Читать книгу Vorsicht! Mann in Wechseljahren - Gisela Sachs - Страница 6

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1. Kapitel

Er pinkelt jetzt im Sitzen, seine Männlichkeit braucht es nicht mehr, dass er steht. Die Prostata hat es geschafft, um was ich vierzig Jahre lang erfolglos gerungen habe. Er setzt sich jetzt zum Pinkeln nicht deshalb nieder, weil er nicht mehr so treffsicher wie früher ist (und in Wirklichkeit war er es nie), sondern weil ihm die Füße schmerzen, wenn er so lange auf einem Fleck verharren muss und es nur noch tröpfchenweise kommt. Gut Ding will eben Weile haben …

Er ist mit den Jahren sehr ordentlich, sehr fleißig und sehr fürsorglich geworden. Etwas spät, wie ich meine, unsere drei erwachsenen Kinder können damit ebenso wenig umgehen wie ich. Ich mache mich zum Ausgehen bereit, hole meine Schuhe aus dem Schrank im Flur, gehe noch schnell auf die Toilette, komme noch schneller wieder zurück und die Schuhe befinden sich schon wieder im Schuhschrank. Früher stolperten wir täglich über seine Sportlatschen, die er überall, nur nicht im Schuhschrank, abstellte. Mein Schlüsselbund, den ich vor ein paar Minuten auf dem Küchentisch abgelegt habe, hängt schon wieder ordnungsgemäß am Schlüsselhaken neben der Haustür, bemerke ich, als ich aus der Toilette komme. Meine Handtasche liegt geöffnet auf dem Wohnzimmertisch.

Er hat eine kleine Flasche mit Apfelsaftschorle und eine Banane in meine Handtasche gepackt, dafür aber meine Schminkutensilien herausgenommen. »Das Zeug brauchst du sowieso nicht«, bestimmt mein Mann. »Aber wenn du in den Unterzucker kommst, Frau …«

Ich seufze, schweige und verlasse das Haus, begebe mich missmutig Richtung Autoabstellplatz. »Viel Unkraut heuer«, sage ich zur Nachbarin, die in ihrem Vorgarten arbeitet. Sie nickt.

»Viel Unkraut«, wiederholt sie und zupft beharrlich weiter.

Er beobachtet uns argwöhnisch vom Küchenfenster aus, Sekunden später geht die Haustür auf, Winfried bleibt an der obersten Treppenstufe stehen und brüllt: »Hast du auch alles, Margit? Geldbeutel, Adressbuch, Slipeinlagen?«

Die Nachbarin lässt vor Schreck den Löwenzahn aus ihren Händen fallen. »Wie mein Walter«, nuschelt sie vor sich hin. Wenigstens hat er mich dieses Mal beim Namen genannt, denke ich, während ich genervt die Autotür aufschließe. Nun aber nichts wie weg von hier!

Er steht plötzlich hinter mir und japst. »Du hast deinen Schal vergessen, Frau. Wenn du mich nicht hättest, dann wärst du aber ganz schön aufgeschmissen, was?!«

»Ich brauche keinen Schal, Winfried!«

Er sieht zum Himmel hoch und verdreht die Augen. »Das Wetter schlägt um, es wird kalt.«

Ich nehme den Schal, den mir meine Schwiegermutter vor ein paar Jahrzehnten gestrickt hatte und lege ihn auf den Beifahrersitz. Das graue kratzende Wolleteil konnte ich noch nie leiden. Winfried schüttelt missbilligend seinen Kopf, hechtet um das Auto, reißt mit einem Ruck die Beifahrertür auf, beugt sich, soweit sein Bauch das zulässt, zu mir herüber und legt den Schal um meine Schultern. »So, Frau. Und fahr mir bloß keine Delle in mein Auto!«

Alle Kräfte fallen nach unten, sofern sie nicht durch andere Kräfte gehindert werden. Die andere Kraft ist der Beifahrersitz. Es dauert ein Weilchen, bis er sich aus dem Auto gehievt hat. Bevor er die Tür endgültig schließt, sieht er mich mahnend an.

»Den Saft aber nicht im Auto trinken, Frau. Wenn du den verschüttest, ist das katastrophal, der klebt auf den Matten wie Sekundenkleber.«

Er kaut auf seinen Lippen. »Und vergiss um des Himmels Willen nicht, die Bananenschale wegzuwerfen, Frau, den Geruch kriegen wir sonst nie wieder aus dem Auto raus!«

Er sieht mich Unheil verheißend an. »Was glaubst du, wie so eine Schale nach ein paar Tagen stinkt. Die stinkt zum Himmel, sag ich dir, das kannst du dir gar nicht vorstellen, Frau. Die riecht wie ‚Dope’!«

Er hält mir seinen hektisch wackelnden Zeigefinger vor die Nase. »Und wenn du da in eine Polizeikontrolle gerätst, Frau …«

Ich verdrehe die Augen, sehe zur Nachbarin rüber und seufze.

»Du glaubst mir das nicht, Margitchen? Da bist du der Arsch, das kann ich dir aber sagen.«

Er nickt mit dem Kopf wie die Krippenfigur in unserer Kirche, nachdem sie ein Geldstück geschluckt hat.

»Die bringen dich glatt als Dealer in den Knast. Wenn du Glück hast, nur als Dealer, Frau. Wenn die aber Verwesung riechen und nach einer Leiche suchen …«

»Ich esse die Banane nicht im Auto, Winfried.«

»Wo denn dann, Frau?«, fragt mein Mann verblüfft.

»Ich gehe heute essen, das habe ich dir doch erzählt.«

»Du gehst essen?«

»Du hast mir wieder einmal nicht zugehört, Winfried.«

»Mit wem denn, Frau?«

»Mit ein paar Freundinnen aus der Bauchtanzgruppe.« Mein Mann schlägt sich mit der flachen Hand auf die Stirn.

»Du triffst dich schon wieder mit diesen aufmüpfigen Weibern?«

Er bläst sich auf wie ein Kugelfisch. »Es wird noch schlimm mit dir enden, Frau!«

Ich drehe den Zündschlüssel nach rechts. »Ich fahr dann mal.« Er hat seinen Fuß zwischen die Tür gestellt, sieht auf seine

Armbanduhr. »Zwei Stunden?«

»Was meinst du mit zwei Stunden, Winfried?«

»In zwei Stunden bist du doch sicherlich wieder zurück, Frau?«

»Nein, das werde ich nicht, Winfried. Ich mache mir heute einen schönen Tag. Ohne dich als Spaßbremse! Und nenn mich, verdammt noch mal, nicht immer Frau. Ich habe einen Namen, Winfried!«

Der Kugelfisch zeigt sein Maul. »Du solltest dir ein Hobby zulegen, Freunde suchen vielleicht. Dann kann ich auch einmal Luft schöpfen.«

Er kneift die Augen zusammen. »Du hast geflucht, Frau«, stellt er erschüttert fest. Seine Stimme wird laut. »Das ist der Einfluss dieser karrieristischen, egomanischen Weiber!«

»Ich habe nicht geflucht, Winfried.«

»Verdammt noch mal, ist geflucht, Frau.«

Seine Stimme wird hoch, die Wörter ziehen sich in die Breite. Das bedeutet Alarmstufe 1.

»Ein Hobby soll ich mir zulegen? Was ist das denn für eine lächerliche Idee, Frau? Die kommt doch bestimmt auch von deinen rebellischen, narzisstischen, sexistischen Hüftschwingerinnen. Die sollen lieber daheim bleiben und kochen und putzen, wie sich das für eine anständige Frau gehört, statt sich ein flottes Leben zu machen!«

Der Kugelfisch japst nach Luft. »Und das auf Kosten ihrer Männer. Was essen die jetzt heute Mittag, kannst du mir das einmal erzählen, Frau?«

»Du bezeichnest uns als sexistische Hüftschwingerinnen, Winfried? Das ist ja die Oberhärte. Du weißt genau, dass wir den orientalischen Tanz in der Geburtsvorbereitung gelernt haben. Wir haben noch nie vor einem Mann getanzt, auch das weißt du ganz genau, Winfried. Es ist ein Tanz von Frauen für Frauen! Aber das kann ich ja ebenso unserer Schrankwand oder dem Kühlschrank erzählen, du hörst mir ja ohnehin nie zu.«

Reuevoll über seinen Anfall zieht er mich an sich. »Du bist doch mein Hobby, Frau!«

»Da hast du aber etwas gründlich missverstanden, Winfried.«

»Aber du bist doch meine Frau und …«

»Aber nicht dein Unterhaltungsclown. Für deine Unterhaltung musst du schon selbst sorgen, Winfried!«

Er schluckt. »Ich rufe dich auf dem Handy an, Frau.«

»Es ist in meiner Kosmetiktasche. Und die hast du aus meiner Handtasche entfernt, Winfried.«

Er grapscht nach meiner Tasche auf dem Rücksitz, zieht den Reißverschluss mit einem Ratsch auf und nimmt die Banane und die Flasche mit der Apfelsaftschorle heraus. »Ich hole deinen Kosmetikbeutel, Frau«, sagt er, sprintet davon und verschwindet im Haus. Ich drücke das Gaspedal durch und fahre mit quietschenden Reifen aus unserer Straße. Unter was ich sein Verhalten einordnen muss, weiß ich nicht. Auf alle Fälle werde ich demnächst mit unserem Hausarzt darüber sprechen. Wehret den Anfängen, steht in der Bibel und das nehme ich mir zu Herzen.

Er kontrolliert seit Neuestem sogar den Mülleimer. Die städtische Müllabfuhr versieht ihren Dienst bei uns vierzehntägig. Dienstags! Ich stelle jeden zweiten Montagabend unseren Mülleimer an den Straßenrand, direkt neben den Eimer unserer Nachbarn. Mein Mann sieht regelmäßig nach, ob unser Eimer auch richtig steht. Lange und mit ernster Miene steht er jeden zweiten Montagabend vor dem städtischen Behälter, schüttelt jeden zweiten Montagabend missbilligend seinen Kopf, kratzt seine Stirn, fährt sich mit gespreizten Fingern durch die Haare und meckert.

»Was sind die Meiers doch für ein schlampiges Volk, Frau. Die waschen ihren Kübel weder ab noch aus, da hängt der Staub der letzten 14 Tage drauf, siehst du das, Frau?«

Er hält seinen schwarzen Zeigefinger in die Luft wie eine Trophäe, deutet auf die Streifspuren auf Meiers Mülleimer. »Und solche Schlampermeiers habe ausgerechnet ich in der Nachbarschaft«, keift er. »Womit habe ich das bloß verdient?«

Ich gehe schweigend ins Haus zurück, spähe aus dem Küchenfenster und hoffe, dass niemand in der Nachbarschaft dasselbe tut.

Er kämpft wie ein Torero, dreht den Mülleimer nach rechts, begutachtet ihn argwöhnisch von der Seite, läuft nach links, begutachtet die andere Seite, schüttelt seinen Kopf, überlegt, dreht dann den Eimer weiter nach rechts, steht wieder lange Zeit davor, zieht ruckartig sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, wischt über den Eimerdeckel, dreht den Eimer wieder nach links.

Er spitzt die Lippen, streicht sich mit gespreizten Fingern durch die Haare, runzelt die Stirn und kneift die Augen zu Schlitzen, läuft noch einmal um den Eimer herum. Dieses Mal langsamer. Dann zerrt er ihn mit viel Gestöhne bis zur Straßenmitte, um ihn zwei Minuten später wild entschlossen wieder zurückzustellen. Er wischt nochmals mit dem Taschentuch über den Deckel. »So, jetzt hammer’s!«

Sieg des Kämpfers. Zufriedenheit spiegelt sich in den Gesichtszügen meines Angetrauten, die nach dem Anzünden einer Zigarette noch eine Steigerung erfahren. Er setzt sich auf die oberste Stufe am Hauseingang und lauscht glücklich dem Vogelgezwitscher, das aus Nachbars Walnussbaum erschallt. Sein liebevoller Blick gilt unserem Mülleimer, der staubfrei in der Abendsonne glänzt und in derselben Position am Straßenrand steht, wie ich ihn seit vierzig Jahren schon hinstelle.

Er isst zu viel Fettiges, zu viel Schokolade, trinkt zu viel Cola und Säfte und hat längst schon das Schlachtgewicht eines Schweines überschritten. Er freut sich immer riesig, wenn er irgendwo auf einen Typen trifft, dessen Bauchumfang auch nur um einen Millimeter größer ist als der seinige. Diesen Menschen zeigt er mir dann mit grenzenloser Begeisterung. »Schau dir mal den Fettsack an, Frau, der hat einen Ranzen, was, Frau? Was sagt man denn dazu?«

»Ich heiße Margit«, sage ich leise.

Er strahlt mich an, fuchtelt aufgeregt mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum. »Gegen den bin ich ein Hungertuch, das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, Frau!«

Ich würde gerne etwas dazu sagen, schweige aber, will keine Wiederholung der Schilderung meiner unförmigen Oberschenkel riskieren. Das muss ich nicht schon wieder haben. Außerdem haben wir in diesem Supermarkt schon des Öfteren für Aufsehen gesorgt.

Er streichelt über meinen Oberarm. »Weißt du eigentlich, wie gut du mit mir dran bist, Frau?!«

»Ich heiße Margit«, sage ich laut. Die Verkäuferin, die gerade die Eier auffüllt, dreht sich erschrocken zu uns um. Winfried schüttelt seinen Kopf. »Du meine Güte, Frau, was bist du doch wieder zickig heute.«

Meinem Gatten gehen die Haare aus. Für den Restbestand derselben gibt er viel Geld aus. Sein Fach im Badezimmerschrank ist wesentlich voller als meines. Es beherbergt viele Arten von Haarfestiger, Haarschaum, Haarspray, Frisiercreme, Shampoons gegen Schuppen, gegen trockene, widerspenstige, für gefärbte und sonst noch was für Haare. Der Markt ist vielseitig und er nimmt dankbar die Sonderangebote der Drogeriemärkte im Umkreis von 20 Kilometern an. Wie die spärlich verbliebenen Haare auf seinem Kopf so widerspenstig sein können, ist mir allerdings ein Rätsel. Ich schweige nur wegen der zu erwartenden Schilderung meiner unförmigen Oberschenkel, verschweige auch mein Wissen über seinen weiteren Kosmetikavorrat in dem abgeschlossenen Metallkoffer unter dem Ehebett.

Er ist vergesslich und hat die Geheimzahl(unser Hochzeitsdatum) im PC abgespeichert, scheint inkontinent zu sein und künstliche Zähne zu tragen. Tabs zur Gebissreinigung und Einlagen für den Mann sind im Seitenfach des Koffers deponiert. In einem Briefumschlag schlummert zwischen den Kontoauszügen eine blaue Pille namens Viagra. Letzte Woche waren es noch zwei, wundere ich mich.

Er ist meist müde, rasch erschöpft, immer hungrig und immer schlecht gelaunt. Heute macht er den Regen für seine fiese Laune verantwortlich. Seine Stimmungsschwankungen sind enorm. Ich bin frustriert, als er mich im Badezimmer anraunzt, weil die Klopapierrolle leer ist.

»Die Frauen heutzutage …«

Dieses Mal schaffe ich es nicht, meinen Mund zu halten. Ich baue mich kerzengerade vor ihm auf, sehe ihm kontinuierlich in die Augen, ziehe hörbar die Luft durch meine Nase, lasse sie mit einem tiefen Seufzer wieder aus, ziehe die linke Augenbraue nach oben und sage in dem spöttischsten Ton, den ich draufhabe:

»Vorsicht! Mann in den Wechseljahren.«

Mit dieser Aussage habe ich nicht nur mein Schokoladecroissant, das er mir jeden Samstagmorgen vom Bäcker mitbringt, aufs Spiel gesetzt, sondern mir eine unglaubliche Schilderung meiner Oberschenkel eingehandelt. 20 Minuten lang! Ich bin beleidigt und rede vorerst kein Sterbenswörtchen mehr mit ihm, starte ganz konsequent eine Diät und er kriegt auch nichts gekocht. Ich schließe unsere Küche ab und stelle eine Schale mit Obst ins Wohnzimmer. Die Schokolade aus seinem Versteck im Dielenschrank verschenke ich an die Nachbarskinder. Sein Gehirn scheint ohne diese glücksbringenden Botenstoffe noch schlechter zurechtzukommen. Ertraget einander in Liebe und Geduld, hatte der Herr Pfarrer vor vierzig Jahren bei unserer Trauung verkündet. Ich weiß jetzt, was er damit gemeint hatte.

Schlafen können wir beide nicht, zudem fehlt mir mein abendlicher Schlummertrunk und ich überlege lange, was wir früher so in unseren schlaflosen Nächten gemacht haben. Irgendwas war da doch noch? Der Einschlaftrick mit dem Schafe zählen, fällt mir ein. Ich fange also an, Schäfchen zu zählen, zähle Schäfchen wie verrückt, sehe aber nur Schokoladecroissant fressende und Rotwein saufende Schafe vor mir. Ich quäle mich aus dem Bett, öffne das Schlafzimmerfenster, lasse die klare Nachtluft ins Zimmer strömen, kuschele mich wieder in meine Daunen und bin bald darauf im Land der Träume angelangt.

Ich träume von einer knusprigen Kalbshaxe und einem großen Knödel mit dunkelbrauner Soße darüber, ein helles Hefeweißbier dazu. Von einem Süppchen vorneweg – einem Festtagssüppchen aus Rinderbrühe mit Eierstich, Markklößchen, Suppennudeln und frischem Schnittlauch drüber. Ich seufze genüsslich bei dieser Vorstellung. Mein Mann drückt sich eng an mich, umklammert meine Hüften, streichelt meine Oberschenkel, sabbert in mein Ohr. »Da ist wenigstens etwas dran, Frau.«

»Lass das, Winfried«, knurre ich, wische mit dem Handrücken über mein Gesicht, befreie mich von seinen klammernden Händen, rutsche an den Bettrand und kuschele mich in mein Trösterchen-Kissen. Im Halbschlaf sehe ich eine schwarze Wolke über mir schweben. Auf dieser sitzt unser Pfarrer. Er streckt mahnend den rechten Zeigefinger in die Luft, seine Stimme braust auf wie Donnerhall. »Ertraget einander in Liebe und Geduld!«

Seufzend schiebe ich das Wildgänse-Flaum-Kissen von mir und rutsche zur Bettmitte. »Ist ja schon gut, Herr Pfarrer.«

Der kontinuierliche Rückgang des dem Körper zur Verfügung stehenden Testosterons wird mir schnell bewusst. Die blaue Pille im Koffer unter dem Bett war mit Sicherheit nicht zur Einnahme gegen Bluthochdruck gedacht. Männer ab 50 sollen unter einer erektilen Dysfunktion leiden. Das habe ich kürzlich in einem Gesundheitsratgeber gelesen. Wahrscheinlich ist Winfried deshalb dauergrantig, vermute ich. Ich werde demnächst mit unserem Hausarzt darüber reden.

Er tut mir leid und ich versuche ihn zu trösten. »Das macht jeder Mann irgendwann einmal durch«, sage ich und wuschele mit beiden Händen durch seine Haare.

»Hände weg von meinen Haaren, Frau«, keift er, springt mit einem Satz aus den Federn, zerrt den Koffer unter dem Bett hervor, nimmt die Pille aus dem Briefumschlag und wirft sie in hohem Bogen aus dem Fenster. Dann sieht er mich an wie der Wolf die Großmutter, bevor er sie aufgefressen hat, greift nach seinen Kleidern, verschwindet aus dem Schlafzimmer, aus dem Haus und erscheint erst am Abend zu seiner Geburtstagsfeier wieder.

»Der Abbau von Muskeln und die Zunahme von Fettmasse sowie ein verminderter Bartwuchs sind in diesem Alter völlig normal«, erklärt unser ältester Sohn seinem verdutzten Vater, als er ihm als Geburtstagsgeschenk eine schicke Designerwaage überreicht. Der Sohn grinst. »Von dem eingesparten Geld für Schokolade und Rasierklingen könntest du dir eine Dauerkarte fürs Hallenbad kaufen, Paps.«

Der Junior schlägt dem Vater auf die Schultern. »Ja, so ist das Leben. Nach den Jahren der Last hat man die Last der Jahre.«

Mein Mann wird leichenblass. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Er schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, klatscht die Waage auf den Wohnzimmertisch und verlässt abermals das Haus. Ich sehe ratlos aus dem Küchenfenster, als ich die Autotür zuknallen höre. Meine Blicke bleiben in unserem Vorgarten hängen. So große Tulpen hatten wir noch nie. Kerzengerade wie eine Messlatte stehen die Stängel in Reih und Glied, strecken ihre geschlossenen Knospen dem Himmel entgegen. In dieser Nacht schläft mein Mann im Gästezimmer.

Er geht gerne einkaufen …

Strahlend wie ein kleines Kind kommt Winfried von seinen täglichen Streifzügen aus den umliegenden Bäckereien nach Hause, steigt fröhlich pfeifend aus dem Auto und streckt triumphierend seine Schätze in die Höhe, wenn er mich am Küchenfenster entdeckt.

»Alles vom Vortag und zum halben Preis, Frau«, freut er sich. Wo soll das noch hinführen, sorge ich mich. Mittlerweile bin ich reif für eine Kur.

Er hat 65 Hemden im Schrank. 38 Hemden mit langen Ärmeln und 27 Hemden mit kurzen Ärmeln. Sie hängen farblich sortiert und in abgemessenem Bügelabstand von drei Zentimetern im Schrank. Winfried verringert den Abstand auf zwei Zentimeter. Er ist sichtlich aufgeregt. »Die Boutique Meissner bietet wegen Umbauarbeiten Designerhemden zum halben Preis an. Seit gestern schon.«

Er kratzt seine Stirn. »Ich habe das viel zu spät erfahren, Frau. Hoffentlich bekomme ich noch welche ab. Da werde ich mal ordentlich zuschlagen, Frau, wenn man doch so viel Geld sparen kann.«

»Heute brauche ich das Auto«, sage ich.

»Du brauchst das Auto?«

»Ich habe einen Arzttermin, Winfried.«

»Einen Arzttermin? Weswegen denn, Frau?«

»Die Krebsvorsorge, Winfried …«

»Du kannst den Bus nehmen, Margitchen.«

»Du auch, Winfried«, entgegne ich.

»Mein Gott, Frau, wie bist du doch wieder zickig heute!«

»Gib mir den Autoschlüssel«, sagt mein Mann, als ich Stunden später zurückkomme und streckt verlangend die Hand aus. Er sieht mich strafend an. »Jetzt hast du mich aber lange warten lassen, Frau.«

Er runzelt die Stirn. »Wie viele Dellen hast du reingefahren?«

»Keine«, sage ich, drücke mich an ihm vorbei ins Haus, in die Küche, schalte die Kaffeemaschine ein und decke den Tisch. »Ich habe Kuchen für uns mitgebracht, Winfried«, sage ich versöhnlich.

»Ich muss noch mal ans Auto«, sagt er. Ich beobachte ihn vom Küchenfenster aus.

Er schleicht um das Auto herum, schließt die Fahrertür auf, begutachtet das Polster, zupft etwas weg. Ein Haar vielleicht? Danach öffnet er den Kofferraumdeckel, betrachtet nachdenklich den Innenraum, schließt ihn wieder, dreht nochmals zwei Runden ums Auto. Er atmet tief durch, bevor er ins Haus zurückkehrt.

»Ist ja noch einmal gut gegangen, Frau«, seufzt er und sticht mit der Kuchengabel erleichtert in den Käsekuchen.

»Ich habe den Führerschein länger als du«, bemerke ich.

»Du willst schon wieder streiten, Frau …«

»Bei Obi gibt es gerade eine Farb-Aktionswoche«, erzählt Winfried mir am Telefon. Ich bin für ein paar Tage zu meiner an Grippe erkrankten Schwester in den Odenwald gereist, um deren Haushalt zu schmeißen. Mit dem Zug. Das Auto hat Winfried mir verweigert, weil ich ihn nicht mitnehmen wollte.

Er ruft jeden Tag mindestens fünfmal an.

»Kommt ihr auch wirklich ohne mich klar, Frau?«

Er wartet vergeblich auf eine Antwort von mir, räuspert sich und brüllt noch lauter in die Muschel.

»Ich habe dich gefragt, ob ihr ohne mich klar kommt, Frau?«

»Natürlich kommen wir ohne dich klar, Winfried.«

»Du fehlst mir, Frau«, sagt er leise.

»Hm.«

»Es ist so ruhig hier ohne dich, Frau, fast schon langweilig.«

»Du solltest dir ein Hobby zulegen, Winfried.«

»Aber du bist doch …«

»Ach Winnie«, seufze ich. »Das Thema haben wir doch schon durch.«

Er flötet in die Sprechmuschel. »Wenn du heimkommst, wartet eine Überraschung auf dich, Margit.«

»Wirklich?«

»Wirklich!«

Er hat mich Margit genannt. Und er will mich überraschen so wie früher. Alles wird gut! Ich bin fest davon überzeugt.

Als ich wegen einer Mitfahrgelegenheit einen Tag früher und unangesagt zu Hause ankomme, bleibt mir die Luft in der Röhre stecken. Die rechte Hauswand leuchtet in Sonnengelb, die linke in Schweinchenpink, die Fensterrahmen sind moosgrün. Meine Blicke streifen ungläubig über unser Haus. Ich sehe schemenhaft die Umrisse meines Mannes hinter den Küchenfenstergardinen. Sekunden später reißt er die Haustür auf.

Er strahlt wie ein Honigkuchenpferd am Weihnachtsbaum, drückt mich so fest an sich, dass ich keine Luft mehr bekomme.

»Mein Margitchen. Du hast es keinen Tag mehr länger ausgehalten ohne mich, gell, Frau?!«

Er lässt mich abrupt los. »Hast du unser Haus gesehen, Frau? Das ist eine Überraschung, was? Sind alles Restbestände aus dem Baumarkt«, sagt er mit stolzgeschwellter Brust.

Ich stelle meine Reisetasche im Flur ab, schnappe mein Rad und versuche, meinen Frust abzustrampeln. Als ich von meiner Strampeltour zurückkomme, ist unsere Haustür, die vor ein paar Stunden noch kiefernfarben war, mahagonibraun. Auf der obersten Treppe steht ein leerer Farbeimer. Vorsichtig schließe ich die Haustür auf, laufe durch unser Wohnzimmer in den Garten und falle in die Tiefe.

»Eigentlich wollte ich das Gartenhaus streichen, dafür hat die Farbe aber nicht gereicht, für die Haustür gerade noch, die hat ja auch viel weniger Fläche«, stammelt Winfried, als die Männer vom Rettungsdienst mich auf eine Trage legen und mit einem Gurt festzurren. Mein Blick streift die Schachtabdeckung, die an der Hauswand lehnt.

»Ich möchte nicht, dass mein Mann mich im Krankenwagen begleitet«, mache ich meinen Erstversorgern klar.

»Ich will ihn nicht sehen«, sage ich später zu den Schwestern in der Chirurgischen Abteilung. Drei Rippen habe ich gebrochen, kann mich kaum bewegen und bin stinkesauer auf meinen Mann. Heute noch werde ich eine Kur beantragen.

Vorsicht! Mann in Wechseljahren

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