlafzimmer, deckt ihren Ehemann zu bis an die wächserne Nasenspitze.
Friedrich Witte wird mit dem Krankenwagen in die Klinik Amsee gebracht. Hiltrud Witte besucht ihren Mann dort täglich, wird von Frida Lehmann im Auto hingebracht.
»Sie hatten großes Glück, Herr Witte«, sagt der Chefarzt bei der Visite. »Sie sind dem Teufel gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.«
Friedrich Witte schweigt.
»Dank der schnellen Reaktion Ihrer Gattin, Herr Witte.«
Friedrich Witte schweigt.
»Sie hatten Ihren persönlichen Schutzengel im Haus,
Herr Witte. Ist Ihnen das eigentlich klar?«
Der Patient faltet seine Hände und starrt zur Zimmerdecke.
Der Arzt spricht eindringlich auf seinen Patienten ein.
»Sie sollten mit der Imkerei aufhören, Herr Witte!« Friedrich Witte schweigt. Er knetet seine Finger, bis die Knöchel weiß hervortreten.
»Der nächste Stich könnte für Sie tödlich sein, Herr Witte, das ist Ihnen doch klar?«
»Warum ausgerechnet ich«, stößt der Patient mit zusammen gepressten Lippen hervor.
»Wir könnten es mit einer Desensibilisierung versuchen, Herr Witte.«
»Ja«, flüstert Witte, dreht seinen Kopf zur Seite und weint.
Hiltrud Witte holt ihren Ehemann zusammen mit ihrer Freundin von der Klinik Amsee ab. Frida Lehmann steuert das Auto. Die führerscheinlose Hiltrud Witte hat den Beifahrersitz für ihren Mann freigemacht, sich auf die Rückbank des blauen Mazdas gesetzt. Sie werden zusammen essen gehen, in ein kleines, feines Restaurant in der Schweriner Altstadt. Friedrich Witte hatte es so gewollt. Und Hiltrud Witte hat einen Tisch für drei Personen in dem Restaurant »Küchenfee« reserviert, ein Festtagsessen bestellt: Geschmorte Kalbsbäckchen aus dem Kräutersud, Möhrchen, Röstzwiebeln, Himmel und Erde. Als Nachtisch wird es Erd-
beer-Sorbet geben, mit Prosecco aufgegossen. Es ist das Dankeschönessen für Frida Lehmanns Autofahrdienste.
Friedrich Witte bezahlt lächelnd die Rechnung. »Wir sollten ausgiebiger auf unsere Freundschaft anstoßen, liebe Frida. Ich schlage vor, wir trinken bei uns zu Hause noch ein Gläschen.« Friedrich Witte gibt sich als Charmeur. »Du hast doch sicherlich nichts dagegen, meine liebe Hiltrud, wenn ich zur Feier des Tages heute schon den besonderen Wein vom Weingut Rattey öffne? Eigentlich ist ja erst morgen unser Hochzeitstag, aber die besonderen Umstände...«
»Wein gibt es in jeder Kontogröße, liebe Frida«, sagt Friedrich Witte auf der Terrasse vom Haus am Hang. Er schenkt Frida Lehmann das Weinglas halb voll, danach das Glas seiner Ehefrau, dann seines. Er hält sein Glas hoch. »Auf uns drei!«
Frida Lehmann, keinen Alkohol gewohnt, verschluckt sich. Friedrich Witte lacht, prostet seiner Frau zu. Hiltrud Witte trinkt hastig. Friedrich Witte füllt ihr Glas nach. Er erzählt von seinen Erlebnissen im Krankenhaus, erzählt lebhaft von Pfarrer Michael, dem Klinikseelsorger, der auf einer Wellenlänge mit ihm schwimmt. »Er ist ein wunderbarer Mensch«, schwärmt Friedrich Witte, »lebt für seinen Glauben, kümmert sich um einsame Senioren und Seniorinnen, betreut ein Sorgentelefon. Er kümmert sich um vernachlässigte Kinder …« Friedrich Witte füllt sein Glas nach.
»Du trinkst doch auch noch ein Gläschen, Frida?«, fragt er. »Ich habe noch zwei Fläschchen von dem edlen Tropfen im Geheimvorrat.«
Frida Lehmann wehrt ab. »Ich muss doch noch Auto fahren, Friedrich.«
»Meine Freunde nennen mich Frieder«, sagt Friedrich Witte lächelnd. Hiltrud Witte ist erstaunt, noch nie in ihrem Leben hatte sie irgendjemanden zu ihrem Mann Frieder sagen hören.
Friedrich Witte gießt Frida Lehmann ein zweites Glas Rotwein ein. »Bitteschön, die Dame.«
Frida Lehmann nippt daran, lacht. »Wer genießen kann, trinkt keinen Wein mehr, sondern kostet Geheimnisse«, sagt Friedrich Witte.
»Ich habe schon einen schweren Kopf, eine kraftlose Zunge und meine Beine fühlen sich an, als hingen 10Kilo-schwere Bleikugeln daran. Friedrich Witte lacht, legt die Hand auf Frida Lehmanns Oberarm. »Du schläfst heute Nacht bei uns, Frida!«
»Du könntest im ehemaligen Kinderzimmer von Anna schlafen, Frida«, schlägt Hiltrud Witte vor. »Das Bett ist frisch überzogen und die Toilette befindet sich direkt daneben.« Hiltrud Witte ist gelöster Stimmung.
»Als Auslaufmodell ist das sehr geschickt.«
»Also, ich würde dann mal ins Bett wollen«, lallt Frida Lehmann. »Ich gebe dir ein Nachthemd von mir«, sagt Hiltrud Witte und steht auf. Sie führt die Freundin in das ehemalige Kinderzimmer ihrer Tochter. »Ein Prinzessinnenzimmer«, jubelt Frida Lehmann. »Wie schön.« Sie lässt sich auf das weiße, mit rosaroten Herzchen verzierte Bett fallen und ist augenblicklich eingeschlafen. Hiltrud Witte deckt ihre Freundin mit einer Wolldecke zu, schiebt ihr sacht ein Kissen unter den Kopf, streichelt über ihr Haar, bevor sie auf leisen Sohlen das Zimmer verlässt. Endlich wieder hat sie eine Freundin.
Frida Witte schläft unruhig. War da nicht ein Geräusch? Sie setzt sich im Bett auf, lauscht in den Flur.
»Der Wind«, beruhigt sie sich, legt sich wieder hin und kuschelt sich in ihr Daunenkopfkissen. Sie hört das Tapsen von nackten Füßen, unterdrückte Stimmen.
»Friedrich?«
Hiltrud Wittes Hand greift ins Leere. Ihr Ehemann liegt nicht in seinem Bett, stellt sie verwundert fest. Hiltrud Witte tastet nach dem Wecker. Drei Uhr morgens. Normalerweise schläft ihr Gatte so fest wie ein Stein. Hiltrud Witte steigt aus dem Bett, tastet sich an der Wand entlang in den Flur, sieht den Lichtstrahl unter der Badezimmertür, hört das Klatschen auf Haut, das verzweifelte Flehen von Frida Lehmann. »Lass mich los, Friedrich!«
Hiltrud Witte drückt den Türknauf nach unten, glaubt nicht, was sie da sieht. Die Hände von Frida Lehmann sind auf dem Rücken mit Klebeband fixiert. Friedrich Witte steht nackt hinter ihr, seine Bewegungen sind schnell wie Libellenflügel.
Hiltrud Witte greift nach dem 2-Liter-Kanister mit dem Fichtennadelschaumbad auf dem Badewannenrand, schlägt ihn über den Kopf ihres Ehemannes. Der überraschte Friedrich Witte lässt ab von seinem Opfer.
»Hiltrud, wo kommst du denn her?«
»Aus dem Bett, Friedrich«, sagt Hiltrud Witte und befreit Frida Lehmann von dem Klebeband. Frida Lehmann massiert ihre Hände. Dann schlägt sie Friedrich Witte ins Gesicht.
»Die Schlampe«, zischt Friedrich, »hat sich an mich herangemacht.« Er schubst seine Frau zur Seite, legt sich wieder ins Bett.
Hiltrud Witte weiß, dass der Zeitpunkt für eine Entscheidung gekommen ist. Jetzt. Genau in diesem Augenblick. Sie ruft ein Taxi für ihre Freundin. Nach deren Abfahrt schlüpft sie in ihren Jogging-Anzug, in die schwarzen Turnschuhe mit den drei weißen Streifen. Sie geht in den Keller, holt die Taschenlampe aus dem Werkzeugschrank und macht sich auf den Weg zu den Bienenstöcken. Sie stolpert die moosbedeckten ausgetretenen Steinstufen hoch, rutscht über Blätter. Nebel kriecht durch ihre Knochen. Sie drückt die Klinke der Holztür nach unten, stößt mit dem Fuß die sich sträubende Tür auf. Das alte Holz stöhnt gespenstisch durch die Stille der feuchten Nacht. Hiltrud Witte spürt die Spinnennetze in ihrem Gesicht, hustet, eine Maus huscht erschreckt vor ihr davon. Sie richtet die Taschenlampe nach links, auf das Regal, von dem sie weiß, dass hier die Versandtaschen mit den Bienen liegen. Sie selbst hatte sie am Morgen dort abgelegt, vergessen dann, wie so vieles in letzter Zeit. Sie nimmt eine der Versandtaschen an sich, steckt sie in die rechte Tasche ihrer Hose und begibt sich klopfenden Herzens auf den Rückweg zum Haus. Es herrscht Grabesstille, im Lichtkegel der Taschenlampe sieht sie den Walnussbaum. Er wirft gespenstische Schatten an die Hauswand.
Hiltrud Witte peilt schnurstracks die Küche an, schüttet ein Wasserglas mit Obstbrand in sich hinein, bevor sie das eheliche Schlafzimmer betritt. Sie atmet tief durch, bleibt vor dem Bett ihres Mannes stehen, sieht auf den Menschen herab, der mit weit geöffnetem Mund schläft und gurgelnde Geräusche von sich gibt. Sie wirft ihren Kopf in den Nacken. »Ich werde in Ruhe und Frieden sterben, Friedrich!«
Hiltrud Wittes zitternde Hand zieht vorsichtig die Versandtasche mit der summenden Post aus der Hosentasche, öffnet sie und befördert die aufgeregten Tierchen in den weit geöffneten Mund.