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HAMBURG

Tatort Hamburg

Der Badewannenkapitän

Ich rieche die Fauna Indiens. Jasmin, Lotus, Vanille und Rosenduft umhüllen meine Sinne. Ich bin in Ghazipur, unweit der heiligsten Stadt der Hindus. Die Welt wird zum Blütenmeer und ich, die Schönste aller Blumen, fange an zu tanzen, vergesse Zeit und Raum. Ich bin glücklich. So unwahrscheinlich glücklich! Ich schlinge die Arme um meinen Körper. »Er liebt mich!« Ich zünde auch Räucherkerzen im Badezimmer an, lasse Wasser in die Wanne laufen, erst heißes, dann kaltes. Danach gebe ich bedächtig ein paar Tropfen von dem Rosenöl ins Badewasser, welches Er mir am Vorabend geschenkt hatte. »He, du«, sage ich zu dem goldenen Engel, der mit einem durchsichtigen Klebestreifen auf der Geschenkverpackung von Douglas befestigt war. »Jetzt wird aber weggeschaut!«

Lächelnd lasse ich meine Seidenbluse auf den Fliesenboden fallen, quäle mich aus meiner hautengen Jeans, aus meinem BH, wende und drehe mich vor dem Spiegel. Ich kneife mit dem Zeigefinger und Daumen der rechten Hand in die Speckrolle an meinen

Hüften. »Scheiß Schokolade!«

Mein Blick fällt auf die Badewannenablage. »Du lachst mich doch nicht etwa aus, Engel?«

Ich rolle mein Spitzenhöschen bis zu den Knöcheln herunter, steige mit dem linken Fuß aus dem zarten Gebilde und schleudere es mit dem rechten Fuß hoch in die Luft. Volltreffer! Das Wäscheteil umhüllt den Engel wie eine Burka. »Jetzt siehst du nichts mehr, Himmelskind!«

Ich träufele ein paar Tropfen des kostbaren Badeöls auf meinen Handrücken, halte ihn unter die Nase und ziehe mit geschlossenen Augen den unglaublichen Duft von »Rose Noire’ in mich hinein. »Er liebt mich! Er liebt mich! Er liebt mich! Er, der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes. Liebt mich. Mich, Katharina Prüsse. Die kleine Tippse vom Personalservice Ehrentraut.

Düfte rufen Träume wach, manchmal recht viele. Er ist der Mann, auf den ich viele Jahre gewartet habe. Der Mann, der mir meine heimlichen Träume erfüllen kann. Der fehlende Deckel auf meinem Töpfchen. Er ist der Richtige. Endlich! Ich fühle es von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln. Meine Oma hatte recht: Gut Ding will Weile haben. Ich sinke bis zum Hals in das Wasser, seufze wohlig, streichle mit beiden Händen über meine Brüste, meinen Bauch, meine Oberschenkel, lächle. Dann befreie ich den Engel von meinem Höschen. »Ab jetzt wirst du hier auf der Badewannenablage sitzen. Und ab jetzt wirst du mein

Wächter und Glücksbringer sein, Angel!«

Ich fange zu singen an. »Irgendwo hinterm Regenbogen, ganz weit oben, da ist ein Land, von dem hab ich mal ein Gute-Nacht-Lied gehört. Weil, da droben, über dem Regenbogen, da ist der Himmel blau, und wenn du dich traust zu träumen, dann werden die Träume auch wahr.’

Rosenduft durchtränkt die Luft. Ich schwelge darin, meine Gedankengänge begeben sich auf Safari.

Ich will eine Hochzeit auf Hawaii. In Honolulu! Ich will in tiefblauem Meerwasser schwimmen, Seeschildkröten streicheln, an elfenbeinfarbenen Stränden paradiesische Sonnenuntergänge genießen, unter wiegenden Palmen liegen. Mit ihm. Ich lasse heißes Wasser zulaufen, träufele nochmals von dem Rose Noire Öl in die Wanne. »Ich werde ein Prinzessinnenkleid tragen, Angel. Ein Traum in Weiß. Mit einem herzförmigen Ausschnitt und einem weiten Rock aus Tüll, Hibiskusblüten im offenen Haar. An den Handgelenken. An den Füßen. Ich werde die Perlen tragen, die Mama von Papa zu ihrem Silberhochzeitstag geschenkt bekam.« Ich hebe meinen Kopf und schaue dem Engel ins Gesicht. »Du lachst mich schon wieder aus?«

Stolz werfe ich meinen Kopf in den Nacken. »Mein Kapitän wird einen Kranz mit geschlossenen Leiblüten um den Hals tragen, Angel. Ein weißes Hemd. Eine weiße Hose. Und ein Ukulelespieler wird für uns »Somewhere over the rainbow’ spielen.

Ich will Fusion Cuisine als Hochzeitsschmaus, will die Welt auf unseren Tellern sehen, will Mangos aus Thailand, Tonkabohnen aus Südamerika, roten Reis aus Indien, Mais aus Mexiko, Fisch aus Hamburg.

Wir werden mit Delfinen schwimmen, eine Ozeansafari und einen Schnorchel-Trip machen. Wir werden in sternenerfüllten Nächten in türkis, funkelndem Meerwasser schwimmen. Der erste Blick an jedem Morgen soll Er sein. Hans-Jürgen Witte, der Kreuzfahrtkapitän. Für immer!«

Das penetrante Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Träumen. Er vielleicht? Ich steige aus der Wanne, streife das ölige Wasser mit der flachen Hand von meinem Körper und laufe zur Mobil-Station in den Flur. Auf dem Display sehe ich seine Nummer. Mein Herz schlägt im dreiviertel Takt. »Ja?«, hauche ich in die Sprechmuschel, »Hier, Katharina Prüsse.«

»Yes, I do«, hauche ich ein halbes Jahr später auf einer Klippe auf Honolulu. Ich trage die wunderbare Schöpfung eines amerikanischen Modedesigners, ein Traum in Weiß. Der herzförmige Ausschnitt meines Kleides ist mit echt Brüsseler Spitze umsäumt, der Rock aus Tüll mit unzähligen Spitzenblüten verziert. Ich trage einen Kranz mit weißen Hibiskusblüten im offenen Haar, habe weiße Hibiskusblüten um meine Fußknöchel und meine Handgelenke geschlungen. Mit Stolz trage ich die Perlenkette meiner Mutter um den Hals, schwebe an der Hand meines Vaters auf einem Teppich aus roten, gelben, weißen und orangefarbenen Rosenblättern meinem Traummann entgegen. Er trägt einen Kranz mit geschlossenen Leis um den Hals, eine weiße Hose, ein weißes Hemd, weiße Schuhe. Ein Ukulelespieler spielt »Somewhere over the rainbow.’ Papa und Mama weinen.

Sternenerfüllte Nächte.

Und wenn ich aufwache, dann bin ich da, wo es keine Wolken mehr gibt. Er wünscht sich Kinder. Viele!

Manchmal gehen Träume in Erfüllung. Ich bin glücklich! So unwahrscheinlich glücklich.

Wir werden uns eine schicke Wohnung in Altona kaufen. Eine Penthouse-Wohnung mit Dachterrasse und Panorama-Elbblick. Leider ist das Geld meines Mannes momentan fest angelegt und so zieht er vorübergehend bei mir ein. In das alte, renovierungsbedürftige Haus in Bramfeld mit den vier Zimmern, das ich von meiner Großmutter Mia vererbt bekommen habe und in dem ich seit zwei Jahren wohne. Ich liebe dieses Häuschen meiner Kindheitserinnerungen, mit dem alten Baumbestand ringsum, dem Zaubergarten, in dem wunderbare Blüten aufgehen, die ich weder gesät noch eingepflanzt habe. Auf die Vielfalt meiner Rosen bin ich besonders stolz. Die hatte Großpapa Hein

für Oma Mia zu ihrem 60. Geburtstag gepflanzt.

Zum Renovieren des Hauses fehlte mir bislang leider das Geld. Als Tippse verdient man nicht so viel. Meine Eltern unterstützten mich mit Rat und Tat, Geld haben sie selber nicht viel. Papa musste aus gesundheitlichen Gründen Frührente beanspruchen, Mama war Hausfrau und bekommt gar keine Rente. Sie peppt das Haushaltsbudget auf, indem sie für die Nachbarschaft Näharbeiten übernimmt. Hier mal einen Reißverschluss ersetzen, da mal ein Hosenbein kürzen, Kleider enger oder weiter machen. Zudem bietet sie sich im Gruppenhaus Bramfeld als Leihoma an, wacht über diversen Babyschlaf, hilft bei Hausaufgaben, bastelt und singt mit den Kindern, auch im Spielhaus Farmsen. Sie kocht Marmeladen aus den Früchten aus meinem Garten: Johannisbeer-, Stachelbeer-, Brombeer-, Himbeer-, Erdbeermarmeladen. Die Marmeladengläser verziert sie liebevoll mit selbst genähten Bändchen, beschriftet Klebeetiketten mit den Zutaten sowie dem Abfülldatum ihrer Köstlichkeiten in Druckbuchstaben, mit königsblauer Tinte.

Je nach Saison bindet Mama Blumensträuße aus Margeriten, Wicken, Fäberdisteln, Lavendel, Sonnenblumen, Astern, Dahlien. Mama hat ein großes Talent dafür, Blumen zu binden. Ihre Sträuße sind begehrt, sie verkauft sie an die Nachbarschaft sowie auf dem Wochenmarkt in Bergedorf, am Marktstand einer Bekannten. Meine Mutter hegt einen großen Wunsch. Sie will endlich eine richtige Oma werden.

Er wäre sowieso die meiste Zeit nicht da, sagte mein zukünftiger Mann. Und, dass das Wohnen in Omas Häuschen ja nur eine Übergangslösung sei. Ein Wohnen auf Zeit. Und, dass er kein Geld in Renovierungsarbeiten stecken würde, wo wir doch ohnehin bald umziehen würden. Seine Möbel wird er deshalb schon gar nicht mitbringen, das sei unnötige Arbeit, meinte er und sie wären auch viel zu schade für das »Rummeleyhaus’. Er wird die guten Stücke im Lagerhaus Klook einlagern. Auch seine Akten, seine Bücher, sein Kanu, seine Surfbretter, sein Bootszubehör, seine Taucherausrüstung.

Ich stehe in der Waschküche und sortiere Wäsche, als es zum ersten Mal geschieht. Mir wird schwarz vor den Augen, ich schwitze, ich friere, ich schwitze. Kalte Schweißperlen benetzen meine Stirn. Mein Herz rast. Ich erschrecke, als ich mich im Spiegel sehe. Ich drehe den Wasserhahn auf, lasse kaltes Wasser über mein Gesicht laufen, benetze meinen Nacken, meine Oberarme und setze mich erst einmal hin. Der Spuk ist rasch vorbei und ich fange an zu bügeln. Heute ist mein freier Tag und sobald ich mit Hemden bügeln fertig bin, werde ich mich aufhübschen. Wir fahren nach Hamburg-Altona. Mama, Papa und ich. Papa hat heute Geburtstag und er hat seine Deerns zum Essen eingeladen. Es geht wie immer zu Kowalke. »Einmal im Jahr muss das sein«, sagt Papa. »Man(n) gönnt sich ja sonst nichts.«

Papa hat, wie jedes Jahr an seinem Geburtstag, einen Tisch für drei Personen auf der herrlichen Balkonterrasse reservieren lassen. Und wie jedes Jahr bestellen wir Kowalkes Überraschungsmenü. Als der Kellner das gedünstete Lachsfilet vor mich hinstellt, passiert es zum zweiten Mal an diesem Tag. Mir wird schwarz vor den Augen, ich schwitze, ich friere, ich schwitze. Kalte Schweißperlen benetzen meine Stirn. Mein Herz rast. Ich würge, halte die rechte Hand vor meinen Mund und renne wie von Furien gehetzt zur Toilette, schaffe es gerade noch, nicht vor die Tür zu spucken.

Ich halte beide Hände unter den Wasserhahn, klatsche mir das kalte Wasser ins Gesicht, benetze meinen Nacken und lasse einen Strahl kalten Wassers über meine Unterarme laufen. Meine Lebensgeister kommen rasch wieder und ich gehe zu unserem Tisch zurück. Mama sieht mich besorgt an. »Alles in Ordnung, Kleines?«

»Alles in Ordnung«, murmele ich und schaufele das Erbsenpüree in mich hinein. Dann den Lachs. Danach die rote Grütze mit Rahm-Eis und Himbeergeist-Vanilleschaum.

»Heute ist Schiffeguckenwetter«, sagt Papa beim Verlassen des Fischereihafenrestaurants. »Die Queen Victoria ist gerade in unserem Hafen zu Besuch«, sagt er.

»Und heute sind so viele Schiffsanläufe wie noch nie. Was haltet ihr davon, wenn wir eine Hafenrundfahrt machen, min Deerns?«

Papa hat ein Faible für Luxusschiffe. Gerne würde er seinen Schwiegersohn auf einer seiner Seefahrten begleiten, aber mein Mann möchte seine Familie und seine Arbeit voneinander getrennt halten, gibt noch nicht einmal den Namen des Schiffes preis, auf dem Kapitän ist.

Wir machen eine Rundfahrt bei Barkassen-Meyer, genießen die einzigartige Atmosphäre des Welthafens Hamburg, sind wie immer sehr beeindruckt von der Hamburger Skyline. Mit leuchtenden Augen sieht Papa auf die großen Pötte in den Hafenbecken, zeigt grinsend auf den Mann in Uniform. Der Kapitän hält eine junge Frau im Arm, seine Hände streifen spielerisch ihren Po rauf und runter. »Unruhige Hände hat er, der Herr Barkassenkapitän«, flachst Papa.

»Guten Tag, meine Damen und Herren«, dröhnt die Stimme aus dem Mikrophon. »Mein Name ist HansJürgen Witte, Ihr Kapitän. Wir werden heute den Kampf mit Wind und Wetter aufnehmen.«

Er sieht die Frau an seiner Seite an, lacht heiser. »Keine andere Stadt in Europa hat mehr Brücken als Hamburg. Noch nicht einmal Venedig …«

Das war der Tag, an dem meine heile Welt zerbrach.

Ich werde dick und dicker. Wieder einmal stehe ich in der Waschküche und sortiere Wäsche. Und wieder einmal bemerke ich die weißen Streifen in der schwarzen Unterhose meines Mannes. Das Gebimmel des Telefons reißt mich aus meinen Gedanken. »Geht es dir gut, Prinzessin?«, fragt Mama.

»Ja«, hauche ich in den Hörer. »Das glaube ich dir jetzt aber nicht«, sagt Mama. Und, dass sie Plundergebäck gebacken habe, und dass sie mit Opa zum Kaffee trinken vorbeikommen würde. Seit Mama von meiner Schwangerschaft weiß, nennt sie meinen Papa Opa. Und mein Vater ist glücklich darüber. Sehr glücklich sogar. Er bringt gerade meine Kinderwiege auf Hochglanz, zimmert Nistkästchen für meinen Garten. »Damit die Lütte was zu gucken hat.«

Mama strickt wie verrückt: Söckchen, Mützen, Schals, Handschuhe, in allen möglichen Farben, näht Jäckchen, Schühchen, Hemdchen, Mäntelchen, Hütchen mit Krempe und ohne Krempe. Und eines Tages schieben Mama und Papa gemeinsam den sündhaft teuren Traumkinderwagen, den wir beim Stadtbummel in Hamburg angeguckt hatten, den Gartenweg entlang. Die Abendsonne verfängt sich in den strahlenden Gesichtern der Alten. »Ihr seid verrückt«, sage ich.

»Es ist ja unser erstes Enkelkind«, sagen Mama und Papa zur gleichen Zeit.

»Hättet ihr das Geld nicht besser anlegen können?«, knurrte Hans-Jürgen. Er ist arbeitslos, hat in angetrunkenem Zustand die Barkasse gegen die Wand einer

Schleuse gefahren. Es wird ein Strafverfahren geben. Er habe die Hochseefahrt nur wegen mir aufgegeben, hatte Hans-Jürgen mir erklärt. Er wollte in meiner Nähe sein, bei unserem Kind. Es sollte eine Überraschung werden. An Opas Geburtstag hätte er es uns sagen wollen. Und ich soll ihm doch noch eine Chance geben.

Ich halte meinen Sohn in meinen Armen, drücke ihn zärtlich an meine Brust, streichle über den gold schimmernden Haarflaum, schaue verzückt in seine babyblauen Augen. Ich bin Mama, welch ein Wunder! Mama und Papa stehen vor meinem Bett, halten sich an den Händen und weinen. »Das ist der schönste Tag in meinem Leben«, sagt Mama. Papa nickt mit dem Kopf, zieht sein weißes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzt sich. Dann zupft er verlegen an dem Rosenstrauß herum, den er mir mitgebracht hat. Die tiefdunklen bordeauxfarbenen Blütenblätter verströmen einen einzigartigen Duft. »Rose Noire«, sagt Papa.

Hans-Jürgen hat mich nicht im Krankenhaus besucht, seinen Sohn nicht auf der Welt willkommen geheißen. Er würde ihn von nun an oft genug sehen, hatte er am Telefon gelallt und gelacht. Ich habe wortlos den Hörer auf die Gabel gelegt. Hans-Jürgen hat sich danach nicht mehr bei mir gemeldet. Papa und Mama waren es dann, die mich mit meinem Baby von der Klinik abgeholt haben. Schon von weitem leuchtete mir der weiße Storch aus meinem Vorgarten entgegen. Er trug ein Päckchen in seinem tomatenroten Schnabel. An der Haustür hing eine bunte Buchstabengirlande

C H R I S T I A N -

Mama hatte das Essen schon vorbereitet, hatte Krabbensuppe als Vorspeise gekocht. Danach gab es Matjes in einer leichten Joghurt-Sahne-Sauce mit Äpfeln und Zwiebeln, begleitet von knusprigen Bratkartoffeln. Und als Nachtisch Franzbrötchen. Und dann klingelte das Telefon und eine Frauenstimme fragte mich nach Hans-Jürgen und ob ich seine Schwester sei.

Er will wegkommen vom Alkohol, hat Hans-Jürgen mir unter Tränen versichert. Er wird sich im Albertinen-Krankenhaus behandeln lassen. Und ich solle ihm doch bitte noch eine zweite Chance geben.

10 Jahre später

Schlaflos wälze ich mich von einer Seite auf die andere, schaue auf den Wecker auf meinem Nachttisch. Drei Uhr morgens. Und er ist immer noch nicht zu Hause. Schon zum zweiten Mal nicht in dieser Woche. Er will sich mit seinen Kumpels treffen, hat er beim Frühstück gesagt. Und, dass ihm in unserer Wohnung die Decke auf den Kopf fallen würde. Und, dass es vielleicht etwas später werden würde. Und, dass ja einer von uns beiden bei den Kindern bleiben müsse. Wir wohnen immer noch in meinem alten Haus in Bramfeld. Und es ist immer noch nicht renoviert. Mit den Aktien und dem Geld meines Mannes lief irgendetwas schief, ich weiß nicht was, er hat nie mit mir darüber geredet. Auch waren seine Möbel, Aktien, Bücher, Surfbretter, das Bootszubehör und die Tauchausrüstung auf mysteriöse Weise aus dem Lagerhaus Klook verschwunden.

Paulinchen keucht schon wieder. Seufzend hole ich das Asthmaspray aus meiner Nachttischschublade, taste mich im Dunklen über den Flur in das Kinderzimmer, will unseren Großen nicht aufwecken. Christian braucht seinen Schlaf, er hat eine Mathearbeit vor sich. Und er kommt mit dem Zahlenstrahl und den Tabellen ohnehin nicht zurecht. Von den Drittklässlern wird einiges gefordert, gibt mein Mann zu, aber gelernt hat er mit unserem Crissi noch nie. Das sei meine Aufgabe, meint er, deshalb sei ich ja auch zuhause. Dasselbe gilt für die Hausund Gartenarbeiten. Hans-Jürgen arbeitet momentan in Altona als Fischverkäufer.

Einmal im Monat fahre ich mit der S-Bahn in die Hamburger Innenstadt, treffe mich mit meiner ehemaligen Arbeitskollegin Nele im Cafè Paris in der Nähe des Rathauses zum Frühstücken, Klönen und zum Leute gucken. Mama versorgt in dieser Zeit meine Lieben. Und immer steckt sie mir beim Abschied einen

Geldschein zu. »Kauf dir etwas Schönes, min Deern.« Das Cafè ist sehr teuer, das Frühstück aber eine Wucht. Wir haben die Welt auf unseren Tellern: französisch, italienisch, marokkanisch, englisch, hamburgisch. Nele bestellt immer das große Frühstück für zwei Personen. Und sie lädt mich immer dazu ein. »Du wirst dich irgendwann einmal bei mir dafür revanchieren«, grinst sie. »Du wirst schon sehen, Katharina.«

Ich tunke meinen tellergroßen Pfannkuchen in den Ahornsirup und schließe genießerisch die Augen. »So schön fluffig kriege ich das nicht hin«, sage ich. Nele, die Frohnatur, lacht. Die Treffs mit ihr tun mir gut. Sie sind so ziemlich die einzige Abwechslung, die ich in meinem Hausfrauendasein habe.

Ich habe zur Aufbesserung meiner schmalen Haushaltskasse die Schneiderarbeiten meiner verstorbenen Mutter übernommen, binde Blumensträuße für meinen Marktstand am Wochenmarkt, koche Marmelade aus den Früchten meines Gartens: Johannisbeer-, Stachelbeer-, Brombeer-, Himbeerund Erdbeermarmeladen, fülle sie in Gläser ab und verziere sie mit selbst geschneiderten Bändchen, klebe Etiketten mit den Zutaten sowie dem Abfülldatum auf in Druckbuchstaben geschrieben, mit königsblauer Tinte. So schön wie Mama das hingekriegt hatte, kriege ich es aber nicht hin. Ab und an tippe ich in Home-Office-Arbeit für meinen ehemaligen Arbeitgeber. Mit einem kranken

Kind kann man nicht regelmäßig arbeiten gehen, was ich trotz aller Liebe zu meinem Kathrinchen und zu meinem Christian zutiefst bedaure. Ich werde das Schicksal meiner Mutter erleiden, kaum Rente bekommen.

Ich bringe mich im Gruppenhaus Bramfeld mit seinem Projekt Familienfrühstück ein, belege jeden zweiten Sonntag Brötchen, koche Kaffee, Tee und heiße Schokolade. Ehrenamtlich. Sie haben kein Geld mehr für Personal, auch nicht für die anstehenden Renovierungsarbeiten. Das Gruppenhaus soll nach Farmsen umziehen und dort seine Arbeit fortsetzen.

»Die Politiker machen mit einem doch, was sie wollen«, sagt Nele, meine beste Freundin, die mittlerweile Karriere gemacht hat. Endlich kann ich mich bei ihr revanchieren. Ich halte ihre Business-Kleidung in Ordnung, wasche und bügle für sie.

Wieder einmal wälze ich mich schlaflos im Bett, drehe mich von einer Seite auf die andere, schaue auf den Wecker auf meinem Nachttisch. Drei Uhr morgens und der Platz neben mir ist immer noch leer. Seufzend stehe ich auf, gehe in die Küche und koche Kaffee. Ein Blick aus dem Fenster, sternenklare Nacht, kein Wölkchen ist zu sehen. Ich bin allein im Haus. Pauline lebt seit ein paar Monaten in Amerika, Christian studiert in Berlin. Irgendwie hat es meine Mutter geschafft, ihren Enkelkindern ein Sparbuch für die Ausbildung anzulegen.

Mit der Kaffeetasse in der Hand wandere ich durch die leeren Kinderzimmer, streichle über staubige Bücher, vereinsamte Kuscheltiere, blättere schwermütig in Alben. Ich friere, schwitze, friere, bin unruhig, beschließe ein Bad zu nehmen. Ich gehe ins Badezimmer, lasse Wasser in die Badewanne ein und zünde Räucherkerzen an.

Ich rieche die Fauna Indiens. Jasmin, Lotus, Vanille und Rosenduft umhüllen meine Sinne. Schwer ist das Leben für einen, der mit zu viel Träumen angetreten ist. Ich bin traurig, unendlich traurig. Wer kann da noch Blume sein?

»He, du«, sage ich zu dem goldenen Engel auf der Badewannenablage. »Du hast nicht gut auf mich aufgepasst!«

Ich ziehe mich aus, lasse meine Kleider auf den Boden fallen, schlinge die Arme um meinen abgemagerten Körper und schluchze wie ein Kleinkind. Dann ziehe ich meinen Bademantel über, gehe in die Küche, hole meine Geflügelschere aus der Besteckschublade, laufe in den Garten und schneide Rosen. Viele. Einen ganzen Arm voll. Ich lege das Rosenbündel auf der Arbeitsplatte in der Küche ab, entferne die Blütenköpfe, entsorge die Stängel. Dann zupfe ich Rosenblatt für Rosenblatt in meine schönste Schale aus Oma Mias Bleikristallsammlung. Ich werde heute in Rosenblättern baden!

Ich stelle das Gefäß mit den duftenden Blättern am Waschbecken ab, verteile meine letzten Teelichter um den Badewannenrand, zünde sie an und lege meine Lieblings-CD in den Player. »Irgendwo hinterm Regenbogen, ganz weit oben, da ist ein Land, von dem hab ich mal ein Gute-Nacht-Lied gehört.’

Ich höre eine Autotür zuschlagen, eine Amsel rufen, den durchdringenden Schrei unseres Hahnes, das wütende Kläffen von Pluto, dem Nachbarhund, das Knallen der Haustür, das Knarren unserer abgetretenen Holzstufen. Dann geht mit einem Ruck die Badezimmertür auf, mein Mann steht im Türrahmen.

»Du bist noch wach?«, fragt er.

Ich sehe ihm in die rotumränderten Augen, gebe keine Antwort auf seine Frage.

»Um diese Uhrzeit, Katharina?« Ich antworte wiederum nicht.

Seine hungrigen Augen kleben an mir fest. »Ziemlich schwül hier«, sagt er und schaltet den Ventilator ein. Dann reißt er sich die Kleider vom Leib, steigt zu mir in die Wanne. Er riecht nach Hochprozentigem, nach Moschus, nach weiß ich auch nicht, was. Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, sein Zauberstab zeigt anklagend in meine Richtung. »Wo warst du?«, frage ich ihn. Er antwortet mir nicht, sieht mich provokant an und lässt seine Zehen um meinen Bauchnabel kreisen, spielt mit meinen Schamhaaren.

»Lass das«, sage ich.

»Hab dich nicht so«, sagt er. Sein Blut wallt. Und er fordert Liebe ein. Ich versuche, ihn von mir wegzudrücken, stemme beide Hände gegen seine Brust. Er lacht mich aus, drückt mit Zeigefinger und Daumen meinen Mund zu einer Schnute und küsst mich mit Gewalt. Seine Zunge füllt meinen Mund. Ich ringe nach Luft. Er stinkt aus dem Mund wie eine tote Ratte.

»Ich muss aufs Klo«, japse ich, als er eine Verschnaufpause einlegt. »Lass laufen«, sagt er, und versucht in mich einzudringen. Ich zapple wie ein Fisch an der Angel. Er verfehlt sein Ziel und wird wütend.

»Halt still. Halt verdammt noch Mal still, Weib!«

»Ich muss aufs Klo, Hans-Jürgen. Ein großes Geschäft, Hans-Jürgen.«

Er lässt von mir ab, schlägt mir auf den Oberschenkel.

»Beeil dich aber!«

Mit einem Satz bin ich aus der Wanne, schnappe den Ventilator, werfe ihn in das Wasser, stecke blitzschnell den Fön in das Verlängerungskabel, schalte ihn auf höchste Leistungsstufe und werfe ihn hinterher.

Ich bin überrascht, dass er so schnell tot ist. Ich streue die Rosenblätter aus unserem Vorgarten über seine verkrampfte Leiche: rote, gelbe, weiße und orangefarbene Blätter schwimmen in dem mit bräunlichem Schaum überzogenen Badewasser, bedecken seine Arme, seinen Bauch, sein Gesicht, kleben in seinen

Haaren.

Ich lege ihm seine Hochzeitskette um den Hals, werfe das weiße Hemd, die weiße Hose und die weißen Schuhe in die Wanne. Dann greife ich mit beiden Händen zwischen seine Beine und quetsche mit voller Kraft seine Hoden. »Aloha, mein Badewannenkapitän!«

Schweiß rinnt über meinen nackten Körper, die drückend heiße Luft nimmt mir den Atem und ich reiße das Badezimmerfenster auf. »Guten Morgen«, sagt die Nachbarin, mit der er auch schon gevögelt hat. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Frau Witte?«

»Ich fliege mit den Blaumeisen hinter den Regenbogen«, sage ich und klatsche das Fenster zu. Dann fege ich den Engel mit der flachen Hand von der Badewannenablage, lege die CD mit dem Soundtrack von »Spiel mir das Lied vom Tod’ in den Player und fange an zu tanzen. Ich tanze und ich tanze und ich tanze, bis ich von der Polizei abgeführt werde.

Tatort Deutschland

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