Читать книгу Diebsgrund - Gitte Loew - Страница 6

5. Kapitel

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Annemarie war früh am Morgen wach geworden. Es machte sie in letzter Zeit nervös, wenn noch jemand in ihrer Wohnung schlief. Sie schlüpfte unruhig aus dem Bett, ging in die Küche und beobachtete den schlafenden Valentin. Er schnarchte mit offenem Mund und lag mittlerweile zusammengerollt wie ein Kind auf dem Sofa. Er war ein hoffnungsloser Fall. Valentin musste heute verschwinden. Wenn er plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte, erschreckte sie sein schlimmer Anblick von Mal zu Mal mehr. Sie hatte ihm oft genug eine Chance gegeben, doch Valentin war schnell wieder in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen. Er musste seine Probleme allein und vor allem woanders lösen. Sie konnte ihm nicht helfen, auch wenn er ihr leidtat. Annemarie schluckte. Sie drehte den Wasserhahn auf, füllte den Kessel und setzte ihn geräuschvoll auf den Herd. Valentin sollte aufwachen und gehen.

Ein leises Stöhnen war zu hören. Als Valentin die Augen öffnete, würgte ihn Übelkeit. Sein Kopf schmerzte und fühlte sich schwer an. Langsam erinnerte er sich, wo er lag und was gestern Abend geschehen war. Er sah sich im Zimmer um und nahm alles wie durch einen Schleier wahr. Annemarie hantierte am Herd. Plötzlich zog Kaffeeduft an seiner Nase vorbei. Er riss die verquollenen Augen auf und beobachtete, wie sie heißes Wasser in eine Thermoskanne füllte.

„Morgen, Annemarie“, murmelte er mit trockenem Mund.

„Na, ohne Schuhe auf Traumpfaden gewandelt?“, spöttelte sie und sah ihn dabei resigniert an.

Valentin gab ihre keine Antwort, sondern richtete sich auf und schlurfte auf wackeligen Beinen ins Bad. Wusch sich die Hände und spritzte kaltes Wasser ins Gesicht. Versuchte den schalen Geschmack aus dem Mund zu spülen und trocknete sich langsam ab. Das kalte Wasser erfrischte ihn nur wenig, und er sah nicht nur im Spiegel erbärmlich aus, er fühlte sich auch so. Seine Haut spannte sich dünn wie Pergament über den Schädel. Venen schimmerten rötlichblau hervor, und die Augen lagen dunkel in tiefen Höhlen. Kopfschüttelnd verließ er das Badezimmer. Als er in die Küche zurückkam, trat er auf Annemarie zu, gab ihr einen Kuss und wollte sie umarmen. Sie wehrte ihn ab.

„Ach, hör auf, Valentin, das ist lange vorbei.

Er sah sie enttäuscht an.

„Wir haben uns doch immer gut verstanden.“

„Ja, ja, aber du weißt, was los ist. Ich will mein Leben ändern. Versteh doch, ich muss allein neu anfangen.“

Er verstand sie nicht. Was hatte das mit ihm zu tun?

Annemarie redete weiter, ohne auf ihn zu achten: „Ich kämpfe jeden Tag gegen den Schnaps, und trotzdem wirft mich das Zeug immer wieder aus der Bahn. Aber seit Januar stehe ich morgens auf und gehe zur Arbeit. Egal, wie mein Kopf schmerzt, verstehst du? Ich will davon loskommen und ohne Schnaps leben.“

Er nickte: „Ich weiß, was du meinst.“

„Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, aber ich hab kapiert, dass ich dir nicht helfen kann.“

„Es wird zu viel für dich“, fügte er hinzu.

Annemarie sah ihn mit einem Ausdruck von Verzweiflung an, während sie die Arme vor ihrer Brust verschränkte.

„Es geht nicht nur um dich, sondern auch darum, was aus mir wird. Ich habe unzählige Male versucht aufzuhören. Jetzt muss Schluss sein. Seit Januar gehe ich zu einem Arzt, der mir hilft. Er ist der Erste, der mich nicht wie den letzten Dreck behandelt.“

Aufgewühlt lief sie zum Tisch, griff nach dem Tabak und drehte sich eine Zigarette.

„Ich weiß, bei dir gibt es Hoffnung“, meinte Valentin müde und setzte sich auf einen Stuhl.

„Es gibt immer Hoffnung“, erwiderte sie.

„Ach Annemarie, ich bin zu alt und hab nicht nur den Schnaps am Hals. Das Gift ist viel schlimmer. Und mal ehrlich, welche Aussichten hätte ich denn? Glaubst du, dass ich Arbeit finden würde? Oder soll ich bis ans Lebensende zum Sozialamt rennen? Nein, danke.“

„Ich glaube, das wäre letzten Endes besser für dich, als von einem Unglück ins nächste zu stürzen. Du wirst im Gefängnis landen, wenn du so weitermachst. Oder sie finden dich irgendwann tot in einer dunklen Ecke.“

Sie sah weg, wollte ihn nicht ansehen. Valentin schwieg. Das wusste er selbst, aber es gab für ihn keinen Weg zurück. Außerdem, in seinem Alter jammerte man nicht mehr. Annemarie füllte Kaffee in eine Tasse und reichte sie ihm.

„Hier, trink was, du siehst furchtbar aus“, und schob mit diesen Worten den dampfenden Kaffee vor ihn hin.

Er griff aber nicht danach, sondern tastete über den Krimskrams, der auf dem Tisch lag, fand aber nicht, wonach er suchte. Sie beobachtete ihn, nahm die Schachtel aus der Schublade und drehte ihm wortlos eine Kippe. Valentin verzog das Gesicht zu einem Lächeln, griff nach der Zigarette und zündete sie an.

„Du musst verschwinden, länger als eine Nacht halte ich das nicht mehr aus. Ich bin geschafft, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, dann brauche ich meine Ruhe“, fing sie wieder an.

Valentin verstand und begriff, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie hatte ihm immer geholfen, aber jetzt war Schluss. Er trank mit kleinen Schlucken den heißen Kaffee und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Sie rauchten beide und blieben eine Weile wortlos am Tisch in der Küche sitzen.

„Annemarie, lass uns trotzdem Freunde bleiben. In meiner Situation ist es wichtig, wenigstens einen zu kennen, der mich nicht bescheißt. Auf alle anderen ist kein Verlass.“

Das hatte er so leise gesagt, dass es kaum zu hören war.

„Ist ja gut, Valentin, aber du musst mich in Frieden lassen. Ich kann mir nicht noch dein Elend ansehen. Das zieht mich noch mehr runter. Was ist denn mit deiner Familie? Deiner Frau?“

Valentin schüttelte sich und ließ den Kopf noch mehr hängen.

„Seit der Sache mit der Russin will meine Frau nichts mehr mit mir zu tun haben.“

„Was für eine Russin?“ Annemarie horchte auf.

Er blickte verlegen nach und begann nur zögerlich zu reden:

„Na ja, ich hatte was mit einer Russin. Es war nichts Ernstes. Meine Frau ging mir damals mit ihrer Nörgelei auf die Nerven. Sie hat geglaubt, wir kommen in den Westen, und alles ist gut.“

„Und weil du Ärger mit deiner Frau hattest, bis du gleich fremdgegangen?“

„Ach komm, du weißt doch, wie das ist. Ich wollte halt mal was anderes hören.“

Annemarie schüttelte ungläubig den Kopf: „Und deine Frau sollte das verstehen. Typisch Mann.“

„Es war nicht nur das Fremdgehen“, druckste er herum.

„Was denn noch?“

Er wollte nicht darüber reden und schwieg.

„Jetzt sag schon, was war los?“, bohrte Annemarie weiter.

Valentin fühlte sich unbehaglich. Das war eine Angelegenheit, die Frauen nicht verstanden. Unruhig rutsche er auf dem Stuhl hin und her.

„Ich hab die Russin erwischt, wie sie mit meinem Geld abhauen wollte.“

„Du hast sie geschlagen?“

Valentin schüttelte stumm den Kopf.

„Was denn?“, Annemarie wurde langsam ungeduldig.

„Ich habe ihr eine gelangt und sie aufs Bett geworfen.“

„Und dann hat sie dich angezeigt?“

Es ging nicht. Wie sollte er so eine Sache einer Frau erklären?

„Ja, sie hat mich angezeigt, aber nicht wegen der Ohrfeige, sondern wegen Vergewaltigung.“

Jetzt war es raus.

Annemarie konnte nicht glauben, was sie gehört hatte.

„Was hast du gemacht?“

„Es war ein Spiel, sie hat sich nicht gewehrt.“

Er zog heftig am Rest seiner Zigarette. Wischte nervös die Asche weg, die durch seine ruckartige Bewegung heruntergefallen war. Sie starrte ihn ungläubig an.

„Ein Spiel glaubst du, weil sie sich nicht gewehrt hat. Was hätte sie denn tun sollen?“

Valentin blieb ihr die Antwort schuldig. Jede Erklärung hätte blöd geklungen. Er schwieg. Es wäre besser gewesen, nicht darüber zu reden.

„Der Richter hat der Frau geglaubt und nicht dir.“

„Sie war eine Lügnerin“, stieß er wütend hervor.

„Ich habe sie ertappt, was sollte ich tun? Meinst du, die Polizei hätte mir geglaubt?“

Annemarie war ratlos. Vermutlich waren beide schuld. Sie hob den Kopf und murmelte vor sich hin:

„Das sieht nicht gut aus für dich. Verurteilt wegen Vergewaltigung, das ist keine Kleinigkeit. So kommt eins zum anderen. Körperverletzung, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und so weiter und so weiter. Irgendwann ist Schluss. Wenn du jetzt nicht aufhörst, landest du wieder im Gefängnis. Ich will mir gar nicht ausmalen weshalb. Hör auf, Valentin!“, rief sie entsetzt.

Er schwieg und trank einen Schluck Kaffee.

„Was willst du eigentlich hier in Frankfurt?“, wollte Annemarie plötzlich wissen und blickte misstrauisch zu ihm hinüber.

Valentin hatte keine große Lust, darüber zu reden. Unruhig stand er auf, lief zum Fenster und vermied es sie anzusehen.

„Ich wollte mich mit einem Typen treffen, der gute Quellen in Frankfurt hat. Hab ihn aber bis jetzt noch nicht gefunden.“

„Ach, hör auf, Valentin, mach dir doch nichts vor. Gute Quellen, wenn ich das schon höre. Die bringen dich über kurz oder lang in Teufels Küche.“

Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.

„Solang du das Zeug nimmst, wirst du immer tiefer in die Scheiße geraten.“

Valentin drehte sich um, das waren genug Vorwürfe. Wütend polterte er los:

„Ach, und du weißt, wie man mit der Sauferei aufhört. Bist ja so schlau und fast schon trocken.“

In Annemarie regten sich Wut und Zorn. Er hatte ihren wunden Punkt getroffen. Sie stand auf und schimpfte laut los:

„Im Gegensatz zu dir habe ich eine Wohnung und gehe arbeiten!“, erwiderte sie heftig. Alle Freundlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Valentin hielt den Mund, es war sinnlos, weiter mit ihr zu streiten. Nachdem er den Kaffee ausgetrunken hatte, schlich er ohne weitere Diskussion ins Bad, wusch sich und zog die frische Wäsche an, die sie ihm hingelegt hatte. Als er in die Küche zurückkam, fühlte er sich etwas besser. Annemarie spülte mit Getöse das Geschirr. Valentin fühlte, dass sie noch immer aufgebracht war.

„Ich verstehe dich ja. Ich hab kapiert, dass du aufhören willst und Probleme hast. Haben wir alle. Wenn es mit der Sucht so einfach wäre, würden nicht so viele Gestalten auf der Straße herumlaufen.“

Annemarie räumte wortlos das Geschirr in den Küchenschrank und gab ihm keine Antwort.

„Aber wir haben doch eine schöne Zeit gehabt, he schau mich mal an, war doch schön?“

Sie drehte sich um und blickte ihn mit müden Augen an.

„Für dich war es vielleicht schön. Ich bin vor Angst nicht in den Schlaf gekommen. Das ist zu wenig für diese kleinen Augenblicke.“

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Frauen sahen immer alles so problematisch.

„Reg dich nicht auf. Morgen kann alles vorbei sein“, meinte er leichthin.

Annemarie schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Nein, nein, du verstehst nichts. Ich will nicht in den Tag hinein leben von der Hand in den Mund.“

„Ach, und du glaubst, die haben ausgerechnet auf dich gewartet. In diesem Land geht es nur den Reichen gut.“

„Ich arbeite“, erwiderte sie leise.

„Und davon lebst du prima, hast ´ne schöne Wohnung und fährst jedes Jahr in Urlaub. Ich sehe aber nichts davon.“

„Jetzt reicht’s!“, brüllte sie aufgeregt. „Ich will überhaupt nicht in Urlaub fahren. Ich will meine Wohnung behalten können, ohne Schnaps leben und keine Sorgen mehr haben, du Idiot!“

Valentin seufzte. Solchen Gesprächen war er nicht gewachsen. Annemarie hatte noch Illusionen und glaubte an das kleine Glück. Die Wirklichkeit sah anders aus. Es würde besser sein, damit aufzuhören. Er lenkte ein.

„Du wirst es schaffen, lass am Abend einfach den Jonny Walker nicht herein“, witzelte er blöde herum.

Jetzt war das Maß voll. Ihr Gesicht lief rot vor Zorn an und sie brüllte los:

„Dich lass ich nicht mehr rein. Du bringst das Elend von der Straße mit!“

Valentin war über ihren heftigen Ausbruch überrascht und meinte sarkastisch:

„Mach dir nichts vor, saufen tust du alleine. Ich hab dir das andere Zeug nie angeboten.“

Annemarie hielt inne und erwiderte nichts. Valentin sagte die Wahrheit. Er hatte sich in der Zwischenzeit erschöpft aufs Sofa fallen lassen. So früh am Morgen war er nicht in der Lage, planvoll zu denken. Seine Zukunft reichte noch nicht einmal bis zum nächsten Tag. Unbeholfen stand er wieder auf.

„Ich denke, es ist besser, wenn ich gehe.“

Er blieb abwartend stehen. Sie rührte sich nicht.

„Annemarie, ich bin völlig blank, kannst du mir was leihen?“

„Aha, hab ich‘s mir doch gedacht. Deshalb die Umarmung“, schimpfte sie, ging zur Anrichte und zog einen Schein aus dem Portemonnaie und legte ihn auf den Küchentisch.

„Hier, mehr kann ich dir nicht geben. Komm so schnell nicht wieder.“

Annemarie drehte sich um und wandte ihm den Rücken zu. Verlegen steckte Valentin das Geld in die Hosentasche. Er klopfte ihr zum Abschied leicht auf die Schulter.

„Danke, Annemarie, mach’s gut, ich verschwinde jetzt.“

Sie blieb ruhig stehen und beachtete ihn nicht. Sagte ihm noch nicht einmal auf Wiedersehen.

Valentin verließ die Wohnung. Er fühlte sich elend und einsam.

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